Niedersächsischer Landtag - 54. Plenarsitzung am 20.01.2015

27. Januar 2015
von Pressetelegramm

Protokoll (Ausgegeben am 27. Januar 2015)

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Niedersächsischer Landtag
Stenografischer Bericht
54. Sitzung
Hannover, den 20. Januar 2015

Inhalt:
Tagesordnungspunkt 1:
Mitteilungen des Präsidenten .............................. 5041
Feststellung der Beschlussfähigkeit ......................... 5041
Tagesordnungspunkt 2:
Abgabe einer Regierungserklärung mit dem Titel „Für eine tolerante und weltoffene Gesellschaft in Niedersachsen“ - Unterrichtung durch den Minister-präsidenten - Drs. 17/2733 ...................................... 5042
Stephan Weil, Ministerpräsident ........................ 5042
Björn Thümler (CDU) ........................................ 5048
Johanne Modder (SPD) ..................................... 5054
Christian Dürr (FDP) ......................................... 5057
Anja Piel (GRÜNE) ............................................. 5060
Außerhalb der Tagesordnung:
„Nous sommes Charlie“ - Gegen den Hass - Ein Zeichen für Meinungsfreiheit und Toleranz - An-trag der Fraktion der CDU, der Fraktion des SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2765 .................................................. 5063
Beschluss ................................................................ 5064
Tagesordnungspunkt 3:
Aktuelle Stunde ..................................................... 5064
a) Gefahren des islamistischen Terrorismus in Niedersachsen wachsam begegnen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 17/2751 .............................. 5064
Marco Brunotte (SPD) ....................................... 5064
Angelika Jahns (CDU) ..............................5066, 5073
Belit Onay (GRÜNE) .................................5067, 5068
Christian Dürr (FDP) ......................................... 5067
Jan-Christoph Oetjen (FDP) .............................. 5069
Boris Pistorius, Minister für Inneres und Sport ....................................................................... 5070
b) Der 228-Millionen-Euro-Brief: Lieferten Vertre-ter der CDU eine Begründung für die Klage gegen das Moratorium im AKW Unterweser? - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2754 ....... 5073
Miriam Staudte (GRÜNE) ......................... 5073, 5080
Martin Bäumer (CDU) ......................................... 5075
Marcus Bosse (SPD) .......................................... 5076
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz .................................................... 5078
Dr. Stefan Birkner (FDP) .......................... 5079, 5080
c) Mehr Chancen durch mehr Zuwanderung - Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderung braucht! - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/2750 ............................................................. 5081
Christian Dürr (FDP) .......................................... 5081
Dr. Christos Pantazis (SPD) .............................. 5082
Björn Thümler (CDU) ......................................... 5084
Filiz Polat (GRÜNE) ............................................ 5085
Boris Pistorius, Minister für Inneres und Sport ....................................................................... 5086
d) „Die Pflegekammer trägt nicht dazu bei, die drängenden Probleme im Bereich der (Alten-)Pflege zu lösen - Mit freundlichen Grüßen Cornelia Rundt“ - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/2752 ............................................................. 5088
Reinhold Hilbers (CDU) ........................... 5088, 5091
Gerd Ludwig Will (SPD) ..................................... 5089
Uwe Schwarz (SPD) ....................... 5089, 5090, 5091
Christian Dürr (FDP) .......................................... 5090
Sylvia Bruns (FDP)............................................. 5092
Filiz Polat (GRÜNE) ............................................ 5093
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung ................................... 5095
Niedersächsischer Landtag - 17. Wahlperiode - 54. Plenarsitzung am 20. Januar 2015
II
Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Nie-dersächsischen Krankenhausgesetzes - Gesetz-entwurf der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2709 ..................... 5096
Uwe Schwarz (SPD) ........................................... 5096
Thomas Schremmer (GRÜNE) .......................... 5098
Sylvia Bruns (FDP)............................................. 5099
Annette Schwarz (CDU) ..................................... 5100
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung ................................... 5101
Ausschussüberweisung ............................................ 5102
Tagesordnungspunkt 5:
Abschließende Beratung: Jobmotor soziale Gesundheitswirtschaft Nieder-sachsen - Gesundheitsberufe stärken und Fach-kräftenachwuchs sichern - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/1488 - Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Migration - Drs. 17/2478 - Änderungsantrag der Frak-tion der CDU und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2640 - Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2759 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2777 ............................................................. 5102
Holger Ansmann (SPD) ..................................... 5102
Burkhard Jasper (CDU) ..................................... 5104
Ottmar von Holtz (GRÜNE) ................................ 5105
Sylvia Bruns (FDP)............................................. 5106
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung ................................... 5107
Beschluss ................................................................. 5108
(Ohne erste Beratung überwiesen in der 36. Sitzung am 16.05.2014)
Tagesordnungspunkt 6:
Abschließende Beratung: Sicherstellung und Weiterentwicklung der quali-fizierten Angebote für taubblinde und hörsehbe-hinderte Menschen in Niedersachsen - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/1754 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie, Gesund-heit und Migration - Drs. 17/2471 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2641 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2764 ................................................................................. 5108
Uwe Schwarz (SPD) ........................................... 5109
Dr. Max Matthiesen (CDU) ................................. 5110
Thomas Schremmer (GRÜNE) .......................... 5112
Sylvia Bruns (FDP) ............................................ 5113
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung ................................... 5113
Beschluss ................................................................. 5114
(Erste Beratung: 43. Sitzung am 25.07.2014)
Tagesordnungspunkt 7:
Abschließende Beratung: Natürliche Geburt stärken und fördern - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2164 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Migration - Drs. 17/2477 ................. 5115
Elke Twesten (GRÜNE)............................ 5115, 5117
Karl-Heinz Bley (CDU) ....................................... 5116
Petra Joumaah (CDU) ........................................ 5117
Dr. Thela Wernstedt (SPD) ................................ 5118
Sylvia Bruns (FDP) ............................................ 5120
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung ................................... 5121
Beschluss ................................................................. 5121
(Ohne erste Beratung überwiesen in der 49. Sitzung am 24.10.2014)
Tagesordnungspunkt 8:
Abschließende Beratung: Oberweser wachküssen und Potenziale für ein starkes Südniedersachsen heben - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/1641 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2469 ............................................. 5122
Christian Grascha (FDP) ................................... 5122
Ronald Schminke (SPD) .......................... 5123, 5125
Karsten Heineking (CDU) .................................. 5125
Susanne Menge (GRÜNE) ................................. 5126
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr .......................................................... 5127
Beschluss ................................................................. 5128
(Direkt überwiesen am 23.06.2014)
Tagesordnungspunkt 9:
Abschließende Beratung: Pkw-Maut-Pläne sofort stoppen - Keine weiteren Belastungen von Mobilität und Logistik in Deutschland und keine Diskriminierung von Nachbarn durch Deutschland! - Antrag der Frak-tion der FDP - Drs. 17/1744 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2349 ............................................................. 5128
Jörg Bode (FDP) ........ 5129, 5131, 5132, 5134, 5136
Gerd Ludwig Will (SPD)..................................... 5130
Susanne Menge (GRÜNE) ....................... 5131, 5133
Karl-Heinz Bley (CDU) ............................. 5133, 5135
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr ................................................ 5135, 5136
Beschluss ................................................................. 5137
(Erste Beratung: 43. Sitzung am 25.07.2014)
Niedersächsischer Landtag - 17. Wahlperiode - 54. Plenarsitzung am 20. Januar 2015
III
Tagesordnungspunkt 10:
Abschließende Beratung: a) Güterverkehr auf die Wasserstraßen bringen - Stichkanal Salzgitter (SKS) ausbauen - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/1212 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Ver-kehr - Drs. 17/2169 - b) Keine weiteren Verzö-gerungen bei Planung und Ausbau des Stich-kanals Salzgitter (SKS) - Bundesregierung muss einem zügigen Ausbau des SKS höchste Priorität im Bundesverkehrswegeplan einräumen - Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2614 - Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2693 ............................................................ 5137
Hillgriet Eilers (FDP) ......................................... 5137
Bernd-Carsten Hiebing (CDU) .......................... 5138
Stefan Klein (SPD) ............................................. 5139
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr .......................................................... 5140
Beschluss ................................................................ 5141
(Zu a: Direkt überwiesen am 19.02.2014)
(Zu b: Direkt überwiesen am 17.12.2014)
Tagesordnungspunkt 11:
Abschließende Beratung: Niedersächsische Verkehrsinfrastruktur stärken - Ja zur „Wunderlinie“, der Bahnstrecke zwischen Bremen und Groningen - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/1628 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2694 ............................................................ 5141
Susanne Menge (GRÜNE) ................................ 5141
Gerda Hövel (CDU) ............................................ 5142
Gerd Ludwig Will (SPD) .................................... 5143
Gabriela König (FDP) ........................................ 5144
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr .......................................................... 5144
Beschluss ................................................................ 5146
(Direkt überwiesen am 18.06.2014)
Tagesordnungspunkt 12:
Abschließende Beratung: Kleine Kommunen entlasten - Brenntage beibe-halten - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/1324 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Energie und Klimaschutz - Drs. 17/2730.................. 5146
Hermann Grupe (FDP) ................... 5146, 5149, 5153
Sigrid Rakow (SPD) ..................................5147, 5149
Ulf Thiele (CDU) ........................................5150, 5152
Volker Bajus (GRÜNE) .............................5152, 5153
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz ................................................... 5153
Jens Nacke (CDU) ............................................. 5154
Beschluss ................................................................ 5155
(Erste Beratung: 33. Sitzung am 28.03.2014)
Tagesordnungspunkt 13:
Abschließende Beratung: Förderung von Brennstoffzellen als Zukunfts-technologie für eine hocheffektive Wärme- und Stromversorgung im Gebäudesektor - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/1975 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Umwelt, Energie und Klimaschutz - Drs. 17/2731....................................... 5155
Axel Miesner (CDU)............................................ 5155
Volker Bajus (GRÜNE) ....................................... 5156
Dr. Gero Hocker (FDP) ....................................... 5157
Karsten Becker (SPD) .............................. 5158, 5159
Martin Bäumer (CDU) ......................................... 5158
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz .......................................... 5159, 5160
Beschluss ................................................................. 5160
(Direkt überwiesen am 17.09.2014)
Niedersächsischer Landtag - 17. Wahlperiode - 54. Plenarsitzung am 20. Januar 2015
IV
Vom Präsidium:
Präsident
Bernd Busemann (CDU)
Vizepräsidentin
Dr. Gabriele Andretta (SPD)
Vizepräsident
Klaus-Peter Bachmann (SPD)
Vizepräsident
Karl-Heinz Klare (CDU)
Schriftführerin
Ingrid Klopp (CDU)
Schriftführerin
Gabriela Kohlenberg (CDU)
Schriftführer
Klaus Krumfuß (CDU)
Schriftführer
Clemens Lammerskitten (CDU)
Schriftführer
Markus Brinkmann (SPD)
Schriftführer
Stefan Klein (SPD)
Schriftführerin
Sigrid Rakow (SPD)
Schriftführerin
Sabine Tippelt (SPD)
Schriftführer
Belit Onay (GRÜNE)
Schriftführerin
Elke Twesten (GRÜNE)
Schriftführerin
Hillgriet Eilers (FDP)
Auf der Regierungsbank:
Ministerpräsident
Staatssekretär Dr. Jörg Mielke,
Stephan Weil (SPD)
Staatskanzlei
Minister für Inneres und Sport
Staatssekretär Stephan Manke,
Boris Pistorius (SPD)
Ministerium für Inneres und Sport
Finanzminister
Staatssekretär Frank Doods,
Peter-Jürgen Schneider (SPD)
Finanzministerium
Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Cornelia Rundt (SPD)
Staatssekretär Jörg Röhmann,
Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Kultusministerin
Frauke Heiligenstadt (SPD)
Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr
Staatssekretärin Daniela Behrens,
Olaf Lies (SPD)
Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr
Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
Christian Meyer (GRÜNE)
Staatssekretär Horst Schörshusen,
Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
Justizministerin
Staatssekretär Wolfgang Scheibel,
Antje Niewisch-Lennartz (GRÜNE)
Justizministerium
Ministerin für Wissenschaft und Kultur
Dr. Gabriele Heinen-Kljajić (GRÜNE)
Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz
Staatssekretärin Almut Kottwitz,
Stefan Wenzel (GRÜNE)
Ministerium für Umwelt, Energie und Klimaschutz
Niedersächsischer Landtag - 17. Wahlperiode - 54. Plenarsitzung am 20. Januar 2015
5041
Beginn der Sitzung: 9.03 Uhr
Präsident Bernd Busemann:
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich begrüße Sie namens des Präsidiums. Wir wünschen Ihnen einen guten Mor-gen!
(Zurufe: Guten Morgen, Herr Präsident!)
Ich eröffne die 54. Sitzung im 20. Tagungsab-schnitt des Landtages der 17. Wahlperiode.
Tagesordnungspunkt 1: Mitteilungen des Präsidenten
Zur heutigen Sitzung und aus gegebenem Anlass begrüße ich besonders den Vorsitzenden des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen, Herrn Avni Altiner, den Landesvorsitzenden der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), Herrn Yilmaz Kiliç, den Honorarkonsul der Republik Frankreich, Herrn Eckhard Forst, und den Präsidenten des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Herrn Michael Fürst. Meine Herren, ich heiße Sie im Namen des gesamten Hauses herzlich willkommen!
(Lebhafter Beifall)
Meine Damen und Herren, ich darf darum bitten, dass Sie sich von den Plätzen erheben.
Am 7. Januar verübten islamistische Terroristen in Paris mehrere Anschläge, denen insgesamt 17 Menschen zum Opfer fielen. In der Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo wurden elf Menschen erschossen. Auf der Flucht ermordeten die Täter einen Polizisten. Am nächsten Tag fiel eine weitere Polizistin den Mördern zum Opfer. Schließlich überfiel einer der Terroristen einen jüdischen Su-permarkt und ermordete vier zufällig anwesende Kunden.
Seitdem sind Europa und die ganze freie Welt in Mitgefühl und Solidarität mit Frankreich vereint. Die Mordtaten von Paris sind ein Angriff auf uns alle - auf den Kern unseres Zusammenlebens, auf die Zivilisation selbst. Der Name Charlie Hebdo ist im Januar 2015 zu einem Synonym für die Presse- und Meinungsfreiheit geworden.
In Paris wurde aber nicht nur die Meinungsfreiheit in Gestalt der Redaktion von Charlie Hebdo ange-griffen. Es wurden auch vier Menschen kaltblütig getötet, einzig und allein, weil sie Juden waren. Hier sind wir Deutschen besonders gefordert. Wir schulden dem jüdischen Volk alle Solidarität und Hilfe. Wir müssen alles dafür tun, dass Europa ein sicherer Ort für unsere jüdischen Mitmenschen ist und bleibt.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass sich fast zeitgleich mit den Anschlägen in Paris in Nigeria eine Tragödie abgespielt hat, deren Ausmaß noch kaum abzusehen ist. Die Islamistengruppe Boko Haram hat dort eine ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht und dabei bis zu 2 000 Menschen ermordet, darunter zahlreiche kleine Kinder.
Ich möchte Sie bitten, allen Opfern von Terroris-mus und Gewalt einen Augenblick des stillen Ge-denkens zu widmen. - Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wie erst kürzlich be-kannt wurde, verstarb am 24. Oktober 2014 die ehemalige Abgeordnete Christel Schuran-Simmert im Alter von 64 Jahren. Christel Schuran-Simmert gehörte dem Niedersächsischen Landtag als Mit-glied der Fraktion der Grünen von 1982 bis 1986 an. Während dieser Zeit war sie Mitglied im Aus-schuss für innere Verwaltung und im Zehnten Par-lamentarischen Untersuchungsausschuss. In der Zeit von 1982 bis 1983 war sie zudem stellvertre-tende Fraktionsvorsitzende.
Wir werden die Kollegin in guter Erinnerung behal-ten und widmen auch ihr ein stilles Gedenken. - Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir fahren fort. Das Plenum ist gut besetzt. Deswegen darf ich ge-meinsam mit dem Präsidium schon jetzt die Be-schlussfähigkeit des Hauses feststellen.
Zur Tagesordnung: Die Einladung für diesen Ta-gungsabschnitt sowie die Tagesordnung ein-schließlich des Nachtrages und der Informationen zu den von den Fraktionen umverteilten Redezei-ten liegen Ihnen vor.
Ich darf zu Tagesordnungspunkt 2 erwähnen, dass alle Fraktionen des Hauses den gemeinsamen Entwurf einer Resolution vorgelegt haben, der Ihnen bereits als Drucksache vorliegen dürfte.
Darf ich nach den Absprachen im Ältestenrat da-von ausgehen, dass Einvernehmen dahin gehend besteht, die Tagesordnung um diese Beschluss-fassung zu erweitern? - Ich denke, das ist der Fall.
Niedersächsischer Landtag - 17. Wahlperiode - 54. Plenarsitzung am 20. Januar 2015
5042
Ich stelle darüber hinaus das Einverständnis des Hauses mit den geänderten Redezeiten fest.
Die heutige Sitzung soll demnach gegen 19.30 Uhr enden.
Der IT-Service der Landtagsverwaltung bietet Ihnen auch in diesem Tagungsabschnitt wieder Hilfestellung zu technischen Fragen im Zusam-menhang mit den papierlosen Beratungen an. Der Informationsstand im Besprechungsraum im ersten Obergeschoss hinter der Cafeteria ist heute und morgen jeweils von Sitzungsbeginn bis 13.30 Uhr und am Donnerstag gegebenenfalls bis 12.30 Uhr besetzt. Wie gewohnt, können Sie den IT-Service auch unter der Durchwahl 2381 und per E-Mail erreichen.
Für die Initiative „Schulen in Niedersachsen online“ werden in den kommenden Tagen Schülerinnen und Schüler der KGS aus Schinkel mit einer On-lineredaktion live aus dem Landtag berichten. Die Patenschaft dafür hat der Abgeordnete Volker Bajus übernommen.
(Beifall)
Die Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten der Multi-Media Berufsbildende Schule werden im Laufe der kommenden Tage wieder Sendungen im Rahmen des Projektes „Landtagsfernsehen“ erstel-len. Sie halten sich während der Plenarsitzungsta-ge im Vorraum zum Raum der Landespressekon-ferenz auf und führen dort auch Interviews durch. Die einzelnen Sendungen stehen nach ihrer Pro-duktion im Internet auf der Homepage der Schule - www.mmbbs.de - bereit und sollen über den Regi-onalsender LeineHertz 106.5 und den Fernseh-sender H1 ausgestrahlt werden.
Die mir zugegangenen Entschuldigungen teilt Ihnen nunmehr die Schriftführerin Frau Rakow mit.
Schriftführerin Sigrid Rakow:
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es haben sich entschuldigt: von der Fraktion der CDU Frau Karin Bertholdes-Sandrock, Frau Gudrun Pieper und Herr Karl-Heinz Bley von 9.30 Uhr bis 11 Uhr so-wie von der Fraktion der FDP Frau Almuth von Below-Neufeldt.
Präsident Bernd Busemann:
Danke schön. - Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu dem
Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung mit dem Titel „Für eine tolerante und weltoffene Gesell-schaft in Niedersachsen“ - Unterrichtung durch den Ministerpräsidenten - Drs. 17/2733
Zunächst gibt Herr Ministerpräsident Weil die Re-gierungserklärung ab. Ich erteile Herrn Minister-präsident Weil das Wort. Bitte sehr!
Stephan Weil, Ministerpräsident:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt eine Reihe von aktuellen Anlässen für die-se Regierungserklärung.
Wir sind miteinander tief betroffen über die Ermor-dung der Redaktionsmitglieder von Charlie Hebdo, der Polizisten, der Geiseln in dem jüdischen Kauf-haus in Paris. Und wir sind miteinander tief beein-druckt von der Entschiedenheit, mit der die gesam-te französische Bevölkerung zum Ausdruck ge-bracht hat: Wir sind eine freie und offene Gesell-schaft! Wir werden die Pressefreiheit als Ausdruck einer solchen Gesellschaft entschieden verteidi-gen!
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Gleichzeitig ist uns miteinander bewusst, dass Europa in diesem Jahr auch weiterhin Zielschiebe des islamistischen Terrorismus sein kann. Die Erfolge der Polizei in Belgien, aber auch die Ge-schehnisse bei uns in Niedersachsen sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.
Und schließlich danke ich Ihnen, Herr Präsident, auch für Ihren Hinweis auf die Opfer des Terroris-mus in Frankreich und anderen Teilen der Welt.
Auf dieser Grundlage erleben wir eine spürbare Verunsicherung in unserer Gesellschaft. Da sind auf der einen Seite die Demonstrationen von Pegi-da, Hagida, Bragida und wie sie sich auch nennen mögen. Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Auch wenn man den Inhalt dieser Demonstratio-nen strikt ablehnt - sie müssen möglich sein. We-der Drohungen gegen solche Demonstrationen noch deren Behinderung sind akzeptabel.
(Beifall)
Und da sind auf der anderen Seite große, mich tief beeindruckende Demonstrationen, in denen viele Tausend Bürgerinnen und Bürger in Niedersach-sen für eine freie und offene Gesellschaft, für Viel-
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falt und Toleranz auf die Straße gehen. Über 19 000 Menschen in Hannover, über 1 500 in Lin-gen, gestern ca. 15 000 in Braunschweig, in Göt-tingen und in Osnabrück! Es ist buchstäblich ein Querschnitt der Bevölkerung, der sich dort ver-sammelt:
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ-NEN und bei der FDP)
junge und alte Menschen, Menschen mit und Men-schen ohne Zuwanderungsgeschichte, Christen, Juden und Muslime nebeneinander.
Die Vielfalt dieser Demonstrationsteilnehmer ist ebenso beeindruckend wie die Größe dieser De-monstrationen. Am Montag der vergangenen Wo-che haben hier in Hannover Landtagspräsident Busemann für den Niedersächsischen Landtag und ich für die Niedersächsische Landesregierung klar zum Ausdruck gebracht: Auch die Institutionen unseres Landes stehen für ein weltoffenes und ein tolerantes Niedersachsen.
(Beifall)
Unsere offene Gesellschaft steht von verschiede-nen Seiten unter Druck. Wie wir mit diesem Druck umgehen, das wird auch über die Zukunft dieser offenen Gesellschaft mitentscheiden.
Um eines hervorzuheben: Die überragende Mehr-heit in dieser Gesellschaft, die Demokraten inner-halb und außerhalb der Parlamente verfügen über ein hohes Maß an gemeinsamen Überzeugungen. Seien wir uns dessen bewusst, und zeigen wir diese Gemeinsamkeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren!
(Beifall)
Dazu gehört zunächst die absolute Unnachgiebig-keit gegenüber Hass und Gewalt. Zu dem islamis-tischen Terror kann es in unserem Land keine zwei Meinungen geben, kein Verständnis und keine Toleranz.
(Beifall)
Das gilt für den Schutz einzelner Bürgerinnen und Bürger ebenso wie für unsere Demokratie insge-samt. Wir stehen zu einer wehrhaften Demokratie, die selbst die Freiheit gewährleistet, aber auch des Schutzes bedarf. Ich verbinde diese Feststellung mit einem ausdrücklichen Dank an die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter von Polizei und Verfas-sungsschutz, die eine für unsere Gesellschaft wichtige Arbeit leisten.
(Beifall)
Die Ermittlungserfolge bezüglich islamistischer Aktivitäten in Wolfsburg zeigen, dass die Sicher-heitsbehörden ihre Arbeit auch effektiv erledigen. Und gleichzeitig wissen wir alle miteinander ganz genau, dass damit keineswegs alle Risiken ge-bannt sind. Ich bin überzeugt, es wird derzeit alles Menschenmögliche getan, um die Sicherheit auch bei uns im Land zu gewährleisten. Die sogenann-ten Gefährder, insbesondere die Rückkehrer aus dem Krieg in Syrien und im Irak, stehen unter einer engen Überwachung. Ich habe volles Vertrauen in die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wort zur Vorratsdatenspeicherung, einem auch in diesem Haus sehr umstrittenen Thema. Es gibt gute Gründe für und gegen eine solche vorsorgli-che Speicherung von Telekommunikationsdaten und darauf aufbauende Fahndungsmaßnahmen. Vor allem aber haben das Bundesverfassungsge-richt und der Europäische Gerichtshof hohe Anfor-derungen an eine Einführung gestellt, und es gibt einstweilen noch kein Konzept, wie diese Vorga-ben denn erfüllt werden könnten. Obendrein haben leider auch diese Möglichkeiten den Terror in Paris nicht verhindern können. Deswegen rate ich davon ab, den Eindruck zu vermitteln, mit dieser Maß-nahme stehe oder falle entweder die Sicherheit oder der Rechtsstaat in unserem Land. Warten wir besser miteinander ab, bis ein belastbarer und diskussionsfähiger Vorschlag auf den Tisch liegt!
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ-NEN und bei der FDP)
Es geht im Übrigen nicht nur um Fahndung und Ahndung, es muss uns insbesondere auch um Vorbeugung gehen. Gerade die Entwicklung der letzten Wochen hat dies noch einmal in Erinnerung gerufen. Vor diesem Hintergrund ist es sehr gut, dass es Sozialministerin Cornelia Rundt gemein-sam mit den islamischen Verbänden gelungen ist, eine Präventionsstelle gegen Neo-Salafismus und islamistische Radikalisierung einzurichten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
An dieser Stelle wird eindrucksvoll deutlich, dass die muslimischen Glaubensgemeinschaften in Niedersachsen die Arbeit gegen den Islamismus zu ihrer eigenen Aufgabe gemacht haben, und das
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ist gut so, meine sehr verehrten Damen und Her-ren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Unnachgiebigkeit gegenüber Hass und Gewalt ist die eine, Unnachgiebigkeit gegen Ausländerfeind-lichkeit und Rassismus ist die andere Leitplanke zur Verteidigung einer toleranten und weltoffenen Gesellschaft bei uns in Niedersachsen.
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ-NEN und bei der FDP)
Wer zu den Grundwerten unserer Verfassung steht, der muss deutlich widersprechen, wo immer sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus rühren. Ich bin sehr froh darüber, dass diese Haltung auf den großen Demonstrationen der vergangenen Tage in so eindrucksvoller Weise zum Ausdruck gekommen ist. Wir haben uns bei diesen Bürgerin-nen und Bürgern dafür zu bedanken, mit welcher Entschiedenheit sie für ihren Staat auf die Straße gehen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung von Christian Dürr [FDP])
Gestatten Sie mir, dass ich noch eine Gruppe ganz besonders hervorhebe. Überall in Niedersachen begegnen mir Menschen, die ganz selbstverständ-lich und ohne ein Aufheben davon zu machen, Flüchtlingen bei ihren ersten Schritten in unserem Land helfen. Nach meiner festen Überzeugung helfen sie damit nicht nur den betroffenen Men-schen, sondern auch unserer Demokratie. Sie setzen ein Zeichen, sie sind die besten Botschafte-rinnen und Botschafter unseres Landes, und sie machen durch ihr Engagement automatisch den Raum enger für Ausländerfeindlichkeit.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung Björn Thümler [CDU] und von Christian Dürr [FDP])
Ich bedanke mich für dieses Engagement sehr herzlich. Die Landesregierung wird in den nächs-ten Monaten in geeigneter Weise überall im Land auch diesen Dank zum Ausdruck bringen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Es sind wirklich viele Tausend Menschen, die so handeln - viel mehr übrigens, als in Niedersachsen zu den Demonstrationen von Hagida, Bragida oder wem auch immer gehen. Manchmal würde ich mir auch wünschen, dass dies in der Berichterstattung stärker zum Ausdruck käme.
(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)
Mindestens in Niedersachsen haben die Ableger von Pegida keine sonderliche Resonanz gefunden, und ich füge hinzu: Wer damit auch nur liebäugelt, muss wissen, welche Personen und Organisatio-nen in vielen Fällen dahinterstecken. Es gibt eine Reihe von Beispielen, in denen ein Bezug zum rechtsextremen Spektrum nachweisbar ist, etwa zu der vor einigen Wochen in Hannover durchgeführ-ten Veranstaltung „Hooligans gegen Salafismus“. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss jeder wissen, der sich über eine Teilnahme an diesen Veranstaltungen Gedanken macht.
Gedanken machen müssen wir uns auch über Fragen, die sich Bürgerinnen und Bürger stellen: Entwickelt sich unsere Gesellschaft in die richtige Richtung? Wie gelingt uns die Integration von Zu-wanderern aus vielen Teilen der Welt? Werden wir auch eine kulturelle Identität bewahren können, die für viele Menschen in unserer Gesellschaft Teil ihres ganz persönlichen Selbstverständnisses ist?
Das sind ernsthafte Fragen, auf die ernsthafte Antworten gegeben werden müssen. Meine Ant-wort lautet: Von Anfang an war die Geschichte Niedersachsens immer auch eine Geschichte der Zuwanderung, und wir sind damit in den letzten mehr als 65 Jahren - über alles gesehen - gut ge-fahren. Erst kamen die Flüchtlinge und die Vertrie-benen, dann die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. Ministerpräsident Ernst Albrecht holte eine große Anzahl von vietnamesischen Boat-People nach Niedersachsen. Unser Land ist Tausenden von Aussiedlerinnen und Aussiedlern aus der früheren Sowjetunion zur neuen Heimat geworden. Und seit mehr als zwei Jahrzehnten kommen Flüchtlinge auf der Suche nach Schutz vor Krieg, Verfolgung oder auch völliger Perspek-tivlosigkeit zu uns.
Das alles ist auch Teil unserer Landesgeschichte, und viele von uns haben aus ihrer persönlichen Familiengeschichte konkrete Beispiele dafür. Die Integration dieser unterschiedlichen Form von Zuwanderung ist niemals einfach gewesen, sie ist aber - über alles gesehen - gelungen. Niedersach-sen ist über die Jahrzehnte nicht schwächer, son-dern stärker geworden, nicht ärmer, sondern wohl-habender.
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(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung von Karl-Heinz Klare [CDU] und Christian Dürr [FDP])
Wir haben viele, sehr viele gute Beispiele für eine Integration, die unserer Gesellschaft insgesamt nutzt.
Wahr ist aber auch, dass sich damit unsere Ge-sellschaft verändert hat. Niedersachsen ist heute bunt und vielfältig. Bei uns leben heute rund 1,4 Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Von ihnen haben etwa ein Drittel einen ausländi-schen Pass, aber zwei Drittel den deutschen Pass. Wir reden über etwa 18 % unserer Bevölkerung, wir reden aber auch über fast ein Drittel der Kinder unter sechs Jahren. In unseren Kindertagesstätten und in unseren Schulen wird jeden Tag deutlich, dass die Zukunft unseres Landes Niedersachsen von einer Generation mit sehr unterschiedlichen Wurzeln geprägt werden wird.
Ich bin in der vergangenen Woche auf einer Reihe von Neujahrsbegegnungen von Industrie- und Handelskammern gewesen. Dort bestand in einem immer große, große Einigkeit: Wollte sich unser Land ernsthaft von der Welt abschotten, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir würden uns in erster Linie selbst schaden!
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)
Denn was sind die größten Herausforderungen für Niedersachsen? - Ganz sicher der deutliche Rück-gang der Bevölkerung, den uns Prognosen vorher-sagen. Vor diesem Hintergrund habe ich mich wirklich sehr über die Meldung zum Jahresende gefreut, dass Niedersachsen zum zweiten Mal hintereinander gewachsen ist. Die Zahl der Men-schen, die in Niedersachsen leben, hat zugenom-men, und natürlich ist dies auch eine Folge von Zuwanderung. Die größte Gruppe stammt übri-gens - dies sei nur am Rande erwähnt - aus Polen. Selbstverständlich sind mit dieser Zuwanderung vielfältige Herausforderungen an die Integration verbunden. Gemessen an den Themen einer stark schrumpfenden Gesellschaft, handelt es sich dabei aber nach meiner Überzeugung um eine Heraus-forderung mit wesentlich besseren Perspektiven.
Insbesondere für die Wirtschaft bei uns in Nieder-sachsen ist Zuwanderung eine große Hilfe bei der dringend notwendigen Fachkräftesicherung - mei-nes Erachtens das größte Zukunftsrisiko unserer niedersächsischen Wirtschaft. Qualifizierte junge Menschen helfen bei der Bewältigung dieser Her-ausforderungen - einerlei, woher sie kommen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung von Karl-Heinz Klare [CDU] und bei der FDP)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Teil dieser vielfältigen Gesellschaft bei uns in Nieder-sachsen sind seit vielen Jahren und Jahrzehnten auch gläubige Muslime. „Der Islam gehört zu Deutschland“, hat der frühere Bundespräsident Christian Wulff bekanntlich festgestellt, und Bun-deskanzlerin Dr. Merkel hat ihm darin vor wenigen Tagen ausdrücklich beigepflichtet. Es wird Sie nicht wundern, dass ich dies ebenso sehe - aus grundsätzlichen Erwägungen ebenso wie auf der Grundlage unzähliger sehr konkreter persönlicher Erfahrungen in den vergangenen zehn Jahren. Gläubige Muslime der unterschiedlichsten Genera-tionen leisten an vielen Stellen unserer Gesell-schaft wichtige Beiträge: in den Unternehmen und in der Kultur, in den Sportvereinen, den Gewerk-schaften, in der sozialen Arbeit und wo auch im-mer.
Mein Respekt, unser Respekt gilt all den vielen Tausend Muslimen in Niedersachsen, die sich auf diese Weise in unsere Gesellschaft einbringen und sie bereichern.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)
Er gilt auch den großen muslimischen Glaubens-gemeinschaften, die sich in vielen Jahren als ver-lässliche gesellschaftliche Partner für unser Land erwiesen haben.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der CDU und von Christian Dürr [FDP])
Dies kommt übrigens nicht zuletzt in diesen Tagen zum Ausdruck, wo die großen Weltreligionen in unserem Land - vertreten durch die christlichen Kirchen, durch die jüdischen Gemeinden, aber eben auch durch die muslimischen Glaubensge-meinschaften - gemeinsam gegen Hass und Ge-walt, gemeinsam für Vielfalt und Toleranz stehen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der CDU)
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Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, dass sich bis heute viele Muslime fragen, wie denn unser Staat zu ihnen und zu ihrem Glauben steht. Nach dieser langen Zeit ist es meines Erachtens an der Zeit, sehr klar zum Ausdruck zu bringen, dass Niedersachsen den Islam und die muslimi-schen Glaubensgemeinschaften als Teil unserer Gesellschaft anerkennt, respektiert und sie als Partner bei der Weiterentwicklung unserer Gesell-schaft ansieht. Das geschieht auf der Grundlage unserer Verfassung, die religiös neutral, aber wert-gebunden ist. Wer die Werte des Grundgesetzes und der Niedersächsischen Verfassung teilt, der hat dieses Land zum Partner, meine sehr verehr-ten Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der CDU)
Deswegen streben wir einen Vertrag mit den gro-ßen muslimischen Glaubensgemeinschaften an, in dem diese Grundsätze niedergelegt sind. Die Be-deutung dieses Vorhabens ist sicherlich im Lichte der aktuellen Entwicklung noch einmal größer ge-worden. Es wäre deswegen gut, wenn sich ein möglichst großes Einvernehmen hier im Landtag herstellen ließe.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der FDP)
Die Landesregierung strebt einen solchen Kon-sens an und wird in dieser Hinsicht auf die Fraktio-nen des Niedersächsischen Landtages zukom-men.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Und noch etwas ist im Lichte unserer aktuellen Diskussion wichtig: Der Islam gehört zu Deutsch-land und zu Niedersachsen, der Islamismus hinge-gen ganz und gar nicht.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der FDP)
Fanatismus und Extremismus müssen auf ent-schlossenen Widerstand in unserem Land stoßen, gerade auch bei der großen Mehrheit der Muslime. Das ist für die allermeisten nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit. Deswegen waren die deut-lichen Aussagen der letzten Tage alles andere als eine Überraschung. So muss es weitergehen! Ebenso wenig wie die Auseinandersetzung mit der Ausländerfeindlichkeit nur den Migrantinnen und Migranten überlassen werden kann, kann die Aus-einandersetzung mit dem Islamismus nicht nur jenseits des Islams stattfinden. Im Gegenteil, gera-de innerhalb der Moscheegemeinden wird, so hof-fe ich, an dieser Stelle offensiv die Auseinander-setzung gesucht werden. Ich jedenfalls halte das für zwingend notwendig.
(Beifall)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen nicht darum herum reden: Insbesondere die riesigen Fluchtbewegungen auf der Welt und auch ihre Auswirkungen bei uns in Niedersachsen sind der ganz reale Hintergrund vieler aktueller Sorgen. Am Ende des vergangenen Jahres waren es wohl 20 000 Menschen, die in Niedersachsen Asyl beantragt haben. Ich möchte den niedersäch-sischen Kommunen an dieser Stelle ausdrücklich für ihre Anstrengungen danken, diese Zuwande-rinnen und Zuwanderer menschenwürdig unterzu-bringen. Ich bin mir der Herausforderung, die damit verbunden ist, sehr bewusst. Umso mehr gilt unser Dank den niedersächsischen Kommunen.
(Beifall)
Für das neue Jahr gibt es in dieser Hinsicht Er-leichterungen, die auch dringend notwendig gewe-sen sind. Nicht nur hat das Land seine finanzielle Unterstützung auf etwa 6 200 Euro pro Flüchtling erhöht. Dies ist eine Unterstützung, die jährlich erfolgt und mit der wir uns im Ländervergleich un-ter den besonders kommunalfreundlichen Bundes-ländern befinden. Zumindest für die Jahre 2015 und 2016 ist es auf gemeinsamen Druck aller Län-der auch gelungen, den Bund erstmals in die Fi-nanzierung der Unterbringungs- und Lebenshal-tungskosten einzubeziehen. Etwa 1 300 Euro je Asylbewerber sind damit für niedersächsische Kommunen noch einmal zusätzlich verbunden.
Ich begrüße ausdrücklich dieses Zugeständnis des Bundes, das meines Erachtens aber nur ein Ein-stieg sein kann. Flucht und Asyl zu bewältigen, ist nicht nur Aufgabe von Ländern und Kommunen; es handelt sich um eine gesamtstaatliche Herausfor-derung. Ich bin sicher, ebenso wie Niedersachsen werden auch die anderen Länder an dieser Stelle eine große Beharrlichkeit entwickeln.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
In praktischer Hinsicht ist es wichtig, dass sich der Bund dazu entschieden hat, seine Liegenschaften mietfrei für die Unterbringung von Flüchtlingen zur
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Verfügung zu stellen, wo dies geeignet ist. Auch dies wird in vielen Fällen den Druck lindern.
Sicher ist allerdings auch: Wir müssen noch mehr tun. Insbesondere halte ich es für notwendig, die Dauer der Asylverfahren zu beschleunigen. Es führt nun einmal kein Weg um die Feststellung herum, dass schon die Herkunftsstaaten in vielen Fällen Aufschluss über die Erfolgsaussichten der Asylverfahren geben. Es gibt Staaten mit einer Anerkennungsquote von 99 % - Syrien und Irak zum Beispiel. Diesen Menschen muss schneller Sicherheit gegeben werden, dass sie in unserem Land Schutz und Zukunft haben. Es gibt aber auch Staaten mit einer Ablehnungsquote von 99 %, derzeit vor allem aus den Balkanstaaten. Auch in diesen Fällen muss den Betroffenen schneller klar sein, dass sie nicht bleiben können. In Nieder-sachsen haben wir mit dem Rückführungserlass bundesweit sicherlich einen besonderen Akzent gesetzt, wie dies respektvoll, schonend, aber eben auch konsequent erfolgen wird.
Als ein Flaschenhals bei der Durchführung von Asylverfahren erweisen sich vor allem Personal-engpässe beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Deswegen haben alle 16 Länder ge-meinsamen den Vorschlag unterbreitet, der Bund möge die Kosten entsprechender Verfahren über-nehmen, sofern sie länger als drei Monate dauern. Darauf ist der Bund nicht eingegangen. Immerhin ist zugesagt worden, die notwendige Personalaus-stattung sicherzustellen. Wir werden miteinander sehr genau zu beobachten haben, ob wir in dieser Hinsicht Fortschritte erzielen können.
Unabhängig davon ist es eine Lehre aus der gro-ßen Zuwanderung in der ersten Hälfte der 90er-Jahre, dass Maßnahmen zur Integration beschleu-nigt werden müssen. Das ist nicht nur im Interesse der betroffenen Menschen, sondern auch der Wirt-schaft. In vielen Fällen gibt es derzeit eine ausge-prägte Bereitschaft des Arbeitsmarktes zur Auf-nahme von Flüchtlingen, die wiederum im Durch-schnitt über eine bemerkenswerte Qualifikation verfügen.
Auch hierzu haben die Gespräche der Ministerprä-sidentenkonferenz mit der Bundesregierung im Dezember Fortschritte erbracht, die wir hoffentlich im Laufe dieses Jahres auch praktisch umsetzen werden. So ist beispielsweise das Arbeitsverbot merklich verkürzt und damit einer Forderung aus Niedersachsen entsprochen worden. Die Vermitt-lung auf den Arbeitsmarkt sollte in geeigneten Fällen schon sehr schnell in den Einrichtungen beginnen, so ein kluger Vorschlag von Wirt-schaftsminister Olaf Lies.
(Zuruf von der CDU: Aber Sprache ist nicht nötig!)
Interessant und unterstützenswert ist auch der Vorschlag, Jugendlichen, die in einer Ausbildung stehen, mindestens bis zum Ende dieser Ausbil-dung gesicherte Perspektiven in Deutschland zu geben. Dieser Vorschlag der FDP kann auf die Unterstützung der Landesregierung zählen.
(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ-NEN und bei der FDP)
Meine Damen und Herren, schließlich werden wir uns auf die Bildungsintegration zu konzentrieren haben. Wir stimmen sicherlich alle darin überein, dass für die Integration von Flüchtlingen und ihren Kindern die Sprachqualifikation eine überragende Bedeutung hat. Deswegen konzentrieren wir uns darauf, Kinder und Jugendliche sehr schnell in die Lage zu versetzen, dem Unterricht in der deut-schen Sprache zu folgen. Niedersachsen setzt sich für ein Teilnahmerecht von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern an Sprachkursen ein.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Ohne Geld?)
Inzwischen gibt es eine Vielzahl von besonderen Sprachlernklassen an allen Schulformen in allen Teilen unseres Landes.
(Jens Nacke [CDU]: Namentlich abge-lehnt, auch von Ihnen!)
Von dem Jahr 2013 bis heute sind sie von 61 auf rund 240 Klassen gesteigert worden. Das ist eine Vervierfachung und zeigt den hohen Stellenwert, den wir der Sprachförderung bei Flüchtlingen bei-messen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Ich danke Kultusministerin Heiligenstadt sehr für dieses Engagement. Es ist kein Zweifel: Wir wer-den unsere Anstrengungen an dieser Stelle fort-setzen müssen. Aber die erzielten Fortschritte sind ermutigend, meine sehr verehrten Dame und Her-ren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, wir wissen miteinander nicht, ob sich die Entwicklung der Asylbewerber-
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zahlen aus den letzten Jahren im Jahr 2015 fort-setzen wird; auszuschließen ist es jedenfalls nicht. Deswegen werden wir weiter intensiv an der damit für alle Beteiligten verbundenen Herausforderung arbeiten müssen. Aus diesem Grunde wird die Landesregierung auf Initiative von Innenminister Boris Pistorius in einer Flüchtlingskonferenz mit den Vertretern der Kommunen, der Freien Wohl-fahrtspflege und vielen anderen Akteuren darüber sprechen, welche weiteren Schritte notwendig und auch leistbar sind, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Für mich ist das ein wichtiger grundsätzlicher Punkt. Wenn unser Staat beweist, dass er auch unter schwierigen Bedingungen zu angemessenen Lösungen imstande ist, wenn sich dabei alle Betei-ligten gemeinsam engagieren und wir auch ge-meinsam Fortschritte erzielen, dann stärken wir damit - da bin ich absolut sicher - auch das Ver-trauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit unseres demokratischen Rechtsstaats.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben etwas zu verteidigen in Deutschland und in Niedersach-sen: eine Gesellschaft, die auf Vielfalt und Tole-ranz setzt. Wir haben etwas zu verteidigen gegen Hass und Gewalt, gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Wir haben einen Staat zu verteidi-gen, der wie wenige andere auf der Welt eine freie und offene Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Erfolg zu verbinden versteht. Wir haben viel zu verteidigen, meine sehr verehr-ten Damen und Herren!
Dabei können wir uns stützen auf eine breite Ge-meinsamkeit in unserer Gesellschaft, die nach meiner Überzeugung nicht nur so in Sonntagsre-den dahergesagt ist, sondern auch tatsächlich in der Substanz besteht Das gilt hier im Landtag, das gilt aber auch tief in unsere Gesellschaft hinein.
Ich halte eine solche Gemeinsamkeit für einen großen Vorzug eines Landes. Wir sollten sie auch zeigen und demonstrieren. Das Einvernehmen im Grundsatz zu betonen, scheint mir derzeit wichti-ger zu sein als manche Differenzen im Detail. Las-sen Sie uns diese Gemeinsamkeit in den nächsten Wochen und Monaten pflegen!
Wir haben etwas zu verteidigen. Ich bin überzeugt: Wir werden den freien und offenen, aber auch solidarischen Charakter unserer Gesellschaft ver-teidigen und weiterentwickeln. Das können alle von uns sehr persönlich tun. Das sollten wir auch gemeinsam als die demokratischen Kräfte in die-sem Land tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Starker, nicht enden wollender Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Ministerpräsident Weil. - Meine Damen und Herren, ich stelle fest, dass die Regie-rungserklärung nahezu 30 Minuten gedauert hat. Nach unseren Gepflogenheiten erhalten für die nun folgende Aussprache die beiden großen Frak-tionen die gleiche Zeit und die beiden kleinen Frak-tionen die Hälfte dieser Zeit. Es ergeben sich also folgende Redezeiten: für die Fraktionen der CDU und der SPD jeweils 30 Minuten, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der FDP jeweils 15 Minuten.
Für die Fraktion der CDU hat sich Herr Fraktions-vorsitzender Thümler gemeldet. Ich erteile Ihnen das Wort.
Björn Thümler (CDU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der vorletzten Woche wurde Frankreich von mehreren brutalen terroristischen Anschlägen erschüttert. Insgesamt fielen diesem terroristischen Angriff 17 Menschen zum Opfer, darunter 4 Män-ner und Frauen jüdischen Glaubens. Unsere Ge-danken und unser Mitgefühl gelten der gesamten französischen Bevölkerung.
In der Bewertung und Verurteilung dieser men-schenverachtenden Tat sind wir fraktionsübergrei-fend einig: Es war ein feiger, hinterhältiger Angriff auf die Freiheit des Wortes und des Bildes, für den es keinerlei Rechtfertigung geben kann.
(Starker Beifall)
In den Tagen danach, meine Damen und Herren, gab es kraftvolle Signale der Solidarität und des Zusammenhalts. Menschen überall auf der Welt haben bei zahllosen Friedensgebeten, Mahn-wachen, Großdemonstrationen eine ebenso ent-scheidende wie unmissverständliche Antwort auf diesen feigen Terrorakt islamistischer Gruppen gegeben. Das ist gut, das ist richtig, und es war wichtig, der Trauer und Empörung mit Worten Ausdruck zu verleihen. Aber auf Dauer wird das nicht ausreichen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
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Organisationen wie Boko Haram - übersetzt „West-liche Bildung ist Sünde“ -, Islamischer Staat, al-Qaida - übersetzt „Fundament des Dschihad“ - sind bestens vernetzte islamistische Terrornetz-werke mit einem klaren Feindbild, nämlich der aus ihrer Sicht dekadenten, korrupten, moralisch und geistig verlotterten westlichen Gesellschaft, die es aus ihrer Sicht zu bekämpfen gilt.
Es ist jedoch wichtig, klar zwischen Islam und Is-lamisten, zwischen Muslimen und muslimischen Terroristen zu unterscheiden. Deshalb, meine Da-men und Herren, gebe ich Bundeskanzlerin Angela Merkel recht, wenn sie erklärt, dass die Muslime zu Deutschland gehören. Ja, ausdrücklich: Die Mus-lime gehören zu Deutschland!
(Beifall bei der CDU, bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Aber Angela Merkel hat auch recht, wenn sie am Donnerstag im Deutschen Bundestag genauso unmissverständlich deutlich macht: Deutschland muss die islamistische Gewalt in aller Konsequenz mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpfen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP und von Helge Limburg [GRÜNE])
Deshalb ist es gut und notwendig, dass zukünftig islamistischen Kämpfern aus Deutschland der Pass zur Ausreise entzogen werden kann. Es ist gut und notwendig, dass sich Deutschland weiter an der Bekämpfung der Terrormiliz IS und anderer Terrorgruppen weltweit beteiligt.
Vor allem ist es gut und notwendig, dass unsere deutschen Nachrichtendienste ihre Arbeit machen können. Ich persönlich, meine Damen und Herren, halte den Informationsaustausch der Dienste auch länderübergreifend für unverzichtbar.
(Beifall bei der CDU)
Ich gebe Wolfgang Schäuble recht, der letzte Wo-che gesagt hat:
„Wenn wir Polizei, Verfassungsschutz und Nachrichtendienste zu den letzten Trotteln machen, vor denen wir immer nur Angst ha-ben müssen, dass sie unsere Rechte unter-graben, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sie uns im Zweifel nicht so schützen können, wie sie uns schützen müssen, damit unsere Freiheit wirklich gewährleistet ist.“
(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)
Deshalb, Herr Weil, wäre Ihr Lob für die Sicher-heitsbehörden glaubwürdiger, wenn Sie verhindert hätten, dass sich Ihr Innenminister kurz nach Re-gierungsantritt auf Kosten des Verfassungsschut-zes versucht hätte zu profilieren.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von der CDU: So ist es!)
Meine Damen und Herren, es ist in den vergange-nen Tagen vielfach die Sorge geäußert worden, dass als Folge der Anschläge von Paris auch in Deutschland eine neue tiefe gesellschaftliche Spal-tung, ja ein neuer Kulturkampf drohen könnten. Ich rate in diesem Punkt zu mehr Gelassenheit. Nie gab es in Deutschland und Niedersachsen ein solches Maß an Freiheit, Toleranz, Gleichberechti-gung, Weltoffenheit und Neugier auf die Welt wie heute, meine Damen und Herren.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Niedersachsen war auch in der Vergangenheit ein weltoffenes und tolerantes Land und darf sich durch die Anschläge von Paris nicht verändern. Wer Angst vor Fremden hat, grenzt unwillkürlich aus. Dazu besteht aus meiner Sicht kein Anlass.
Aber wer in unser Land kommt, muss unsere Ge-setze und unsere Kultur akzeptieren und respektie-ren, meine Damen und Herren.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Wir müssen uns bestimmter Gefahren bewusst sein. Und wir wissen ebenso, dass es 100-prozentige Sicherheit niemals geben kann. Das heißt aber nicht, dass wir im Bund wie auch in Niedersachsen nicht kritisch hinterfragen, ob und wie unsere Sicherheitsbehörden für Anschläge vergleichbarer Art gerüstet sind.
Vor diesem Hintergrund muss auch die Frage er-laubt sein, ob es klug sein kann, dass die vom niedersächsischen Verfassungsschutz gespeicher-ten 1 400 Datensätze von Personen mit mutmaß-lich islamistischem Hintergrund einfach gelöscht werden können, meine Damen und Herren. Ich glaube, nein.
(Lebhafter Beifall bei der CDU)
Meine Damen und Herren, mit Blick auf die jüngs-ten Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Mitglieder mutmaßlicher Terrorzellen in Wolfsburg stellt sich uns weiter die Frage, sehr geehrter Herr
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Innenminister: Was hat Sie eigentlich motiviert, am vergangenen Donnerstag eine Pressekonferenz zu geben mit der Ansage, es gebe keine Verhaftun-gen an diesem Tag, wenn nur 120 Minuten später der besagte Syrien-Rückkehrer festgenommen worden ist?
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von Klaus-Peter Bachmann [SPD])
- Was war denn die Motivation, das 120 Minuten vorher zu tun? - Man hätte die Pressekonferenz auch ausfallen und danach stattfinden lassen kön-nen, Herr Bachmann. Das ist doch die Antwort auf die Frage. Das hat aber nicht stattgefunden.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Stattgefunden hat stattdessen ein unsägliches Wirrwarr, welches dazu beigetragen hat, dass sich die Öffentlichkeit in die Irre geführt gefühlt hat.
Herr Weil und Herr Pistorius, mehr Klarheit hätte ich mir von Ihnen auch im Hinblick auf eine neue Gesetzesinitiative zur Vorratsdatenspeicherung ge-wünscht.
(Beifall bei der CDU)
Gerade jetzt nach den schrecklichen Anschlägen von Paris sollten wir nicht zögern, bewährte Stra-tegien zur Bekämpfung von Terror - wie die fran-zösische Vorratsdatenspeicherung - zu überneh-men.
(Thomas Schremmer [GRÜNE]: Die hat nichts genützt!)
Ich sage Ihnen: Vorratsdatenspeicherung ist ein Modell der Strafverfolgung. Warum haben denn die Franzosen so schnell die Hintergründe der Terro-risten aufklären können? - Weil sie eben eine Um-feldbeleuchtung gemacht haben. Das ist doch die Wahrheit! Wir sind auf diesem Auge blind. Deswe-gen, meine Damen und Herren, brauchen wir eine Vorratsdatenspeicherung, die den europäischen Vorgaben entspricht.
(Beifall bei der CDU und Zustimmung bei der FDP
Letztlich, meine Damen und Herren, werden Sie, Herr Weil, und Ihre Landesregierung um die Be-antwortung einer grundsätzlichen Frage nicht her-umkommen, nämlich was am Ende die Freiheit stärker einschränkt - die Arbeit handlungsfähiger Ermittlungsbehörden oder wachsender Extremis-mus und Gewalt. Wir Christdemokraten haben dazu eine klare und unmissverständliche Position. Für uns ist Freiheit ohne Sicherheit nicht vorstell-bar und schlichtweg nicht denkbar, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU und Zustimmung bei der FDP)
Der Ministerpräsident hat in seiner Rede zu Recht mehrfach das Leitbild einer toleranten Gesellschaft beschworen. Die Frage aber ist: Wie weit darf To-leranz in einer offenen Gesellschaft gehen? Meiner Ansicht nach endet Toleranz gegenüber anderen weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen dort, wo die freiheitlich demokratische Grundord-nung unseres Staates infrage gestellt wird,
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
wo Familienclans Gerichte umstellen und Polizei-stationen oder Krankenhäuser stürmen. Im Übri-gen, meine Damen und Herren, gilt hier das Grundgesetz und nicht die Scharia. Das muss deutlich werden.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Meine Damen und Herren, die ganz überwiegende Zahl der Muslime in Deutschland sind rechtschaf-fende und verfassungstreue Bürgerinnen und Bür-ger dieses Landes. Daran darf es keinen Zweifel geben, und daran besteht auch kein Zweifel. Da-rum sage ich noch einmal: Die Muslime gehören zu Deutschland! Das muss immer deutlich die Ansage an diejenigen sein, die das auch nur an-satzweise versuchen infrage zu stellen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Angela Merkel hat in der vergangenen Woche zugleich die Islamgelehrten zu einer klaren Ab-grenzung zwischen Islam und islamistischem Ter-ror aufgefordert. Die Frage, warum sich Mörder bei ihren Taten auf den Islam berufen, ist berechtigt. Man kann dieser Debatte nicht einfach ausweichen und entsprechende Wortmeldungen als islamfeind-lich oder rechtsradikal abtun.
In diesem Zusammenhang zitiere ich Ernst Hille-brand, den Leiter des Referats Internationale Poli-tikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung:
„Denn die bittere Wahrheit ist, dass die eu-ropäische Linke viel zu lange die islamisti-sche Gewalt banalisiert hat. Gefangen in ei-ne werterelativierenden Multikulturalismus hat sie passiv zugesehen, wie an den Rän-dern der Zuwanderungsgesellschaften
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Westeuropas ein Klima des antiwestlichen Hasses heranwuchs.“
Herr Hillebrand hat recht, und Sie und wir gemein-sam müssen darauf eine Antwort geben. Die Ant-wort kann nicht im Wegducken und Nichthinsehen bestehen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Herr Weil, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung das Engagement der Bürgerinnen und Bürger ge-würdigt, die am vorletzten Montag in Hannover unter dem Motto „Bunt statt Braun“ gegen Hagida auf die Straßen gegangen sind, genauso wie die Demonstranten, die in den letzten Tagen, am Mon-tag sowie an weiteren Tagen in Osnabrück, in Braunschweig, in Lingen und in anderen Orten Niedersachsens, aber auch bundesweit ein klares Signal gegen Ausgrenzung gesetzt haben.
Ich finde - da bin ich auch mit der Bundeskanzlerin und vielen anderen Politikerinnen und Politikern dieser Republik einig -, dass man an diesen Pegi-da-Demonstrationen - oder wie auch immer sie heißen - nicht teilnehmen sollte. Ich teile aber ebenso die Einschätzung der Bundeskanzlerin und unseres ehemaligen Landtagspräsidenten Jürgen Gansäuer, die beide der Auffassung sind, dass man die Probleme und Sorgen einiger, vielleicht auch vieler Leute, die bei Pegida und Co. mitmar-schieren, nicht einfach ignorieren oder sie pau-schal als islamfeindlich oder rechtsradikal stigmati-sieren sollte.
(Thomas Schremmer [GRÜNE]: Das sind gar nicht viele!)
Es gab dazu in der HAZ vor einigen Tagen einen bemerkenswerten Leserbrief des hannoverschen Erziehungswissenschaftlers Professor Manfred Bönsch, der sich konkret auf die hannoversche Montagsdemonstration bezog. Ich möchte daraus zitieren:
„Freiheit ist zuallererst die Freiheit des An-dersdenkenden. Doch schöne Sonntagsre-den erreichen den Andersdenkenden nicht. Politische Kultur lebt von der argumentativen Auseinandersetzung und nicht von der schnellen Ausgrenzung.“
Professor Bönsch hat recht!
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Wir müssen in der Debatte um Zuwanderung und zum Islam in Deutschland wieder differenzierter und offener miteinander reden und nicht alles der politischen Korrektheit unterwerfen und damit zu-kleistern. Denn das vernebelt dauerhaft den Blick auf die Wirklichkeit.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Wir brauchen dazu eine ehrliche, offene und breite Auseinandersetzung in den Parteien, in den Ge-werkschaften, in den Verbänden und auch in den Kirchen ohne Schaum vor dem Mund oder gegen-seitige Vorhaltungen, wer der bessere Mensch sei.
Herr Weil, ich glaube im Übrigen auch, dass wir in grundlegenden Fragen der Flüchtlings- und Asyl-politik gar nicht weit auseinanderliegen. Deswegen erlaube ich mir, aus dem Manuskript Ihrer Rede, die Sie bei dem Epiphanias-Empfang der Landes-kirche in Loccum gehalten haben, zu zitieren:
„Unabhängig davon sehe ich uns in der Pflicht, beides gleichermaßen konsequent zu leisten: Menschen in Not Zuflucht und Si-cherheit zu geben, andere aber auch res-pektvoll und konsequent auch wieder zu veranlassen, Deutschland zu verlassen. … Den einen schneller gesicherte Perspektiven in Deutschland zu geben und den anderen konsequent zu veranlassen, wieder zurück-zugehen, halte ich nicht nur für legitim, son-dern auch für notwendig.“
(Zustimmung bei der CDU)
„Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass das Grund-recht auf Asyl am Ende denen zu Gute kommt, für die es gemacht ist.“
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Herr Weil, ich denke, da sind wir fraktionsübergrei-fend einer Meinung, weil wir eine Verantwortung sowohl für die eine als auch für die andere Gruppe von Menschen haben. Es gibt Menschen, die sich hier 13 Jahre im Status der Duldung aufhalten. Das finde ich nicht hinnehmbar, weil ich es als zutiefst unmenschlich empfinde, Menschen in ei-nem Schwebezustand zu halten, ohne dass sie sich selbst in eine Gesellschaft einbringen können, weil sie nicht arbeiten dürfen und sich nicht wirklich integrieren können, weil sie es nicht dürfen. Des-wegen müssen wir gemeinsam daran arbeiten, verantwortungsvoll mit diesen Personenkreisen umzugehen. Und ich glaube, dass wir an dieser Stelle viele Gemeinsamkeiten haben.
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Ich glaube auch, dass der von Ihnen eben zitierte Rückführungserlass nicht ganz im Einklang mit dem steht, was Sie in Loccum gesagt haben.
Wer, wie Rot-Grün, die Asyl- und Flüchtlingspolitik zu einem Schwerpunkt der Landespolitik erklärt, meine Damen und Herren, der muss auch am Ende ausreichend Geld zur Verfügung stellen, damit die Aufgaben bewältigt werden können. Ge-nau an der Stelle versagen Sie; das ist Ihr Prob-lem.
(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Sie werden in dieser Frage eben nicht den An-sprüchen der Kommunen gerecht. Es ist nicht aus-reichend, mit dem Finger nach Berlin zu zeigen und zu sagen: Der Bund muss es richten.
Sicherlich haben wir auf allen staatlichen Ebenen - Bund, Länder und Gemeinden - eine Verantwor-tung. Aber es muss auch jeder seiner Verantwor-tung in der Frage, in der er zuständig ist, gerecht werden. Und an der Stelle ist das Land Nieder-sachsen seiner Verantwortung eben nicht gerecht geworden: Bei der Einführung der Sprachklassen, beim Thema Sprachvermittlung wurde zu wenig getan. Sie haben es im Dezember-Plenum in na-mentlicher Abstimmung verhindert, meine Damen und Herren, dass für mehr Leistungen in diesem Bereich 4 Millionen Euro in den Haushalt einge-setzt worden sind. Das wäre in diesem Land not-wendig gewesen.
(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP - Widerspruch bei der SPD)
Meine Damen und Herren, wir sind ganz dicht beieinander, wenn es darum geht, dass Sprache eines der zentralen Elemente von Integration ist. In dieser Frage gibt es in der Tat keine zwei Meinun-gen. Denn die Sprache ist das verbindende Ele-ment zwischen Menschen, um sich zu verständi-gen.
Ich kann Ihnen genug Beispiele von Bürgermeiste-rinnen und Bürgermeistern nennen, die verzweifelt waren, als ihnen Flüchtlinge an einem Wochenen-de quasi vor die Tür gestellt worden sind und sie nicht recht wussten, was sie mit ihnen machen sollten, weil es keine Strukturen gab, die ausrei-chend Hilfe geben konnten. Die Flüchtlinge konn-ten sich auch nicht mit ihnen verständigen, weil sie nicht die deutsche Sprache gesprochen haben.
Deswegen muss eines der zentralen Anliegen all derjenigen, die es damit ernst meinen, sein, die Sprachvermittlung in den Fokus der gesamten Politik zu stellen. Zuvörderst muss jedem, der in dieses Land kommt - egal ob Zuwanderer, Flücht-ling oder Asylbewerber -, die Sprache zugänglich sein. Meine Damen und Herren, das muss doch die Forderung der Politik sein.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Ich will hier noch einmal kurz das sagen, was ich in den letzten Tagen schon häufiger hier und dort erklärt habe. Die Themenkreise werden in diesem Land so gerne miteinander vermengt, weil es ja auch ganz einfach und bequem ist, alles zusam-menzufügen, in einen Topf zu schmeißen und zu sagen: Das wird schon irgendwie! - Wir müssen uns darum kümmern, klare Antworten für die ein-zelnen Personengruppen zu finden.
Deswegen sollten wir alle Anstrengungen unter-nehmen, und zwar möglichst gemeinsam auf brei-ter Front, damit es in Deutschland endlich zu ei-nem Einwanderungs- bzw. Zuwanderungsgesetz kommt. Mir ist natürlich bekannt, dass es Regeln für die Ein- und Zuwanderung nach Deutschland gibt. Wenn sich diese Regeln aber über mehrere Gesetze und Verordnungen verteilen und selbst für Einheimische und Juristen nicht erkennbar ist, was eigentlich wie möglich ist, dann ist es doch die verdammte Pflicht der Politik, dafür zu sorgen, dass es ein Einwanderungs- bzw. Zuwanderungs-gesetz in diesem Land gibt, aus dem klar hervor-geht, was wir eigentlich wollen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Dann müssen wir aber auch den Mut haben, gera-de in der Frage der Zuwanderung klar zu erklären, was wir eigentlich wollen. Und bedenken Sie, dass Deutschland nach den USA das zweitbeliebteste Einwanderungsland weltweit ist, es in Deutschland allerdings im Gegensatz zu den USA, zu Kanada und vielen anderen Staaten dieser Welt keine ge-zielte, sondern eine zufällige Zuwanderung gibt! Und das ist doch das Gegenteil von dem, was Sie gerade selbst gesagt haben, Herr Ministerpräsi-dent. Wir müssen also erklären, wie die Zuwande-rung derjenigen funktionieren soll, die dauerhaft, für immer in Deutschland arbeiten, leben und ihre Kinder großziehen wollen, die ihren Lebensmittel-punkt in Deutschland haben wollen - so, wie wir es damals bei den vielen Gastarbeitern, die nach Deutschland gekommen sind, gemacht haben. Das muss doch Aufgabe der Politik insgesamt sein.
(Beifall bei der CDU)
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Der zweite Komplex ist das Thema Flüchtlinge. Beim Thema Flüchtlinge kann es keine zwei Mei-nungen geben, meine Damen und Herren. Wir wissen doch aus der jüngeren Geschichte, dass sich die Annahme, dass sie erst einmal zeitlich begrenzt zu uns kommen und wir sie dann wieder zurückschicken werden, nicht bestätigen wird. Das heißt, wir müssen endlich akzeptieren, dass dieje-nigen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kom-men, dauerhaft in diesem Land bleiben werden. Und wenn das so ist, dann müssen wir für die Flüchtlinge, die hierherkommen, bessere Bedin-gungen schaffen, was die Arbeit angeht, und bes-sere Bedingungen zur sozialen Integration schaf-fen.
(Doris Schröder-Köpf [SPD]: Ja!)
Das heißt am Ende des Tages, meine Damen und Herren, dass wir für diesen Personenkreis, für diese Menschen eine Verantwortung haben. Des-wegen sagen wir: Herzlich willkommen in Deutsch-land! Es gibt keine Ausgrenzung, sondern hier ist eure neue Heimat. - Und wer freiwillig in sein Hei-matland zurückgehen möchte, der kann es tun, aber er wird nicht per se dazu aufgefordert.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Meine Damen und Herren, der dritte Personen-kreis, über den wir sprechen müssen, sind in der Tat die Asylbewerber. Und da wird es dann schwierig. Denn dann muss man auch den Mut haben, den Menschen - das hat der Ministerpräsi-dent in Loccum noch etwas deutlicher gesagt, als es in seinem Redemanuskript steht -, die - Sie hatten damals von einer 99-prozentigen Wahr-scheinlichkeit gesprochen - nicht in Deutschland bleiben können, weil sie aus einem sicheren Her-kunftsland kommen, in einem schnellen Verfahren zu erklären, dass sie wieder dorthin zurückgehen müssen. Dieses Verfahren darf eben nicht Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte dauern, wie wir das aus einzelnen Fällen kennen, sondern es muss ein schnelles und rechtsstaatlich sauberes Verfahren sein. Es muss immer - das betone ich ausdrück-lich - und für jeden die Möglichkeit geben, eine Überprüfung beispielsweise in der Härtefallkom-mission zu erreichen. Ich glaube, auch diesem humanitären Akt sollten wir doch etwas abgewin-nen.
(Filiz Polat [GRÜNE]: Sie sind doch in der Regierung!)
Deswegen sage ich noch einmal: Wir brauchen auch in der Diskussion eine klare Trennung der Themen, weil nicht alles miteinander vermischt werden kann.
Und das, was für diejenigen gilt, die in die Dritt-staaten - oder wie auch immer man das nennen möchte; das Wort „Drittstaaten“ finde ich im Übri-gen ziemlich furchtbar - zurückkehren müssen - nämlich ein schnelles Verfahren -, muss auch für diejenigen gelten, bei denen klar ist, dass sie dau-erhaft hier in Deutschland bleiben, weil das Recht auf Asyl nach dem Grundgesetz sie schützt: Auch die Menschen aus diesem Personenkreis müssen möglichst schnell in unsere deutsche Gesellschaft integriert werden können, nämlich indem sie arbei-ten dürfen.
Ob man dem FDP-Modell folgen sollte, nach dem alle eine Ausbildung durchlaufen sollen, weiß ich nicht. Man muss erst einmal schauen, welche Fä-higkeiten die Leute haben, die zu uns kommen - im Wesentlichen sind das ja nicht die Dümmsten, die hier ankommen. Deswegen müssen wir uns ihnen sehr offen zuwenden. Ich glaube, wir haben eine Chance, das jetzt in Deutschland - auch vor dem Hintergrund der Anschläge in Paris - vernünftig zu diskutieren. Das sind wir den Menschen, die nach Deutschland kommen wollen, schuldig, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Ich komme noch einmal auf den Anfang zurück: Am Ende ist eben auch hier die Vermittlung von Sprache, die Sprachkompetenz das A und O, um in diese Gesellschaft integriert zu werden. Aber es funktioniert eben nicht, wenn man die Menschen erst einmal in die Fläche schickt und hofft, dass das schon irgendwie gelingen wird, weil sich Eh-renamtliche darum kümmern. - Ja, 100 000 Ehren-amtliche kümmern sich jeden Tag um diese Men-schen, und denen sind wir zutiefst dankbar für diese Arbeit.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Aber es ist eben auch Aufgabe unseres Staates, unseres Landes, seiner Verantwortung gerecht zu werden, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Sprache erlernt werden kann. Und, Frau Heili-genstadt, 240 zusätzliche Sprachklassen reichen da bei Weitem nicht aus; denn es können nicht in jeder Grundschule, nicht einmal in jeder Region ordentliche Sprachklassen eingerichtet werden.
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Wenn Sie sagen: „Dann müssen die zusammenge-fasst werden“, dann ist das falsch; denn diese Menschen sind orientierungslos. Das müssen Sie anerkennen. Deswegen müssen wir in diesem Bereich mehr Anstrengungen unternehmen und dort auch mehr Geld hineingeben. Das Gleiche gilt für die Erwachsenenbildung. Auch hier hätten die 800 000 Euro wirklich Gutes bewirken können. Das muss das Ziel der Politik bleiben.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Ich komme zum Ausgangspunkt meiner Rede zu-rück. Wir sind uns einig in der Verurteilung der barbarischen Terrorakte von Paris. Wir sind uns einig darin, dass wir gegenüber jedweder Form des Extremismus wachsam sein müssen. Wir müssen uns auch darin einig sein, dass wir nicht zulassen dürfen, dass sich unsere Gesellschaft spaltet.
Für die CDU Niedersachsen kann ich hier erklären: Wir stehen in der Tradition von Ernst Albrecht. Er hat mutig und unbürokratisch gehandelt und Tau-sende Boat People vor dem sicheren Tod auf dem offenen Meer gerettet. Er hat sich zunächst ge-fragt, was er für die Flüchtlinge tun kann, und nicht nach dem Bund gerufen.
(Dr. Gero Hocker [FDP]: Genau!)
Er hat schlicht eine Unterschrift geleistet - wie das Rupert Neudeck beim Staatsakt sehr eindrücklich zum Ausdruck gebracht hat -, und das war ein zutiefst humanitärer Akt, der auch Jahrzehnte da-nach noch Maßstäbe setzt. Daran sollten wir uns orientieren: für ein weltoffenes, für ein zukunftsge-wandtes und freiheitsliebendes Niedersachsen mit einer Bevölkerung, die offen für andere ist, die offen dafür ist, Menschen aufzunehmen und will-kommen zu heißen. Das muss das Signal von heute sein.
Vielen Dank.
(Starker Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege Thümler. - Es hat sich jetzt für die Fraktion der SPD deren Vorsitzende, Frau Johanne Modder, zu Wort gemeldet. Bitte sehr!
Johanne Modder (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Auseinandersetzung um eine tolerante und weltoffene Gesellschaft prägt die gesellschaft-liche Debatte seit Wochen. Ich bedanke mich da-her sehr herzlich bei unserem Ministerpräsidenten dafür, dass er mit seiner Regierungserklärung diese Auseinandersetzung hier und heute aufge-griffen hat. Ganz herzlichen Dank dafür,
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
dass er damit die Sorgen und Probleme benannt hat und dass er konkrete Maßnahmen aus dem Bildungsbereich aufgeführt hat, durch die Zu-kunftsperspektiven für den Arbeitsmarkt ermöglicht werden, und dass er deutlich gemacht hat, dass die Sicherheit und die Terrorismusbekämpfung bei dieser Landesregierung in guten Händen sind. Der Ministerpräsident hat klar unsere Leitplanken ge-nannt: absolute Unnachgiebigkeit gegenüber Hass, Gewalt und Rassismus auf der einen Seite, Weltoffenheit, Toleranz und Demokratie auf der anderen Seite.
Meine Damen und Herren, die sogenannten Pegi-da-Demonstrationen beschäftigen uns seit Wo-chen. Zuerst hat man diese nicht wirklich wahrge-nommen. Dann war man über den Zulauf und die Dynamik irritiert, vielleicht auch etwas erschreckt. Vielleicht hat es deshalb bis zum Anfang des Jah-res gedauert, eine Antwort der Zivilgesellschaft zu geben. Ich freue mich, dass in den letzten Tagen, in den letzten ein, zwei Wochen in vielen Städten, auch in unserem Land, über 100 000 Menschen für eine offene und tolerante Gesellschaft demons-triert haben:
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
in Braunschweig, in Osnabrück, allein 19 000 Menschen hier in Hannover.
Wer beim Friedensgottesdienst und der anschlie-ßenden Demonstration dabei war, kann bestäti-gen: Es war eine beeindruckende Veranstaltung, und es war ein deutliches Zeichen für eine freie und offene Gesellschaft.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, eine zusätzliche tragi-sche Entwicklung ist durch die furchtbaren An-schläge in Paris entstanden; entsetzliche und ab-scheuliche Verbrechen; das gilt im Übrigen für alle Terroranschläge in dieser Welt. Die Ermordung von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, von Polizisten und der Journalisten der Zeitschrift
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Charlie Hebdo waren und bleiben ein Anschlag auf die Grundwerte Europas.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Unser Mitgefühl und unsere Trauer gelten den Opfern und ihren Angehörigen.
„Je suis Charlie“ war und ist eine beeindruckende Antwort hierauf: Wir lassen uns eben nicht spalten, wir verteidigen unsere Grundwerte, wir verteidigen unsere offene und tolerante Gesellschaft. Das gilt auch bei der Debatte um die Konsequenzen aus den Anschlägen und den reflexhaft einsetzenden Forderungen nach stärkerer Terrorismusbekämp-fung. Das gleiche gilt - das will ich hier an dieser Stelle ganz deutlich sagen - für die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Schutz der Freiheitsrechte sind ein sehr hohes Gut. Allerdings muss der Staat auf Augen-höhe sein, wenn es um die Strafverfolgung bei schweren Delikten geht, bei denen moderne Kommunikationsmittel eine Rolle spielen. Ein re-flexhaftes Aufspringen, wenn es um die Nutzung solcher Instrumente geht, ist allerdings nicht hilf-reich.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Es ist unsere Aufgabe, verantwortungsvoll und differenziert hiermit umzugehen. Gerade das In-strument der Vorratsdatenspeicherung eignet sich nicht für politische Schnellschüsse.
Wir haben keinen Zweifel und lassen keinen Zwei-fel daran, dass die Muslime in Deutschland in ihrer übergroßen Mehrheit unsere Grundwerte teilen. Die Bertelsmann Stiftung hat vor wenigen Tagen hierzu eine Untersuchung vorgelegt. 90 % der tiefreligiösen deutschen Muslime stehen zu unse-rer Demokratie und halten Demokratie für eine gute Regierungsform. Für hier lebende Muslime ist Deutschland Heimat geworden. Ja, der Islam ge-hört zu Deutschland, und der Islam gehört zu Nie-dersachsen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wir - damit meine ich uns alle -, aber auch viele andere Entscheidungsträger in der Gesellschaft dürfen nicht zulassen, dass die Taten einer radika-len Minderheit dazu führt, dass Muslime unter Ge-neralverdacht gestellt werden. Mühsam errichtete Brücken in unserer Gesellschaft dürfen nicht ge-fährdet werden. Allerdings darf es aus diesem Grund auch kein falsches Wegsehen geben. Na-türlich gibt es Sorgen und Ängste, zum einen auf-grund von Anschlägen und durch das Bekunden von Sympathien und die Unterstützung islamisti-scher Kräfte, zum anderen aus der Sorge um die Errungenschaft unserer säkularen Gesellschaft und einem Rückschritt in dieser Frage. Auch die-sen Aspekt darf man nicht aus den Augen verlie-ren, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Die Herausforderungen und die Verantwortung liegen auf beiden Seiten. Diese Landesregierung, meine Fraktion und unser Koalitionspartner stehen für eine Willkommenskultur in unserem Land
(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
für Flüchtlinge, aber auch im Hinblick auf die Men-schen, die bewusst aus einem anderen Land nach Deutschland, nach Niedersachsen kommen, um hier ihre Heimat zu finden.
Wir haben in den zurückliegenden zwei Jahren wichtige Schritte unternommen. Wir haben 2014 die Migrantenselbstorganisationen in die strukturel-le Förderung durch das Land Niedersachsen auf-genommen. Auch der Flüchtlingsrat Niedersach-sen wird wieder gefördert.
Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Nie-dersachsen bekam 2014 eine Anschubfinanzie-rung für den Aufbau eines Trauma- und Krisenin-terventionszentrums. In den Flüchtlingserstauf-nahmeeinrichtungen konnten zusätzliche Sozialar-beiterinnen und Sozialarbeiter eingestellt werden.
Mit dem Landeshaushalt für das Jahr 2015, den wir im Dezember auf den Weg gebracht haben, setzen wir diesen Weg fort. Wir haben als Initiative das Modellprojekt zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen ohne definierten Aufenthaltssta-tus auf den Weg gebracht. Die Mittel für das Kri-sen- und Traumazentrum, in dem traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer behandelt und betreut werden, wurden erhöht. Auch die Übernahme von Krankenkosten für syrische Flüchtlinge wurde ge-regelt.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
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Ich will weitere Punkte hervorheben:
Ich begrüße es ausdrücklich, dass es im Februar eine Flüchtlingskonferenz geben wird. Es ist aus meiner Sicht vernünftig, alle Beteiligten hierzu an einen Tisch zu holen. Ich bin der Landesregierung an dieser Stelle sehr dankbar, dass sie meinen Vorschlag dazu aufgegriffen hat.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Zwischen der Landesregierung und den muslimi-schen Religionsgemeinschaften wird derzeit über einen Staatsvertrag verhandelt. Meine Fraktion und auch unser Koalitionspartner stehen zu die-sem Staatsvertrag. Wir unterstützen dieses Vorha-ben.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Für meine Fraktion nenne ich außerdem das Pro-jekt eines Partizipations- und Teilhabegesetzes. Wir haben ein solches Gesetz angekündigt und versprochen. Ich halte es für politisch wichtig, und wir werden einen entsprechenden Entwurf vorle-gen, auch weil wir bewusst mit „Teilhabe und Par-tizipation“ über den bisherigen Begriff der Integra-tion hinausgehen wollen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Schließlich die Betreuung und die Integration von Flüchtlingen: Es ist für die Kommunen eine intensi-ve und wichtige Aufgabe und eine immense Her-ausforderung. Da besteht überhaupt kein Zweifel. Ich freue mich, dass auf Bundesebene eine Eini-gung möglich war. In den kommenden zwei Jahren stehen Niedersachsen jährlich 45 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung. 40 Millionen davon gehen jährlich an die Kommunen; der Minis-terpräsident hat bereits darauf hingewiesen. Hier-mit wird die Kostenabgeltungspauschale für die Kommunen zusätzlich erhöht. 5 Millionen Euro verbleiben beim Land Niedersachsen für die Er-richtung eines vierten Standortes der Landesauf-nahmebehörde. Die Errichtung einer fünften Ein-richtung ist im Gespräch.
Da passt es eben nicht, Herr Thümler, dass Sie dem Land vorwerfen, wir hätten nicht genug ge-macht und nicht genug Geld zur Verfügung ge-stellt.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Ich will in meiner Rede durchaus das Verbindende und nicht das Trennende in den Vordergrund stel-len. Heute ist zu lesen, dass Herr Thomas Opper-mann, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, vorgeschlagen hat, dass der Bund die gesamten Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen übernimmt. Ich fordere Sie hiermit auf, dass auch die CDU in Niedersachsen ein deutliches Signal setzt und mithilft, dass der Bund hier in seine Ver-antwortung tritt. Das würde auch den Kommunen vieles erleichtern, und wir könnten vieles machen, was so dringend erforderlich ist.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Aber es wäre auch sinnvoll, dass die Lan-despolitik einmal Verantwortung über-nimmt, Frau Modder! Die Landespoli-tik darf Verantwortung übernehmen! - Ulf Thiele [CDU]: Hat der Herr Op-permann dazu einen Haushaltsantrag eingebracht? Das ist mir nicht be-kannt! Nach Beschluss des Haushal-tes stellt er solche Forderungen!)
Herr Thümler, noch eine Anmerkung zu den Sprachlernklassen - da kamen Sie vorhin ein biss-chen in Aufregung -: Ich würde noch einmal über-legen und noch einmal nachrechnen wollen, ob die 4 Millionen Euro, die Sie beantragt und mit einer völlig unseriösen Finanzierung hinterlegt haben,
(Reinhold Hilbers [CDU]: Was?)
wirklich mehr sind als das, was die Frau Ministerin jetzt vorgelegt hat, mit 240 Sprachlernklassen. Ich würde Ihnen da noch einmal die einfache Mathe-matik nahelegen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Jens Nacke [CDU]: Wie kleingeistig ist das denn?)
Meine Damen und Herren, wir werden genau be-obachten, wie sich die Pegida-Demonstrationen in den kommenden Wochen weiterentwickeln wer-den. Das ist völlig klar. Aber wir müssen die Aus-einandersetzung eben auch ohne diese Demonst-rationen führen.
Ich will an dieser Stelle auch deutlich sagen: Über Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und gesellschaftliche Ausgrenzung anderer gibt es keine Debatte. Sie sind eine menschenverachten-de Ideologie, die mit den Werten unserer Demo-kratie und unserer Gesellschaft nichts zu tun hat und auf unseren entschiedenen Widerspruch tref-fen wird.
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(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wer die Pegida-Demonstrationen beobachtet, sieht, dass sich diese Ideologie dort ausbreitet, dass Rechtsextremisten diese Veranstaltungen für sich nutzen, dass Hass formuliert und skandiert wird. Jeder und jede, der oder die dorthin geht, muss wissen, in welche politische Richtung ein solcher Demonstrationszug marschiert.
Damit kein Missverständnis entsteht: Meine Frakti-on und ich sind weit davon entfernt, jeden Teil-nehmer, jede Teilnehmerin in die rechtsextremisti-sche Ecke zu stellen. Viele Menschen artikulieren auf diesem Weg ihre Sorgen und Nöte, Unmut über die politische Institutionen, Parteien, Politiker und politischen Prozesse. Die Probleme und Sor-gen, für die sie aus ihrer Sicht kein Sprachrohr haben oder vielleicht kein Sprachrohr mehr haben, müssen wir ernst nehmen und sie wirklich als Warnsignale verstehen.
(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Warnsignale haben wir auch an anderer Stelle bereits bekommen. Ich will hier das Problem der Wahlbeteiligung nennen. 17 Millionen Bürgerinnen und Bürger sind nicht zur Bundestagswahl 2013 gegangen. 70 % davon, also ca. 11 Millionen Bür-gerinnen und Bürger, hatten sich bereits bei der Bundestagswahl 2009 vom Wahlgang verabschie-det. Die Bertelsmann Stiftung, auf die ich mich hier beziehe, bestätigt: „Je prekärer die Lebensverhält-nisse, desto weniger Menschen gehen wählen“ - ein alarmierendes Zeichen, wie ich finde.
Heribert Prantl hat bereits 2006 im Zusammen-hang mit der Entwicklung von Armut in Deutsch-land und der Diskussion um die Entwicklung der gesellschaftlichen Milieus in einem Kommentar auf das Problem hingewiesen:
„Die einzige Partei, welche die neuen Armen heutzutage bilden, ist die Partei der Nicht-wähler; sie wird immer größer, hat aber kei-ne politische Kraft.
Es ist zu befürchten, dass sie exakt deswe-gen destruktive Energie entwickelt - weil nämlich Demokratie nicht mehr … funktio-nieren kann, wenn ein immer größerer Teil der Gesellschaft nicht mehr dabei mitmacht. Eine Zwei-Drittel-Demokratie ist eine Gefahr für den inneren Frieden.“
Es ist unsere Aufgabe, diese Zwei-Drittel-Demokratie und die damit verbundene destruktive Energie zu verhindern, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Bürgerin-nen und Bürger nicht weiter von unserer Demokra-tie abwenden, sondern Sinn darin sehen, an Wah-len teilzunehmen und an Demokratie teilzuhaben. Es kann und es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn sich ein größerer Teil von demokratischen Entscheidungsprozessen immer mehr entfernt.
Die Antwort ist alles andere als einfach. Aber: Bil-dung und Arbeit, das sind die Leitplanken für eine solidarische Gesellschaft. Sie ermöglichen Per-spektiven, sie ermöglichen ein gutes Leben, und sie stellen gesellschaftliche Teilhabe sichern. Ar-beiten wir als gemeinsam an diesen Leitplanken, meine Damen und Herren!
(Beifall bei der SPD)
Setzen wir heute als Demokratinnen und Demokra-ten ein deutliches Signal, auch aus dieser Debatte im Plenum des Niedersächsischen Landtages und bei den weiteren Debatten, die im Zusammenhang mit dieser Aussprache stehen; wir werden nachher noch einige Tagesordnungspunkte dazu haben.
Dieser Landtag und seine Fraktionen stehen für eine tolerante und weltoffene Gesellschaft in Nie-dersachsen. Kehren wir also das nach außen, was uns als Demokraten verbindet, und nicht das Tren-nende! Die Resolution, die wir heute hier gemein-sam verabschieden werden, macht das, glaube ich, noch einmal ganz deutlich. Dafür bin ich dank-bar.
Vielen herzlichen Dank.
(Starker, anhaltender Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Frau Modder. - Es folgt jetzt für die Fraktion der FDP Herr Kollege Christian Dürr. Bitte sehr! Ich erteile Ihnen das Wort.
Christian Dürr (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Anschläge von Paris waren menschenverachtende Attentate, die jeden von uns tief getroffen haben. Wir fühlen uns verbunden mit den Opfern, den Hinterbliebenen, den Men-schen in Paris und in Frankreich.
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Und: Diese Anschläge waren auch ein direkter Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit, mei-ne Damen und Herren. Sie waren ein Angriff auf uns alle.
Die öffentlichen Kundgebungen der Solidarität der letzten zwei Wochen haben es deshalb deutlich gemacht: Wer Menschen wegen ihrer Meinungs-äußerung, wie die Redaktionsmitglieder von Char-lie Hebdo, zum Ziel von barbarischen Anschlägen macht, der greift damit die gesamte freie Gesell-schaft an. Und wer das tut, der trifft auf den ent-schiedenen Widerstand der gesamten Gesell-schaft, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU sowie Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Ich bin deshalb dankbar - Frau Kollegin Modder und Herr Thümler haben das vorhin schon ge-sagt -, dass wir heute eine gemeinsame Entschlie-ßung aller Fraktionen fassen werden, in der wir genau das unterstreichen: „Wer die demokrati-schen Grundrechte, wie die Meinungsfreiheit, be-kämpft oder auch nur infrage stellt, der stellt sich auch gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung“, so heißt es dort. Der macht sich auch uns hier im Landtag zum Gegner, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU sowie Zustimmung bei den GRÜNEN)
Und ich will das deutlich sagen: Die Meinungsfrei-heit ist vor allem auch die Meinungsfreiheit des Andersdenkenden. Charlie Hebdo ist schonungs-los und satirisch mit Religion und Staat umgegan-gen.
(Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta übernimmt den Vorsitz)
Das hat und wird auch in Zukunft nie allen, selten sogar einer Mehrheit gefallen. Das muss es auch nicht, meine Damen und Herren. Nicht nur muss eine pluralistische Gesellschaft, müssen Staat und Religionen ein Satiremagazin wie Charlie Hebdo aushalten. Nein, eine Demokratie braucht einen solchen kritischen, auch konfrontativen Diskurs. Unsere Demokratie lebt von unterschiedlichen Ansichten und Meinungen. Und vor allem: Sie lebt davon, dass man diese frei äußern kann, meine Damen und Herren.
(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU sowie Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Ich will an dieser Stelle eines betonen: Wer eine Religion als Vorwand nimmt, um den Rechtsstaat beiseitezuschieben, der muss den wehrhaften Rechtsstaat deutlich zu spüren bekommen. Der islamistische Terror ist nicht nur durch nichts zu rechtfertigen. Man muss ihm, meine ich, auch mit allen Mitteln des Rechtsstaates entgegentreten.
In diesem Zusammenhang halte ich es für gebo-ten, genauestens zu prüfen, wie mit sogenannten Dschihad-Rückkehrern umgegangen wird. Wer dem Rechtsstaat bewusst den Rücken kehrt - poli-tisch und gleichzeitig geografisch -, der muss mei-nes Erachtens nicht darauf hoffen können, dass dieser ihn auch wieder aufnimmt. Das Staatsbür-gerschaftsgesetz räumt im anderen Zusammen-hang hierfür Möglichkeiten ein. Wir sollten gemein-sam sehen, ob das, was für den Anschluss an ausländische Armeen gilt, auch in diesem Zusam-menhang zum Tragen kommen kann, meine Da-men und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Regie-rungserklärung auch die Demonstrationen von Pegida und seiner Ableger angesprochen. Wir hier im Landtag sind uns in unserer Ablehnung der Parolen, die dort skandiert werden, absolut einig, glaube ich. Man muss es deutlich sagen: Pegida und Co. stehen nicht für ein weltoffenes und tole-rantes Land, so wie wir es uns vorstellen. Sie ste-hen meiner Überzeugung nach dagegen, meine Damen und Herren.
Und es hat mich - das will ich deutlich sagen, auch als Protestant - geschüttelt, als ich gesehen habe, wie zu Weihnachten auf der Pegida-Demonstration in Dresden das christliche Kreuz als Symbol in die Luft gehalten wurde.
Auch wenn ich diese Demonstrationen und ihre Botschaften in jeder Hinsicht ablehne, kann ich aber nicht akzeptieren, dass sie wegen einer Be-drohungslage nicht stattfinden können. Auch das, meine Damen und Herren, ist eine Frage der Mei-nungsfreiheit.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU sowie Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Dresden, Herr Ministerpräsident Weil, ist vorhin schon angesprochen worden. Man machte sich dort Sorgen um die Sicherheitslage. Daher hat die Polizei so entschieden.
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Aber das muss ein Ausnahmefall in der Demokra-tie bleiben. Auch in Hannover und in Braunschweig mussten die sogenannten Pegida-Demonstra-tionen zumindest abgebrochen werden.
Ich will an dieser Stelle insbesondere den Herrn Ministerpräsidenten, den Herrn Innenminister, aber auch, wie ich vorhin auf der Homepage des Um-weltministeriums gelesen habe, den Herrn Um-weltminister - auch wenn es schwerfällt, wenn man anderer Meinung ist - an das Neutralitätsgebot des Staates erinnern. Das gilt ausdrücklich auch für den Aufruf zu Gegendemonstrationen, meine Da-men und Herren.
Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Unsere Botschaft, Herr Wenzel, Herr Weil, Herr Pistorius, also die Botschaft derer, die für Weltoffenheit und Toleranz eintreten, ist doch viel stärker, wenn wir auch für die Meinungsfreiheit derjenigen eintreten, deren Meinung wir ausdrücklich nicht teilen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Helge Limburg [GRÜNE]: Die haben doch nichts getan!)
Deswegen: Nicht so sehr die staatlichen Institutio-nen, sondern die Menschen in Hannover, die Men-schen in Niedersachsen haben die richtige Antwort gegeben. Über 33 000 Menschen sind für eine freie und offene Gesellschaft auf die Straße ge-gangen. Das ist ein beeindruckendes Zeichen in der Geschichte unseres Landes, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Aufklärung, Toleranz zwischen den Religionen und ein weltanschaulich neutraler Staat mit einer libera-len Verfassung sind die Eckpfeiler unserer Gesell-schaft und übrigens auch des Abendlandes. Wer diese Regeln achtet, für den muss in unserem Land die preußische Toleranz gelten, dass nämlich „jeder nach seiner Façon selig“ werden darf. Die-sen Kern unserer offenen Gesellschaft gilt es zu verteidigen, sowohl gegen Pegida als auch gegen die „Scharia-Polizei“ und rekrutierende Salafisten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Es hat in den letzten Tagen Überlegungen gege-ben, als Folge der Attentate den Tatbestand der Blasphemie zu verschärfen. Das wäre aus meiner Sicht gerade das falsche Signal. Denn nach einem Anschlag auf die Meinungsfreiheit sollte man nicht zuallererst darüber diskutieren, wie man selbige begrenzen kann. Auch das will ich deutlich sagen.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU sowie Zustimmung bei der SPD)
Gleiches gilt meiner Ansicht nach für die anlasslo-se Vorratsdatenspeicherung.
Herr Innenminister, ich habe Ihre Äußerungen dazu in der Neuen Presse gelesen. In einem Punkt haben Sie recht: Die Vorratsdatenspeicherung würde die Arbeit der Sicherheitskräfte erleichtern. Das allein kann aber niemals der Grund sein, den Schutz von Grund- und Bürgerrechten zu schwä-chen. In einer freien und offenen Gesellschaft müssen die Sicherheitskräfte ihre wichtige Arbeit notwendigerweise innerhalb der Schranken des Grundrechtsschutzes leisten.
Und in diesem Punkt muss ich auch den Ausfüh-rungen des Ministerpräsidenten widersprechen: Wer nicht sicher sein kann, ob die eigene Kommu-nikation nicht von Sicherheitsbehörden erfasst wird, der wird das eigene Verhalten ändern. Die Selbstzensur ist die eigentliche Gefahr bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, meine Da-men und Herren.
(Beifall bei der FDP)
Eine solche Reaktion wäre deshalb kein Sieg für die Demokratie. Ich befürchte, sie wäre leider das Gegenteil. Deswegen sage ich deutlich: Diesen stillen Erfolg, dieses Aufgeben von Freiheit für vermeintliche Sicherheit - das die Anschläge von Paris nicht verhindern konnte; denn Frankreich hat bekanntermaßen die Vorratsdatenspeicherung -, diesen stillen Sieg dürfen wir den Feinden der Freiheit nicht gönnen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Der Ministerpräsident hat von einer spürbaren Verunsicherung in unserer Gesellschaft gespro-chen. Ich teile diese Einschätzung. Wir haben in den letzten Wochen ja wieder verstärkt über Fra-gen der Integration diskutiert.
Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Regie-rungserklärung auch über das Grundrecht auf Asyl gesprochen. Es ist besonders stark, wenn es den-jenigen Schutz bietet, die ihn dringend und am dringendsten brauchen. Ich teile Ihre Einschät-zung, dass dazu schnellere Asylverfahren in Deutschland notwendig sind.
Aber ich will auch eines deutlich sagen, gerade in Richtung Ihrer Bundesarbeitsministerin, wenn es
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um das Thema Personal geht: Ich hätte mir ge-wünscht, dass die 1 600 Stellen im Bund, die jetzt beim Zoll sind, um das bürokratische Mindestlohn-gesetz von Frau Nahles umzusetzen, beim Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge angekommen wären, um für schnelle Asylverfahren in Deutsch-land zu sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP)
Herr Ministerpräsident, liebe Kollegen, Integration - darum ging es ja in den Debatten der letzten Wo-chen - hat vor allem auch mit Teilhabe zu tun. Wer bei uns Schutz sucht, hat ein Recht, am sozialen Leben teilzuhaben. Viele Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen, haben vor allem ein Ziel: Sie wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können. Der volle Zugang zum Arbeitsmarkt - Sie haben das angesprochen - ist deshalb auch ein aktiver Bei-trag zur Integration. Deswegen will ich klar sagen: Das dreimonatige Arbeitsverbot für Asylbewerber und Flüchtlinge gehört daher genauso abgeschafft wie die sich anschließende zwölfmonatige bürokra-tische Vorrangprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit, meine Damen und Herren.
(Zustimmung bei der FDP)
Ich meine auch: Bei der Berufsausbildung sollten wir sofort aktiv werden. Der Bedarf an Auszubil-denden ist vor allem beim Handwerk auch in Nie-dersachsen besonders groß. Es braucht deshalb ein Bleiberecht während und vor allem auch für die Zeit direkt im Anschluss an die Ausbildung.
Herr Ministerpräsident, Sie haben vorhin erklärt, dass zumindest dieser Punkt durch die Landesre-gierung unterstützt wird. Ich will deshalb sagen: Wir können dann auch erwarten, dass Sie eine entsprechende Initiative dazu in den Bundesrat einbringen
(Beifall bei der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will zum Schluss noch eines sagen, weil das vorhin auch schon vom Kollegen Thümler und vom Herrn Mi-nisterpräsidenten zitiert worden ist. Die Bundes-kanzlerin hat vor wenigen Tagen gesagt: „Der Is-lam gehört zu Deutschland.“ - Das ist richtig.
(Thomas Schremmer [GRÜNE]: Hat sie nicht gesagt!)
Ich will Folgendes hinzufügen. Noch wichtiger ist: Menschen islamischen Glaubens, die Muslime gehören zu Deutschland, und sie gehören zu Nie-dersachsen. - Deswegen muss eines klar sein: Wer gegen Vielfalt auf die Straße geht, dem sagen wir: Toleranz ist aus unserer Sicht niemals die Akzeptanz von Intoleranz, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP)
Was wir brauchen, ist nicht zuletzt ein Zusammen-halt stiftendes Gerüst in unserer Gesellschaft - auch gerade in einer Gesellschaft, in der es Men-schen gibt, die verunsichert sind -, an dem unbe-schadet ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft, ihres sozialen Status und politischen Standortes alle Bürgerinnen und Bürger Halt finden könnten. Und ich glaube, den haben wir.
„Jeder nach seiner Façon selig“ - auf der Grundla-ge unseres Grundgesetzes und unserer Nieder-sächsischen Verfassung.
Ich will deshalb zum Schluss eines deutlich sagen: Dies ist die Stunde eines gelebten Verfassungs-patriotismus und nicht die dumpfer, völkisch-nationalistischer Parolen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Kollege Dürr. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Fraktionsvor-sitzende Frau Piel das Wort. Bitte!
Anja Piel (GRÜNE):
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich richte meinen Dank nicht nur an den Mi-nisterpräsidenten für diese Regierungserklärung, sondern auch an alle vorangegangenen Rednerin-nen und Redner für ihre klugen und auch Gemein-samkeit stiftenden Worte.
Die Berichte und Bilder von den furchtbaren An-schlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt in Paris haben uns alle geschockt und tief betroffen zurückgelassen. Menschen wurden kaltblütig hingerichtet. Und je-der dieser schrecklichen Morde war auch ein ge-zielter und heimtückischer Angriff auf die Presse-freiheit, die Religionsfreiheit und auch auf eine offene und demokratische Gesellschaft, in der Karikaturisten selbstverständlich das Recht haben, mit ihren Zeichnungen zu provozieren und uns zum Nachdenken anzuregen.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Wie gehen wir mit diesem Schock um? Was ma-chen wir aus der Trauer, aus der Wut und aus der
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Ohnmacht? - Die Antwort lässt sich im Moment in drei Wörtern zusammenfassen: „Je suis Charlie.“
Was heißt das eigentlich: „Je suis Charlie“? - Das sind drei Worte, aus denen bei aller Trauer, Ohn-macht und Wut auch ein gemeinsames Selbstbe-wusstsein spricht. Wir haben es heute von den Rednern gehört: ein demokratisches Selbstver-ständnis, ein Bekenntnis zur Pressefreiheit und ein Bekenntnis zur Religionsfreiheit, ein breit aufge-stelltes solidarisches Bekenntnis zu einer Gesell-schaft, die sich trotz oder gerade wegen ihrer Of-fenheit angreifbar macht und Angriffe aushält, weil es etwas zu verteidigen gibt, was es wert ist, ver-teidigt zu werden.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Das ist auch ein Bekenntnis zu Vielfalt, zu Tole-ranz und zu Demokratie sowie ein Bekenntnis zur festen Absicht, nicht und unter keinen Umständen nachzulassen, für all diese Werte einzutreten, mei-ne Damen und Herren.
„Je suis Charlie“ heißt, dass wir auch zukünftig nicht auf Satire, auf diese Art von Auseinanderset-zung, und auf die Freiheit verzichten wollen.
„Je suis Charlie“ ist aber vor allem anderen eine umarmende Geste. Bei den Pegida-Demos und ihren Ablegern stehen in den letzten Wochen im Gegensatz dazu nicht die Nähe und nicht die Soli-darität im Mittelpunkt. Was die Menschen bei die-sen Kundgebungen eint, ist der Wunsch nach Ab-grenzung, nach Abschottung, die Angst vor dem scheinbar Fremden und die Ablehnung einer freien Presse, die Ablehnung von Vielfalt und Freiheit überhaupt.
Wir teilen diese Angst nicht, wir machen uns nicht gemein mit denen, die ausgrenzen und diese Ab-lehnung kultivieren. Allein in Hannover haben fast 20 000 Menschen gezeigt, dass sie sich miteinan-der beschäftigen und nicht abgrenzen oder ein-mauern wollen und dass sie sich unter keinen Um-ständen auf islamfeindliche Hetze einlassen und Ausgrenzung zulassen werden.
Mich hat in diesem Zusammenhang sehr gefreut, dort so viele Menschen zu erleben und mit an Bord zu haben. Und vielleicht nimmt irgendwann ja auch einmal ein CDU-Fraktionsvorsitzender an solch einer Demonstration teil. Ich empfände das als Größe.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Mit dem multireligiösen Friedensgebet in der über-füllten Marktkirche ist mir deutlich geworden, dass die Bereitschaft der Menschen zu mehr Verständi-gung gelebt wird und dass sie ungebrochen ist.
In den Gesprächen am Rande der Demo habe ich feststellen können, dass die Menschen da draußen sehr wohl trennen können zwischen der Freund-schaft mit der neuen Nachbarsfamilie aus Syrien und den terroristischen Gewalttaten, bei denen die Religion nur ein Deckmantel, nur ein Vorwand ist.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Das macht mir Mut. Diese breite gesellschaftliche Basis ist eine Chance, die wir nicht leichtfertig verspielen dürfen, indem wir uns von Rechtspopu-listen treiben lassen.
Die schrecklichen Ereignisse in Frankreich haben bei einigen sehr konkrete Reflexe hervorgerufen, u. a. den Ruf nach verschärften Gesetzen, mehr Überwachung und mehr Datenerfassung. Wer das tut, der sitzt einem ganz fatalen Irrglauben auf - und das geht auch an Sie, Herr Thümler -: Die offene Gesellschaft wird nicht verteidigt, indem wir auf noch mehr Überwachung setzen.
(Björn Thümler [CDU]: Das habe ich auch nicht gesagt!)
Sie wird vergiftet. Die Vorratsdatenspeicherung kann, wie Heribert Prantl ganz treffend bemerkt hat, nicht die Reaktion sein, wenn unsere Presse-freiheit angegriffen wird, da sie eben diese Freiheit selbst tendenziell gefährdet. - Das ist auch ein Teil der Wahrheit.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Björn Thümler [CDU]: Das ist Unsinn!)
Und es muss auch gesagt werden, Herr Thümler, dass es in Frankreich bereits Vorratsdatenspeiche-rung gibt. Und trotzdem konnten diese grausamen Anschläge dort nicht verhindert werden.
(Björn Thümler [CDU]: Das kann sie auch nicht! Sie kann aber zur Aufklä-rung beitragen! Das ist der Unter-schied!)
Wir als verantwortliche Landespolitiker dürfen uns weder von den Gegnern der Demokratie noch durch falsche Reflexe treiben lassen.
(Björn Thümler [CDU]: Haben wir auch gar nicht!)
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Mein Dank geht an dieser Stelle ausdrücklich an unseren Innenminister
(Christian Dürr [FDP]: Aber er ist da-für! Er hat sich doch gerade dazu ge-äußert!)
und an den Verfassungsschutz, deren Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter ausgesprochen profiliert und verantwortlich für uns und unseren Schutz im Ein-satz sind.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Wir geben unser Freiheit auch dann nicht auf, wenn sie angegriffen wird. Gerade in schwierigen Zeiten sind wir gefordert, diese wertvolle Freiheit und Demokratie selbstbewusst zu verteidigen.
Ja, meine Damen und Herren, es waren Islamis-ten, die unsere Werte von Frankreich ausgehend empfindlich angegriffen haben. Das Problem ist aber nicht der Islam.
(Björn Thümler [CDU]: Das sagt doch auch keiner!)
Die Probleme sind der gefährliche Fundamenta-lismus und das Phänomen der Radikalisierung insbesondere junger Menschen mit wenigen Per-spektiven. Oft sind es auch junge Männer mit kri-minellem Hintergrund, die sich im Gefängnis von falschen Versprechungen verführen lassen.
Stattdessen müssen wir weiterhin solche Projekte fördern, in denen mit ihnen geredet wird, in denen sie lernen, sich selbst mehr wertzuschätzen, so-dass sie nicht Opfer solcher und anderer Verfüh-rungen werden.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Die muslimischen Verbände in Deutschland be-fürchten das Anwachsen antimuslimischer Einstel-lungen. Und es ist doch bezeichnend, dass gerade dort antimuslimische Einstellungen am größten sind, wo die wenigsten Kontakte zu Muslimen be-stehen.
Daher kann und darf die Antwort nicht sein, dass sich Menschen voneinander abschotten oder ab-geschottet werden. Die Antwort darauf kann auch nicht das „Container“-Modell sein, wonach Kulturen unbehelligt und abgeschottet nebeneinanderher leben. Menschen müssen Vielfalt erleben können, um sie wertschätzen zu können: die Vielfalt der Presse, des Glaubens, unterschiedlicher Meinung und auch unterschiedlicher Lebensmodelle.
Das alles ist „Je suis Charlie“: eine Umarmung, keine Abgrenzung, Mut, aufeinander zuzugehen, und nicht Rückzug in die Angst vor dem scheinbar Unbekannten.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Meine Damen und Herren, das Gesagte gilt auch und gerade für unseren Umgang mit Menschen, die vor Kriegen und Krisen, vor Vertreibung und Verfolgung zu uns fliehen. Flüchtlinge verdienen die Chance, sich in der neuen Welt zu Hause zu fühlen. Sie haben ein Recht darauf, am gesell-schaftlichen Leben teilzuhaben.
Und sie müssen arbeiten können. Da, Herr Thümmler, bin ich Ihnen sehr dankbar für Ihre klaren Aussagen, die mir Hoffnung machen, dass wir zukünftig Seite an Seite darauf hinwirken, dass alle die Möglichkeit haben, zu arbeiten - indem wir das Asylbewerberleistungsgesetz kippen und den vollen Baukasten der Arbeitsförderung auch auf die Menschen anwenden, die bei uns sind.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen Nachbarn, die nicht so traumatisiert sind wie sie selbst. Deshalb müssen sie dezentral unterge-bracht werden. Sie müssen die Chance haben, diese Nachbarn kennenzulernen. Ihre Kinder müs-sen im Kindergarten Freunde werden, miteinander Fußball spielen und in der Schule miteinander lernen können. Wir wissen, dass die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, so groß ist wie nie.
Meine Damen und Herren, die Grüne-Fraktion schließt sich ausdrücklich dem Dank des Minister-präsidenten an die Kommunen an. Unsere Kom-munen in Niedersachsen sind großartig darin, die Unterbringung von Flüchtlingen zu organisieren. Sie leisten einen hervorragenden Anteil daran, Nachbarschaft zu ermöglichen. Aber sie könnten es noch viel besser, wenn das Asylbewerberleis-tungsgesetz endlich abgeschafft würde - da, Herr Thümler, setze ich nach Ihrer Rede auch auf Ihre Unterstützung im Bund -; denn dadurch würden unsere Kommunen erheblich entlastet werden. Wir würden es der Lehrerin aus Eritrea ebenso wie dem Ingenieur aus Syrien möglich machen, sich ebenso wie alle anderen hier im Land selbst um ihren Broterwerb und den ihrer Kinder zu küm-mern. Das ist nämlich ihr gutes Recht.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
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Auch andere Migrantinnen und Migranten und sozial Abgehängte müssen die Chance haben, an der Gesellschaft teilzunehmen. Nähe schafft Ver-ständnis - auf allen Seiten.
Das ist keine grüne Sozialromantik, sondern das belegen Studien, und das entspricht auch meiner ganz eigenen Erfahrung. Der Stadtteil in Lübeck, in dem ich groß geworden bin, war in den 70er-Jahren ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus. Wir haben mit den Kindern der türkischen Nach-barn gemeinsam das Ramadan-Ende gefeiert, und mein kleiner Bruder hat zusammen mit den Kin-dern der Boatpeople Fußball gespielt. Wir haben mit den Menschen, die mit den Booten aus Laos gekommen sind, gekocht und gegessen, und wir haben ihnen beim Ausfüllen ihrer Formulare gehol-fen.
In meiner Grundschule haben wir gemeinsam mit einer aufgeschlossenen Grundschullehrerin be-schlossen, in der zweiten Klasse drei türkische Jungen ohne deutsche Sprachkenntnisse aufzu-nehmen. Wir haben das bis zur vierten Klasse gemeinsam gemacht, und alle drei jungen Männer sind anschließend in Ausbildungs- und Arbeitsver-hältnisse gegangen. Sie stehen heute alle erfolg-reich im Berufsleben, und manchem von ihnen begegne ich auch noch in Lübeck.
Ich selbst habe dank dieses Miteinanders nicht in erster Linie die Probleme gesehen - die es auch gab -, sondern vielmehr die Bereicherung, die das für unsere eigene Sozialkompetenz bedeutet. Mei-ne Kinder habe ich in den 90er-Jahren in Nieder-sachsen darum auch bewusst in dem Kindergarten in Hessisch Oldendorf angemeldet, in dem der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund am größten war, weil ich weiß: Aus der Nähe erwächst die Chance, Verständnis füreinander zu entwi-ckeln.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Meine Damen und Herren, ich will aber gar nicht verhehlen: Für uns alle bleibt viel zu tun. Verschär-fungen sind die falschen Reflexe. Sie beschneiden und vergiften die Freiheit und können nie die Ant-wort sein, wenn eben jene Freiheit angegriffen wird.
„Je suis Charlie“ heißt, für eben diese Freiheit an-zutreten, sich zu ihr zu bekennen. Es ist eine Um-armung - nicht Abschottung, nicht Abgrenzung. Dieses Bewusstsein und diese Erkenntnis vereinen im Moment so viele von uns - nicht nur in Paris, sondern auch in Hannover, gestern in Braun-schweig, Osnabrück, Northeim und Hameln. Las-sen Sie uns daran festhalten und mit Mut weiter für unsere Toleranz und Vielfalt kämpfen und unsere offene Gesellschaft gemeinsam verteidigen!
Vielen Dank.
(Starker, anhaltender Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Frau Kollegin Piel. - Wir können die Besprechung zu Tagesordnungspunkt 2 nun schließen.
Wir kommen zu der gemeinsamen Resolution, um die wir heute die Tagesordnung erweitert haben. Sie trägt die Drucksachennummer 17/2765.
Da keine gesonderte Aussprache vorgesehen ist, werde ich den Inhalt der Resolution verlesen:
„‚Nous sommes Charlie‘ - Gegen den Hass - Ein Zeichen für Meinungsfreiheit und Toleranz
Der Landtag stellt fest:
Die Attentate auf die Redaktion des franzö-sischen Satire-Magazins Charlie Hebdo, die französischen Polizisten und auf den jüdi-schen Supermarkt in Paris waren barbari-sche Akte und Anschläge auf Demokratie, Meinungsfreiheit und auf vielfältige, toleran-te Gesellschaften insgesamt. Diese Grund-rechte, die in Europa so hart erkämpft wur-den, müssen gegen jegliche Angriffe vertei-digt werden. Die Menschen in Frankreich können sich dabei auch der Unterstützung ihrer niedersächsischen Freundinnen und Freunde gewiss sein. Parteiübergreifend verurteilen wir diese Attentate auf das Schärfste und fühlen mit den Opfern der ter-roristischen Anschläge und deren Angehöri-gen.
Wer die demokratischen Grundrechte, wie die Meinungsfreiheit, bekämpft oder auch nur infrage stellt, der stellt sich auch gegen unsere freiheitliche demokratische Grund-ordnung. Die Antwort auf solch menschen-verachtende Akte kann daher nur die Stär-kung der Meinungsfreiheit, der religiösen und kulturellen Vielfalt und unserer demo-kratischen Grundwerte sein. Wir wollen wei-terhin in einer Gesellschaft leben, in der man keine Angst davor haben muss, sich frei zu
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äußern und seine Religion oder Weltan-schauungen offen zu leben. Alles andere wäre eine Gefahr für unsere Demokratie, den Parlamentarismus, den Rechtsstaat und die Grundrechte insgesamt.
Der Anschlag auf die Journalistinnen und Journalisten und auf Menschen jüdischen Glaubens ist noch viel mehr. Er ist auch ein Prüfstein für unsere Demokratie. Wer als Reaktion auf die Geschehnisse in Paris ver-sucht, diese für populistische Ziele zu miss-brauchen, antisemitische oder antimuslimi-sche Ressentiments zu schüren, wer gegen Flüchtlinge hetzt, der gefährdet unsere freie und offene Gesellschaft. Auch diesen Be-strebungen stellen wir uns entschieden ent-gegen.
Der Kampf gegen den islamistischen Terro-rismus muss mit allen rechtsstaatlichen Mit-teln geführt werden. Zugleich müssen wir die gesellschaftliche und geistige Auseinander-setzung mit den Ursachen dieses Islamis-mus offensiv führen. Unser unerschütterli-cher Glaube an die Würde des Menschen, die Unveräußerbarkeit der Menschenrechte und die Kraft der Freiheit ist stärker als reli-giöser Fanatismus.
Unsere Gesellschaft bietet jedem die Frei-heit zur Kritik an Glaube, Kultur und Über-zeugung eines anderen. Sie gebietet aber auch, dem Andersgläubigen, dem Flüchtling, dem Fremden, und dem politischen Gegner mit Toleranz und Respekt gegenüberzutre-ten.“
Die Resolution ist unterzeichnet von allen vier Fraktionen des Landtages.
(Starker Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Geschäfts-ordnung sieht vor, dass wir über die Resolution abstimmen. Wir kommen daher zur Abstimmung.
Wer dieser Resolution seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Das war einstimmig. Ich danke Ihnen sehr.
(Beifall)
Ich rufe nun auf den
Tagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde
Für diesen Tagesordnungspunkt sind vier Themen benannt worden, deren Einzelheiten Sie der Ta-gesordnung entnehmen können.
Die in unserer Geschäftsordnung für den Ablauf der Aktuellen Stunde geregelten Bestimmungen setze ich bei allen Beteiligten, auch bei der Lan-desregierung, als bekannt voraus.
Ich eröffne die Besprechung zu
a) Gefahren des islamistischen Terrorismus in Niedersachsen wachsam begegnen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 17/2751
Ich erteile Herrn Kollegen Brunotte das Wort. Bitte!
Marco Brunotte (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Je suis Charlie“ ist wahrscheinlich das Zitat, das die Debatte heute Vormittag mit am meisten geprägt und bestimmt hat. Diese drei Wor-te sind ein Symbol für weltweite Solidarität mit den Opfern des Anschlags.
Sie machen uns deutlich, wie nahe die Bedrohung durch den Terror in Europa ist und wie sehr sich der Terrorismus, der sich teilweise sehr weit ent-fernt und abstrakt in Syrien oder im Irak abspielt, in der Mitte Europas befindet. Dieser Terrorismus stellt uns vor große Herausforderungen.
Wir haben uns auch in Niedersachsen immer wie-der mit dem Thema „Islamistischer Terrorismus“ in den Ausschüssen und im Parlament beschäftigt und müssen feststellen, dass wir mittlerweile 400 Salafisten in Niedersachsen haben und dass die Sicherheitsbehörden von bis zu 40 Ausreisern nach Syrien berichten.
Das macht deutlich, dass auch Niedersachsen Rekrutierungs- und Rückzugsgebiet für diesen Terror geworden ist, und es macht deutlich, dass wir auch in Niedersachsen eine abstrakte Gefähr-dungslage haben, mit der man sensibel umgehen muss.
Die Zahlen machen aber auch deutlich, dass die niedersächsischen Sicherheitsbehörden wissen, mit wem wir es zu tun haben. Sie machen deutlich, dass Polizei, LKA, Verfassungsschutz und - auch sie will ich hier besonders erwähnen - die Staats-anwaltschaft, bei der erste Ermittlungsverfahren anhängig sind, wissen, mit wem wir es zu tun ha-ben. Wolfsburg hat deutlich gemacht: Wir stehen
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denen, die sich diesen Gruppierungen zugehörig fühlen, eng auf den Füßen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Deswegen ist es, glaube ich, auch nicht ange-bracht zu kritisieren, was in Wolfsburg durch die Sicherheitsbehörden stattgefunden hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren der CDU, Sie können sich ja einmal von dem Kollegen Adasch erklären lassen, wie Polizeitaktik funktioniert. Ich glaube, dass sich das sehr deutlich gezeigt hat.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein wehrhafter Staat ist auch ein rechtstaatlicher Staat, der personell und materiell gut ausgestattete Si-cherheitsapparate garantiert, um mit ihnen vorge-hen zu können. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, man muss auch aufpassen, dass man nicht in Reflexe verfällt, die eine Sicherheit sugge-rieren, die aber nur scheinbar existiert. Das gilt für die Debatte der Vorratsdatenspeicherung. Auch das ist in der Diskussion vorhin deutlich geworden. Eine Vorratsdatenspeicherung wie in Frankreich hätte die Anschläge nicht verhindert. Sie erleichtert vielleicht die Ermittlungsarbeit der Polizei im Nach-hinein, aber sie hat deutliche Grenzen.
Was mich aber sehr irritiert hat, Herr Kollege Thümler - leider scheint er nicht hier zu sein -,
(Björn Thümler [CDU]: Hier ganz hinten!)
war Ihre Aussage zu den Datenspeicherungen beim Verfassungsschutz. Wir haben in einem um-fangreichen Prüfungsakt durch die Taskforce fest-stellen müssen, dass es beim Verfassungsschutz 3 656 Speicherungen mit Extremismusbezug zum Ausland und Islamismus gab. Ich möchte Ihnen eine Zahl nennen, die Sie vielleicht doch noch einmal nachdenklich machen sollte bei dem, was Sie kritisiert haben: Darunter befinden sich - das ist auch durch die Taskforce kritisiert worden - Daten von 100 Personen, die allein durch den Besuch von Freitagsgebeten in diese Datenbank geraten sind. Er gehört aber zur verfassungsrechtlich ge-schützten freien Religionsausübung, die damals stattgefunden hat. Sie kritisieren an dieser Stelle, glaube ich, fälschlicherweise das Verhalten der Taskforce. Wir meinen, es war richtig, dass diese Speicherungen gelöscht wurden.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, überle-gen Sie das bitte auch bei Ihrer Akteneinsicht, die sehr umfassend ist. Sie wird die Feststellungen der Taskforce nicht korrigieren, aber sie blockiert das Haus und kostet wichtige Zeit, die wir aktuell an anderer Stelle bräuchten.
(Jens Nacke [CDU]: Das Parlament behindert das Haus?)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Landesregierung zeigt auch, dass sie nicht nur den Sicherheitsapparat aktiviert, sondern die Antiradi-kalisierungsstelle gegen Salafisten nimmt ihre Tätigkeit auf. Sie ist ein wichtiges Element, um Prävention, Beratung Angehöriger und Ausstieg zu gewährleisten und um mit traumatisierten und radi-kalisierten Rückkehrern umzugehen. Sie stellt Menschen aber nicht unter Generalverdacht, wie das unter der Regierungszeit von CDU und FDP stattfand.
(Beifall bei der SPD)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müs-sen uns, wenn wir uns mit den Ursachen von Ter-rorismus beschäftigen, auch überlegen, wie die Teilhabe in unserer Gesellschaft aussieht. Garan-tieren wir jungen Menschen einen Platz in unserer Mitte? Leben wir Integration und Willkommenskul-tur? - Ich glaube, das ist ein großer Unterschied zu vielen anderen Ländern. Das macht diese Landes-regierung durch tägliches Handeln mehr als deut-lich.
(Beifall bei der SPD)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Joachim Gauck hat gesagt:
„Wir schenken euch nicht unsere Angst. Euer Hass ist unser Ansporn.“
Das ist der Ansporn für uns, täglich aufs Neue im Verhältnis zwischen Sicherheit, Freiheit und rechtsstaatlichem Handeln ein sicheres Nieder-sachsen zu garantieren. Hierbei ist die Landesre-gierung gut aufgestellt, und wir bekämpfen täglich Terrorismus von Islamisten in unserem Land.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Kollege Brunotte. - Für die CDU-Fraktion hat nun Frau Kollegin Jahns das Wort. Bitte!
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Angelika Jahns (CDU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der islamistische Extremismus ist bereits des Öfteren Thema hier im Plenum gewesen, fast immer aller-dings auf unsere Initiative hin. Die schrecklichen Anschläge in Paris, das Morden von Boko Haram in Nigeria und die Festnahmen in meiner Heimat-stadt Wolfsburg waren nun allerdings scheinbar auch für die SPD-Fraktion Anlass, sich endlich des Themas anzunehmen.
(Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Was soll das denn?)
Das begrüße ich! Ich begrüße auch den Titel der Aktuellen Stunde, wonach wir den Gefahren des islamistischen Terrorismus auch in Niedersachsen wachsam begegnen wollen. Für morgen haben wir eine Dringliche Anfrage dazu eingereicht, ob in Niedersachsen wirklich alles getan wird, um dem islamistischen Terrorismus wachsam zu begegnen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, hier in Niedersachsen und in Deutschland haben wir bis-lang Glück gehabt, dass alle Anschlagsversuche und -planungen, die es bereits gab, gescheitert sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns zurück-lehnen können und in diesen Bereichen nichts tun, weil das für das eigene Gewissen besser wäre.
Die Sicherheitsbehörden leisten eine hervorragen-de Arbeit. Dies dürfte einer der Gründe sein, wa-rum wir hier in Niedersachsen bisher keine Opfer zu beklagen haben.
Opfer aus Niedersachsen gibt es aber trotzdem, und zwar mehrere junge Männer - auch aus Wolfsburg -, die in Syrien und im Irak im religiösen Wahn gestorben sind. Auch in Niedersachsen weinen schon Mütter um ihre Söhne.
An dieser Stelle muss ich aber leider immer noch darauf hinweisen, dass es in Niedersachsen seit über einem Jahr auf eine Entscheidung dieser Landesregierung hin keine Beratung für Angehöri-ge gegen die Radikalisierung ihrer Söhne, Männer und Freunde mehr gibt. Auch wurde ein vorhande-nes Handlungskonzept zur Bekämpfung des Is-lamismus ersatzlos gestrichen, weil es Ihnen miss-liebig war, dass dieses anerkannte Konzept von der Vorgängerregierung war.
(Zustimmung bei der CDU)
Das Verleumden fremder Politik ist aber kein Er-satz für eigenes Versagen oder für Untätigkeit. Es ist ein politisches Versäumnis dieser Landesregie-rung, die alle Beratungsansätze, die es hier beim Verfassungsschutz gab, ersatzlos gestrichen hat. Die einzigen beiden Gründe hierfür waren Revan-chismus gegenüber Innenminister Uwe Schüne-mann und das Ignorieren des Problems.
Bitte nennen Sie uns heute hier endlich einen Termin, an dem es z. B. für die Stadt Wolfsburg eine ausreichende Beratung für Angehörige gibt, um zu zeigen, dass Sie wachsam sind! Zwei Halb-tagsstellen in Bremen reichen dafür nicht aus. Sie reichen nicht einmal für Bremen. Deswegen be-ginnt der dortige Verfassungsschutz nun ein eige-nes Antiradikalisierungsprojekt, etwas, was wir hier in Niedersachsen längst hatten.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ein weiteres Beispiel mangelnder Wachsamkeit ist der Punkt der Datenspeicherung im Verfassungs-schutz. Sie möchten dort eine große Zahl von Da-tensätzen löschen, weil es sich bei diesen Verbin-dungsdaten ja um die Daten eines Friseurs eines Verdächtigen handeln könnte. Das waren die Wor-te des Innenministers in der Vergangenheit. Der Verfassungsschutz sah das zumindest bisher noch anders und wollte diese Daten behalten. In der jetzigen Situation mache ich mir mehr Sorgen dar-über, dass der Verfassungsschutz zu wenige Da-ten sammelt, als dass er zu viele sammelt. Hier-durch könnte unser aller Sicherheit gefährdet wer-den.
(Beifall bei der CDU - Zurufe von Hel-ge Limburg [GRÜNE] - Unruhe - Glo-cke der Präsidentin)
Ich hoffe auch, dass Ihre Entscheidungen zur Ein-schränkung der Videoüberwachung oder zur Strei-chung anderer polizeilicher Eingriffsrechte nicht zum Bumerang werden. Das wäre ein schwerer Fehler, nur um den linken Rand bei den Grünen ruhigzustellen.
All die Maßnahmen aus Ihrem Koalitionsvertrag, die den Polizistinnen und Polizisten die Arbeit schwerer machen und diese unter Generalver-dacht stellen, sollten von Ihnen überdacht werden, wenn Sie wirklich wachsam sein wollen.
(Beifall bei der CDU - Glocke der Prä-sidentin)
Zur Wachsamkeit gehört auch, dass man Anzei-chen für Extremismus und die Sorgen der Bürge-rinnen und Bürger ernst nimmt und diese genauso wenig verharmlost oder dramatisiert werden.
Ich verstehe auch nicht, Herr Minister Pistorius, dass Sie zu einer Pressekonferenz eingeladen
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haben, um mitzuteilen, von einer bestimmten Per-son in Wolfsburg gehe keine konkrete Gefahr aus, sie müsse nicht verhaftet werden. - Keine drei Stunden später erfolgte die Verhaftung!
Herr Minister Pistorius, welchen Sinn hatte diese Pressekonferenz? Neben anderen Medien titelte die FAZ nach Ihrem Statement „Erklärungsnot in Wolfsburg“. Wollten Sie Ayoub B. in Sicherheit wiegen, damit er nicht flieht, oder kannten Sie gar nicht die aktuellen Ermittlungsstände, als Sie Ihre Äußerungen dort zur Beruhigung aller machten?
Diese Pressekonferenz war jedenfalls kein Zeichen von Wachsamkeit.
(Beifall bei der CDU)
Ich möchte weder hier noch aus dem Irak oder aus Syrien hören, dass Menschen sterben,
(Glocke der Präsidentin)
weil wir hier nicht wachsam genug waren. Für die-se Wachsamkeit müssen wir uns gemeinsam ein-setzen. Ich hoffe, dass nun auch in Niedersachsen alles Nötige getan wird, um die Gefahren für unse-re Bevölkerung frühzeitig zu erkennen und zu ver-hindern.
Die Toten von Paris und aus Nigeria dürfen kein Anlass zu Lippenbekenntnissen sein, sondern diese Ereignisse müssen dazu führen, dass wir gemeinsam etwas unternehmen, damit diese Per-versionen des Islams keine Zukunft haben.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Sie müssen zum Schluss kommen, Frau Kollegin!
Angelika Jahns (CDU):
Seien Sie wirklich wachsam gegenüber diesem extremistischen Terrorismus!
(Beifall bei der CDU und Zustimmung bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Frau Jahns. - Für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen hat nun Herr Kollege Belit Onay das Wort.
Belit Onay (GRÜNE):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! Vor knapp zehn Tagen sind in Paris Menschen nur deshalb ermordet wor-den, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch genommen haben. Menschen sind ermordet worden, weil sie Polizistin bzw. Polizist im Dienst waren. Menschen sind ermordet worden, weil sie Juden waren.
Diese Attentate inmitten Europas haben uns scho-ckiert, sie haben Menschenleben gekostet, sie haben uns verstört. Nun stehen wir vor diesen Attentaten und suchen und ringen nach Antworten, nach Reaktionen, wie wir solchen Verbrechen begegnen können, Verbrechen, die auf unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung, auf unsere Freiheit abgezielt haben. Die Antwort - das muss man hier in aller Deutlichkeit sagen - auf diese Attentate, auf diese Morde kann nur sein, dass wir unsere Freiheit, unsere freiheitliche Gesellschafts-ordnung vehement und um jeden Preis verteidi-gen.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD sowie Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)
Wir dürfen unsere Freiheit auch nicht vergessen, wenn wir über sicherheitspolitische Maßnahmen diskutieren. Auch an dieser Stelle möchte ich da-her noch einmal ganz klar und deutlich sagen: Die Vorratsdatenspeicherung wird fälschlicherweise als ultimative Lösung angepriesen. Sie ist aber ein Einschnitt in die Grundrechte. In Frankreich haben wir leider gesehen, dass sie nicht dazu gedient hat, die Morde zu verhindern. Die Attentäter waren im Fadenkreuz der Ermittler, sie standen auf zig Listen, auf Terrorlisten, auf Verbotslisten usw., usf.
(Zuruf von den GRÜNEN: Sehr rich-tig!)
Sie waren sozusagen im Fokus der Ermittler. Aber das hat leider nichts gebracht.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Onay, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dürr zu?
Belit Onay (GRÜNE):
Ja, gern.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Bitte!
Christian Dürr (FDP):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr Kollege Onay, bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen in der Debatte über die Vorratsdaten-speicherung will ich aber, weil Sie ja gerade auch ein Stück weit für die rot-grüne Koalition gespro-chen haben, noch einmal fragen, was Sie dazu
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sagen, dass laut Neuer Presse Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius eine Neuauflage der sogenannten Vorratsdatenspeicherung befürwor-tet. Müsste es da nicht eine klare Antwort der Grü-nen gegenüber dem Koalitionspartner geben?
(Beifall bei der FDP - Helge Limburg [GRÜNE]: Hören Sie ihm doch zu!)
Belit Onay (GRÜNE):
Vielen Dank, Herr Dürr, für die Frage. Der Funke der Wahrheit entspringt dem Zusammenprall der Ideen, hat einmal einer gesagt.
(Lachen bei der FDP und bei der CDU)
Wir streiten uns auch gerne innerhalb der Koaliti-on. Aber ich sehe auch gar keine gesetzliche Grundlage für die Vorratsdatenspeicherung, so-dass sich eine Diskussion darüber und auch die Forderung danach zunächst einmal erübrigen.
Aber, Herr Dürr, es trifft sich gut, dass Sie sich gerade zu Wort gemeldet haben. Denn zu Ihnen wollte ich auch kurz etwas sagen. Sie haben vorhin in Ihrem Beitrag das Staatsbürgerschaftsrecht kurz angesprochen. Dazu möchte ich nur noch einmal erwähnen: Bei der Idee, dass wir quasi Menschen ausbürgern, die als Islamisten auffällig werden, ist nicht nur das Problem, dass wir uns unserer Ver-antwortung entziehen. Denn wir dürfen nicht ver-gessen, dass diese Personen hier, innerhalb unse-rer Gesellschaft, zu dem geworden sind, was sie heute sind.
(Helge Limburg [GRÜNE]: Richtig!)
Das Zweite ist: Wenn wir sie dann vermutlich sogar noch ausweisen oder abschieben würden, würden wir Terroristen sogar noch ins Ausland exportieren.
(Zuruf von den GRÜNEN: Ja! - Chris-tian Dürr [FDP]: Das habe ich nicht gesagt!)
Das kann, glaube ich, nicht die Lösung sein, meine sehr geehrten Damen und Herren.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Onay, Sie haben jetzt auch bei dem Kollegen Adasch den Wunsch hervorgerufen, eine Frage zu stellen.
Belit Onay (GRÜNE):
Ich mache jetzt erst kurz weiter. Ich habe leider nicht mehr so viel Zeit, aber doch noch einiges zu sagen.
(Filiz Polat [GRÜNE]: Das ehrt dich!)
- Aber das ehrt mich sehr.
(Heiterkeit bei den GRÜNEN)
Wir brauchen aber klare Analysen. Wenn wir Ant-worten finden wollen, dann brauchen wir eine klare Analyse dessen, was gerade in Paris passiert ist. Da lohnt ein Blick in die Biografien, in die Lebens-verläufe der dortigen Täter.
Wenn wir uns die Biografien einmal genau an-schauen, dann werden wir merken, dass der oft gesagte Satz, der Islam habe nichts mit diesen terroristischen Taten zu tun, nicht bloß eine poli-tisch korrekte Floskel ist. Wenn wir uns diese Bio-grafien, die Lebensverläufe dieser drei Männer ansehen, dann sehen wir ein vollständiges, ein völliges Scheitern. Wir sehen gescheiterte Fami-lien, wir sehen die gescheiterten Existenzen, wir sehen drei junge Männer, die nach Halt, Perspekti-ve, nach Ausblick suchen. Wir sehen einen Wer-degang von der Ausweglosigkeit hin in die Radika-lisierung, meine sehr geehrten Damen und Herren. - Leider eine Geschichte von so vielen jungen Menschen, teilweise leider auch in Niedersachsen.
Darauf muss auch Politik Antworten finden. Des-halb freue ich mich sehr, dass die Sozialministerin in Kooperation mit den muslimischen Dachverbän-den eine Präventionsstelle als Hilfestellung für die Betroffenen und ihre Angehörigen geschaffen hat.
Aber ein Blick in die Biografien zeigt auch, dass insbesondere zwei der Täter gerade im französi-schen Justizvollzug radikalisiert worden sind. Des-halb möchte ich hier noch einmal ausdrücklich erwähnen, dass im vergangenen Oktober 2014 die Justizministerin
(Glocke der Präsidentin)
die muslimische Seelsorge intensiv ausgebaut hat mit 36 Seelsorgerinnen und Seelsorgern, dass sie Bürokratie abgebaut hat, sodass der Kontakt zu den Inhaftierten intensiviert und die Arbeit verbes-sert werden kann.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu-stimmung bei der SPD - Helge Lim-burg [GRÜNE]: Sehr gut!)
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Das ist auch der springende Punkt, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wir brauchen den Zusammenhalt, wir brauchen den Schulterschluss, wir brauchen die Einigkeit auch mit den muslimi-schen Dachverbänden. Denn die Trennlinie ver-läuft nicht zwischen Abendland und Muslimen, sie verläuft zwischen Radikalen und Demokraten, sie verläuft zwischen Terroristen und dem Rechts-staat, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Deshalb dürfen wir uns auch nicht Positionen an-biedern, die genau diese Trennlinie, die nicht vor-handen ist, darstellen oder verschärfen wollen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Herr Dürr, darin stimme ich mit Ihnen völlig über-ein: Es ist nicht hinzunehmen, dass diese De-monstration am gestrigen Montag abgesagt wer-den musste. Ich halte es da mit dem Satz: Ich mag zwar verdammen, was ihr sagt, aber ich setze mich mit allem dafür ein, dass ihr es sagen dürft.
(Glocke der Präsidentin)
Aber das darf nicht dazu führen, dass wir Positio-nen übernehmen. Denn es ist überhaupt keine Frage mehr, ob das noch bürgerlich ist, was dort gesagt und propagiert wird, oder schon rassistisch.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Letzter Satz, Herr Onay!
Belit Onay (GRÜNE):
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glau-be, dass wir da eine klare Linie brauchen.
Ich freue mich deshalb, dass wir hier in Nieder-sachsen, in unserer Landeshauptstadt Hannover 20 000 Menschen auf den Straßen hatten, die ein klares Zeichen gesetzt haben. Denn unsere Ant-wort auf Rassismus und Terrorismus kann nur sein: Mehr Einigkeit und Recht und Freiheit - und nichts anderes, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Vielen Dank.
(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Onay. - Für die FDP-Fraktion hat nun Herr Kollege Oetjen das Wort. Bitte!
Jan-Christoph Oetjen (FDP):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die islamistische Terrorgefahr ist sicherlich eine der größten Herausforderungen für die Sicherheit in Deutschland, aber eben auch für die Offenheit unserer Gesellschaft.
Ich empfinde es als alarmierend und als eine Nie-derlage der Demokratie, wenn Demonstrationen, wie in Dresden, abgesagt werden müssen, auch wenn die Inhalte, die dort propagiert werden, von mir in keiner Weise geteilt werden und ich sie ab-lehne.
Aber schnell und reflexhaft wird nach den An-schlägen wie in Paris immer nach neuen Überwa-chungsmethoden wie der Vorratsdatenspeicherung gerufen. Das haben wir auch dieses Mal wieder erlebt.
Ich möchte hier deutlich machen, dass die Vor-ratsdatenspeicherung - das hat gerade auch der Kollege Onay noch einmal gesagt - in keiner Weise die Anschläge von Paris hätte verhindern können. Sie konnte sie in Frankreich auch nicht verhindern; denn in Frankreich gibt es eine Vorratsdatenspei-cherung. Sicherheitsbehörden sagen, die Strafver-folgung wäre mit der Vorratsdatenspeicherung viel leichter, und Netzwerke könnten aufgedeckt wer-den. Ja, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist sicherlich möglich. Aber das wäre beispielsweise auch mit dem Quick Freeze, das von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorgeschlagen wur-de, möglich gewesen, ohne die Daten von Abermil-lionen anlasslos vorzuhalten. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen, auch an die Adresse der CDU.
(Beifall bei der FDP)
Statt zusätzliche Überwachungsmaßnahmen zu fordern, sollten wir lieber dafür sorgen, dass die Gesetze, die wir haben, ausreichend angewandt werden können und dass dafür ausreichend und gut qualifiziertes und ausgebildetes Personal vor-handen ist.
Aus meiner Sicht sind auch die Vorschläge, die von Bundesjustizminister Maas zu einer Gesetzes-vorschrift gegen die Terrorismusfinanzierung ge-macht wurden, richtig. Wir warten insoweit auf konkrete Vorschläge. Solche Ansätze sind sicher-lich zu unterstützen.
Aber auch in Niedersachsen gibt es viel zu tun. Wir müssen uns verstärkt darum kümmern, muslimi-sche Geistliche auszubilden, um sicherzustellen, dass die Religion nicht von Extremisten miss-braucht wird. Mich macht es nachdenklich zu wis-sen, dass muslimische Geistliche oftmals aus an-
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deren Ländern stammen, sogar aus anderen Län-dern zu uns entsandt werden und die deutsche Gesellschaft gar nicht kennen. Dieser Zustand kann uns doch nicht zufrieden machen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Das öffnet Extremisten Tür und Tor, Religion zu missbrauchen.
(Beifall bei der FDP)
Das gilt, verehrter Kollege Onay, auch für die Geistlichen in den Justizvollzugsanstalten. Wir wissen, dass die Brüder Kouachi im Gefängnis radikalisiert wurden. Hier müssen wir stärker hin-sehen. Wir müssen schauen, welche Geistliche in den Justizvollzugsanstalten eingesetzt werden, und wir müssen darauf achten, dass auch diese Geistlichen unsere republikanischen Werte und die freiheitliche demokratische Grundordnung verteidi-gen.
Aber ich erwarte auch von den Moscheegemein-den in Niedersachsen und in Deutschland Präven-tionskonzepte, die sich damit auseinandersetzen, wie es gelingen kann, junge Menschen von einem Abdriften in den Extremismus abzuhalten. Es ist wichtig, dass beispielsweise die Imame in Frank-reich, aber auch die muslimischen Geistlichen in Deutschland nach den Anschlägen sofort gesagt haben „Das ist nicht unser Islam, der das zu vertre-ten hat!“ und sich klar davon distanziert haben.
(Glocke der Präsidentin)
Das ist wichtig. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es muss das Alltagsgeschäft in den Moscheen werden, die jungen Menschen davon abzuhalten, sich in die Hände solcher Irrlichter zu begeben.
(Beifall bei der FDP)
Das Land Niedersachsen hat sich ja beim Aufbau-en neuer Strukturen in Sachen Beratung und Prä-vention sehr schwergetan. Ich empfinde das als dramatisch. Die Kollegin Jahns hat hier recht. Herr Minister Pistorius, es ist zu viel Zeit verstrichen, bis nach dem Auslaufen des Konzepts zur Extremis-musprävention beim niedersächsischen Verfas-sungsschutz, das gut gelaufen ist, die Anschluss-strukturen im Sozialministerium geschaffen wur-den. Familien, die gesehen haben, dass ihre Söh-ne in den Extremismus abgleiten, waren über Mo-nate, ja über Jahre ohne Ansprechpartner, ohne die Möglichkeit der Beratung in dieser schwierigen Situation. Es ist klar: Die zwei halben Stellen in Bremen reichen dafür nicht aus.
(Glocke der Präsidentin)
Ich habe den Eindruck, dass das Sozialministerium derzeit mit dieser Aufgabe noch völlig überfordert ist.
(Jörg Bode [FDP]: Das sehe ich auch so!)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nach den An-schlägen von Paris gab es weltweite Solidarität. Viele Staatschefs und Regierungsmitglieder haben sich gemeinsam untergehakt und eingereiht und - - -
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Kollege, auch Sie müssen zum Schluss kommen!
Jan-Christoph Oetjen (FDP):
Das werde ich, Frau Präsidentin. - Sie haben sich gemeinsam untergehakt, für Meinungsfreiheit ge-stritten und „Je suis Charlie!“ gerufen. Ich sage hier sehr deutlich: Nicht an den Worten soll man sie messen, sondern an den Taten! - Ich finde es spannend, dass Vertreter der Regierungen der Türkei, von Russland und von afrikanischen Staa-ten dort mitgelaufen sind, die in ihren Ländern die Meinungsfreiheit nicht gerade hochhalten.
Lassen Sie uns gemeinsam als Demokraten dafür streiten, dass Meinungsfreiheit, dass unsere re-publikanischen Werte, dass die freiheitliche demo-kratische Grundordnung geachtet werden!
Vielen Dank.
(Lebhafter Beifall bei der FDP, bei der CDU und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Kollege. - Für die Landesregie-rung hat nun Herr Innenminister Boris Pistorius das Wort. Bitte!
Boris Pistorius, Minister für Inneres und Sport:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren! Lassen Sie mich ange-sichts der furchtbaren Ereignisse von Paris eines vorweg sagen - der Ministerpräsident hat es heute Morgen auch schon zum Ausdruck gebracht -: Die Anschläge haben uns schwer schockiert. Allen Angehörigen der Opfer und der Redaktion gilt un-ser tiefes, aufrichtiges Mitgefühl. Die Taten waren menschenverachtend - einerseits weil sie das Le-ben unschuldiger Menschen gekostet haben, an-dererseits weil speziell der Anschlag auf Charlie Hebdo auch ein Anschlag auf unsere Werte war.
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Er zielte auf die Pressefreiheit, ein besonders ho-hes Gut unserer Verfassung und ein hohes Gut, ohne das unsere freiheitliche Gesellschaft nicht funktionieren würde. Auch deshalb machen uns die Anschläge von Paris tief betroffen.
Die aktuelle Situation für politische Zwecke jedwe-der Art zu nutzen, halte ich deshalb auch für klein-geistig und in Teilen sogar gefährlich. Wir haben es mit einer ernsten Lage zu tun, in der wir alle gehalten sind, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Schnell kann durch eine unbedachte Äu-ßerung oder Indiskretion an der falschen Stelle die Sicherheit gefährdet werden. Besonnenheit ist das Gebot der Stunde und nicht Aktionismus.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Eines gilt aber vor Paris genauso wie nach Paris: Wir haben es mit einer komplexen sicherheitspoli-tischen Lage zu tun. In Panik auszubrechen oder übereilt alle möglichen Ängste heraufzubeschwö-ren oder zu bestätigen, ist der falsche Weg bzw. hilft genau den Falschen. Auch der Ruf nach neu-en und schärferen Sicherheitsgesetzen bringt uns nicht wirklich weiter.
Ich kann als zuständiger Minister für Niedersach-sen sagen, dass die Sicherheitsbehörden hier bei uns ihren Job - sowohl vor als auch nach den An-schlägen - vorbildlich erfüllen. Vor allem ihnen gilt heute mein besonderer Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil es zweimal angesprochen wurde, ein Wort zu den Datenlö-schungen beim Verfassungsschutz sagen. Wir haben es mit 1 422 zur Löschung empfohlenen Datensätzen zu tun, davon 980 im Bereich Is-lamismus und davon wiederum 550 beanstandete, die zu löschen wären. Nach einer vorläufigen Schätzung ist von den beanstandeten 550 Da-tensätzen ca. die Hälfte, also 275, dem sogenann-ten Salafismus zuzuordnen. Von diesen 275 Da-tensätzen wiederum betrafen ca. 200 die Fallkons-tellation „Online-Studierende der Islamschule Braunschweig“. - Das ist der Stand der Dinge. Gelöscht ist noch gar nichts. Alle Datensätze sind vorhanden und gesperrt, meine Damen und Her-ren.
Wir wissen seit Längerem, dass sich in Nieder-sachsen einige Brennpunkte der islamistischen Szene gebildet haben. Neben Hannover und Hil-desheim ist dies vor allem der Großraum Braun-schweig. Insbesondere aus dem Raum Wolfsburg stammt ein Großteil der Syrien-Reisenden aus Niedersachsen, die wir besonders wachsam be-obachten. Dies sind meist junge Menschen, die sich radikalisieren und von denen, insbesondere wenn sie von Kampfhandlungen aus Syrien oder dem Irak zurückkehren, eine Gefahr ausgeht.
Diese Gefahr ist seit Paris gefühlt näher an uns herangerückt, war aber immer schon da, meine Damen und Herren. Davon habe ich an dieser und an anderer Stelle mehrfach berichtet. In Deutsch-land besteht nach übereinstimmender Bewertung der Sicherheitsbehörden bereits seit einiger Zeit eine höhere abstrakte Gefährdung, die sich jeder-zeit auch in Form von Anschlägen konkretisieren könnte, wie wir in Paris gesehen haben. Derzeit allerdings liegen den Behörden diesbezüglich überall keine konkreten Erkenntnisse vor. Ich wünschte, dass sich die CDU-Fraktion hier im Nie-dersächsischen Landtag ein klein wenig an der Besonnenheit und Sachlichkeit ihres Bundesin-nenministers in dieser Frage orientieren würde.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wir stellen also durch die Anschläge von Paris keine Veränderung der grundsätzlichen Gefähr-dung fest. Gleichwohl können diese Ereignisse aber auch als Initial für in Deutschland lebende tatgeneigte Personen wirken. Vor diesem Hinter-grund, meine Damen und Herren, wurden nach den Anschlägen von Paris aufgrund bestehender Konzepte bundesweit abgestimmte polizeiliche Sofortmaßnahmen eingeleitet. Unter anderem wurde wegen der Veröffentlichung der Karikaturen Kontakt zu den Medien aufgenommen. Auch wur-den in bestimmten Bereichen die Objektschutz-maßnahmen intensiviert.
Mehr als 600 Islamisten aus Deutschland sind nach Erkenntnislage der Bundessicherheitsbehör-den inzwischen in Richtung Syrien und Irak ausge-reist, um dort - so die Vermutung - an Kampfhand-lungen teilzunehmen. Ob sich diese Personen tatsächlich in Syrien aufhalten oder aufgehalten haben, ist nicht in allen Fällen bekannt.
(Unruhe - Glocke der Präsidentin)
Aufgrund der dynamischen Lageentwicklung vor Ort haben wir es auch weiterhin mit einer steigen-den Tendenz zu tun. Etwa ein Drittel der ausge-reisten Personen ist zwischenzeitlich zumindest zeitweise nach Deutschland zurückgekehrt. Die Mehrzahl dieser Rückkehrer hat sich wohl nicht
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aktiv an Kampfhandlungen vor Ort beteiligt. Zu etwa 35 Personen liegen Erkenntnisse vor, wo-nach sie sich aktiv im bewaffneten Kampf in Syrien oder im Irak beteiligt haben. Zu ca. 60 Personen liegen Hinweise vor, dass diese in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen sind.
Auch in Niedersachsen sind steigende Zahlen zu verzeichnen. So reisten bislang 40 Personen nach Syrien aus, um sich mutmaßlich am aktiven Kampf zu beteiligen. Sowohl die Anzahl der vermutlichen im Dschihad Getöteten als auch die Zahl der Rückkehrer nach Niedersachsen bewegt sich nach den aktuellen Kenntnissen jeweils im niedrigen einstelligen Bereich.
Wie Sie wissen, hat das LKA bereits im letzten Jahr in Wolfsburg einen Rückkehrer aus Syrien festgenommen. Genau wie die Verhaftung letzte Woche ist dies ein Beleg für den konsequenten Einsatz der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Diese Maßnahme ist trotz des öffentlich gewordenen Sachverhaltes gelungen. - Keine leichte Situation - insbesondere für die Kräfte vor Ort!
Weil die Pressekonferenz letzte Woche immer wieder angesprochen wurde: Es gab an diesem Morgen einen zweiseitigen, sehr reißerisch aufge-machten Bericht der Bild-Zeitung. Der Neuigkeits-wert war überschaubar. Gleichzeitig aber hatten wir verständlicherweise eine unüberschaubare Zahl von Presseanfragen, die einzeln zu beantwor-ten und gleichzeitig zu verbinden mit dem Wunsch nach O-Tönen unmöglich war. Deswegen haben wir uns dazu bemüßigt gefühlt, eine kurze Presse-konferenz einzuberufen. Dort haben wir dann dar-gestellt, dass die Berichterstattung der Bild-Zeitung zum Teil unzutreffend ist, zum einen Teil übertrie-ben und zum anderen Teil nicht wirklich aktuell.
In dieser Pressekonferenz wurde dann nach den einzelnen Personen gefragt. Jetzt frage ich Sie, meine Damen und Herren. Hätte ich oder hätte Herr Kolmey in dieser Pressekonferenz erklären sollen: Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Frage. Heute Abend um 18.45 Uhr wird ein SEK in der Straße XY in Wolfsburg stehen und jemanden verhaften? - Meine Damen und Herren, das ist doch absurd!
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Helge Limburg [GRÜNE]: Richtig! - Unruhe bei der CDU)
Das ist doch wirklich an Absurdität nicht mehr zu überbieten! Verantwortungsvoller Umgang mit derartigen Belangen,
(Unruhe - Glocke der Präsidentin)
noch dazu in einem Verfahren des Generalbun-desanwaltes, sieht anders aus, meine Damen und Herren!
(Ulf Thiele [CDU]: Sie konnten das Wasser nicht halten! Das ist das Prob-lem! - Weitere Zurufe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Einen Moment, Herr Minister! - Ich darf um etwas Ruhe bitten.
(Jens Nacke [CDU]: Sie wollten doch nur ins Fernsehen! Das ist doch al-les!)
Boris Pistorius, Minister für Inneres und Sport:
Sie hören nicht zu.
(Anhaltende Unruhe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Moment, bitte!
Boris Pistorius, Minister für Inneres und Sport:
Sie hören nicht zu. Herr Nacke, wenn Sie gerne ins Fernsehen kommen, müssen Sie nicht anderen unterstellen, dass sie es nötig hätten. Bei aller Freundschaft!
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Lachen bei der CDU und bei der FDP)
Meine Damen und Herren, aktuell ermittelt das Landeskriminalamt Niedersachsen in 17 Verfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat oder Mit-gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Ich füge noch einmal hinzu: Auch im Falle des Festge-nommenen ging es nicht um aktuell in der Vorbe-reitung befindliche Anschläge, sondern um die Erfüllung des Straftatbestandes nach § 89 a bzw. b, nämlich im Ausland an Kampfhandlungen teil-zunehmen bzw. sich auf diese vorbereiten zu las-sen. Das ist der Straftatbestand, um den es ging.
Zur Prävention ist - da die Redezeit schon überzo-gen ist - alles gesagt. Die Projekte sind auf dem Weg. Sie sind initiiert. Der Verfassungsschutz klärt auf und berät nach wie vor in Niedersachsen. Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund, hier
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eine übertriebene Sorge an den Tag zu legen. Die Sicherheitsbehörden, die Präventionsstellen, die Beratungsstellen leisten eine hervorragende Ar-beit. Wir alle sollten wieder ein klein wenig die Temperatur herunterfahren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Minister. - Es gibt den Antrag von Frau Kollegin Jahns auf zusätzliche Redezeit. Sie haben um knapp vier Minuten überzogen. - Frau Jahns, Sie erhalten für drei Minuten das Wort.
(Johanne Modder [SPD]: Dadurch wird es nicht besser! - Jens Nacke [CDU] - zur SPD -: Ihr habt zu viel ge-redet!)
Angelika Jahns (CDU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Pistorius, ich denke, das Thema ist ernst genug, und wir sind alle sehr betroffen sowohl über diese Ereignisse der letzten Wochen in Paris als auch über die notwendig gewordenen Verhaftun-gen in Wolfsburg.
Ich möchte Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass wir selbstverständlich nicht gefordert haben, dass Sie bei Ihrer Konferenz, die Sie um 16 Uhr abgehalten haben, Daten oder Informationen preisgeben, die letztendlich die Verhaftung verhin-dert hätten oder die für den Betroffenen eine War-nung hätten sein können. Unsere Intention ging dahin, dass Sie diese Pressekonferenz zu dem Zeitpunkt gar nicht hätten einberufen sollen. Dann wären Sie auch nicht in diese Schwierigkeiten gekommen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Renate Geuter [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)
Es hätte anschließend keine negativen Presse-statements z. B. von der FAZ gegeben, in denen man gesagt hat: Es gab in Berlin sehr positive Handlungserfolge, aber in Niedersachsen, in Wolfsburg, gab es doch eine erhebliche Erklä-rungsnot des Innenministers. - Deswegen meine ich, dass man mit solchen Äußerungen ein biss-chen vorsichtiger sein sollte.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle auch noch ein-mal zu der Löschung der Datenspeicherungen etwas sagen. Wir haben, auf unsere Initiative hin, dafür gesorgt, dass diese Daten, die Sie soeben positiv als „nicht gelöscht“ bezeichnet haben, nicht gelöscht wurden. Es handelt sich nicht um Vor-ratsdatenspeicherungen. Ich denke, das sollte man nicht durcheinander bringen. Es waren Datenspei-cherungen, die wir für sehr nötig halten. Wir sind sehr dankbar, dass der Verfassungsschutz und auch Sie es letztendlich begrüßt haben, dass diese Daten nicht gelöscht wurden.
Ich hoffe, dass wir hier in Niedersachsen bezüglich dieses schwierigen Sicherheitsthemas gemeinsam einen Weg finden, der uns alle wachsam sein lässt, der uns Maßnahmen ergreifen lässt, damit unsere Menschen, unsere Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen sich sicher fühlen können.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Frau Kollegin Jahns. - Weitere Wort-meldungen liegen nicht vor, sodass ich den Punkt a schließen kann.
Ich rufe auf
b) Der 228-Millionen-Euro-Brief: Lieferten Ver-treter der CDU eine Begründung für die Klage gegen das Moratorium im AKW Unterweser? - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2754
Das Wort hat Frau Kollegin Miriam Staudte. Bitte!
Miriam Staudte (GRÜNE):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren Abgeordnete! 228 Millionen Euro - das ist ungefähr die Summe, auf die der Atomkonzern E.ON das Land Niedersachsen und den Bund wegen des im Jahr 2011 verhängten Moratoriums verklagt.
Erst im April des vergangenen Jahres wurde diese Klage eingereicht. In der vergangenen Woche konnten wir in einem „Monitor“-Bericht erfahren, dass RWE seine Klage gegen das nach Fukushi-ma verhängte dreimonatige Moratorium gegen das Abschalten des AKW Biblis B auf einen Brief des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier vom 13. Juni 2011 stützt.
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Auch die anderen Atomkonzerne - jetzt wird es für Niedersachsen interessant -, also auch E.ON, begründen ihre Klagen mit diesem Brief.
Zur Erinnerung: Nachdem die erschütternden Bil-der von Fukushima ab dem 11. März 2011 um die Welt gingen, stand Schwarz-Gelb insbesondere im Bund aufgrund der umstrittenen Laufzeitverlänge-rungen, die vorher verhängt worden waren, natür-lich sehr unter Druck. Im Vorfeld der Baden-Württemberg-Wahl war das natürlich äußerst un-günstig. Man brauchte eine schnelle Kehrtwende.
So kam dieses dreimonatige Moratorium für die sieben ältesten AKWs zur Sicherheitsüberprüfung zustande. Für die Kameras: Allen voran Kanzlerin Merkel, die bisher unbeirrte Physikerin auf Atom-kurs.
Doch ganz so überzeugt scheinen die maßgebli-chen Akteure von dem Atomausstieg nicht gewe-sen zu sein. Der hessische Ministerpräsident Vol-ker Bouffier schrieb an RWE-Chef Großmann am 13. Juni, also zwei Tage vor dem Ablaufen des Moratoriums - ich zitiere -:
„Unter Hinweis auf das derzeit laufende Ge-setzgebungsverfahren zur Novellierung des Atomgesetzes“
- also der zweite Atomausstieg -
„gehe ich davon aus, dass Sie von Ihrem Recht, Biblis B nach dem Ablaufen am 18. Juni 2011 wieder anzufahren, im Hin-blick auf eine vertrauensvolle Zusammenar-beit mit den hessischen Behörden keinen Gebrauch machen. Sollte meine Einschät-zung nicht den Tatsachen entsprechen und Sie ein Wiederanfahren von Biblis B in Er-wägung ziehen, darf ich Sie vorsorglich da-rauf hinweisen, dass die hessische Atom-aufsicht auch im Auftrag des Bundesministe-riums für Umwelt ... als übergeordnete Be-hörde dagegen vorgehen wird.“
(Unruhe - Filiz Polat [GRÜNE]: Hört, hört! - Glocke der Präsidentin)
Das hört sich für die nicht juristisch geübten Ohren erst einmal sehr couragiert und engagiert an. Aber Fakt ist, dass Bouffier mit dieser versteckten Dro-hung eine Begründung für die Klagen lieferte; denn das, was er angedroht hat, wäre letztendlich eine missbräuchliche Ausübung der Atomaufsicht ge-wesen.
(Helge Limburg [GRÜNE]: Richtig!)
In diesem Punkt könnte man noch sagen: Na ja, Stümperei, keine Ahnung, keine guten Berater.
Nun ist es aber so, dass bekannt wurde, dass die-ses Schreiben quasi von RWE bestellt worden war. Sieben Tage zuvor hatte RWE-Chef Großmann extra aus den USA einen Vierzeiler geschrieben. Den möchte ich Ihnen kurz vortragen.
(Zurufe von der CDU und von der FDP - Unruhe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Moment, bitte, Frau Kollegin Staudte! - Ich darf Sie um etwas mehr Ruhe im Plenarsaal bitten. Das gilt für alle. Wir fahren erst fort, wenn Ruhe im Plenar-saal eingekehrt ist. - Die Redezeit wurde angehal-ten, Frau Staudte, das wird Sie nicht beeinträchti-gen. - Vielen Dank.
Miriam Staudte (GRÜNE):
Ich zitiere aus dem Brief:
„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Bouffier, der 15. Juni und damit der Tag, an dem wir Biblis B wieder anfahren könnten, rückt näher. Herr Minister Pofalla sagte mir zu, mir bis dorthin wieder einen schriftlichen Bescheid zu geben, dass Sie ein eventuelles Anfahren verhindern wer-den. Wann können wir mit diesem Schreiben rechnen? Grüße aus den USA, Jürgen Großmann.“
Das ist der Beleg dafür, dass es sich eben nicht um Stümperei oder Gedankenlosigkeit gehandelt hat, sondern um Vorsatz.
Ex-Kanzleramtsminister Roland Pofalla, Ex-Um-weltminister Norbert Röttgen und der hessische Ministerpräsident standen nach allen Hinweisen im Austausch. Wissentlich wurde in Kauf genommen, dass Schadenersatzklagen - wir wissen, dass es jetzt insgesamt um fast eine Milliarde geht - für den Steuerzahler entstehen könnten.
Pofalla, Röttgen und Bouffier haben RWE also nicht die Stirn geboten, wie sie es der Öffentlichkeit weismachen wollten, sondern waren Erfüllungsge-hilfen für die Begründung der Klagen.
Wer glaubt, dass Mutti nicht wusste, was ihre drei Buben da so treiben, der glaubt noch an den Weihnachtsmann.
(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Das ist respektlos, Frau Kol-legin!)
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- Der Begriff „Mutti“ kommt von Ihnen selbst, er kommt aus den Reihen der CDU. Dagegen können Sie eigentlich nichts haben.
Zu welchem Zweck, wenn nicht zu seinem Vorteil, hätte RWE-Chef Großmann diesen Brief schreiben sollen? - Doch wohl nicht, um sich selbst und den Aktionären zu schaden.
Dieser Skandal, dieser Filz aus Politik und Atom-lobby muss aufgeklärt werden, und zwar nicht nur in Hessen - da gibt es ja auch schon einen Unter-suchungsausschuss -, sondern auch auf Bundes-ebene. Das ist unser ureigenes niedersächsisches Interesse. Alles deutet darauf hin, dass das keine korrekte Amtsführung war, sondern letztendlich ideologischer Amtsmissbrauch.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu-stimmung bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Frau Staudte. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es hier um das Amt der Bundes-kanzlerin geht und ich deshalb den Begriff „Mutti“ für sehr unpassend halte. Zudem finde ich ihn auch aus gleichstellungspolitischen Gründen nicht angebracht.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Jens Nacke [CDU]: Frau Staudte, ent-schuldigen Sie sich dafür, sonst müs-sen wir einen Ordnungsruf einfor-dern!)
Nun hat das Wort Herr Kollege Bäumer von der CDU-Fraktion.
Martin Bäumer (CDU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was ist das Wesen einer Aktuellen Stun-de? - Es werden Punkte von allgemeinem und aktuellem Interesse diskutiert. So steht das bei uns in der Geschäftsordnung.
Ein aktuelles Interesse, Frau Kollegin, sehe ich hier nicht.
(Widerspruch bei den GRÜNEN)
Denn das, was Sie gerade versucht haben, skan-dalträchtig zu verkaufen, ist seit mehr als einem halben Jahr in der hessischen Politik bekannt. Ich frage mich, warum wir das hier heute Morgen dis-kutieren.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Es geht - das haben Sie uns vorhin erklärt - um einen Brief, den der hessische Ministerpräsident im Jahr 2011 an Herrn Dr. Jürgen Großmann als RWE-Vorstandschef geschrieben hat. In diesem Brief geht es darum, dass ein erneutes Anfahren des Kernkraftwerkes Biblis nach dem Moratorium nicht sinnvoll sei.
Dieser Brief, Frau Kollegin, ist rein politischer Natur und entfaltet keine unmittelbare rechtliche Wir-kung. Herr Bouffier hat damals im Interesse aller Fraktionen im Hessischen Landtag gehandelt, also auch der Grünen. Ich finde es bemerkenswert, dass Sie heute als Grüne dieses Handeln kritisie-ren. Ich frage mich, warum wir das heute diskutie-ren.
(Beifall bei der FDP)
Die Klagen der drei Energieversorger richten sich gegen das Moratorium. Die Klage von RWE gegen das Land Hessen vom April 2011 richtete sich seinerzeit gegen die vorübergehende Stilllegung durch das Moratorium der Meiler Biblis A und B und kann sich schon aufgrund des zeitlichen As-pektes - ich wiederhole es, die Klage war vom April - nicht auf den Brief des Ministerpräsidenten vom Juni 2011 beziehen.
Wollen Sie einem Unternehmen ernsthaft das Recht auf Überprüfung einer rechtlichen Frage absprechen? Ist das der Grund, warum wir das heute diskutieren? - Bei jedem Castortransport werden rechtliche Dinge geklärt. Es ist gut so, dass wir ein Land sind, in dem man rechtliche Dinge klären lassen kann.
Rein denklogisch kann ich das nicht nachvollzie-hen. Frau Kollegin, Sie haben die Frage nicht be-antwortet, warum der Briefwechsel zwischen ei-nem hessischen Ministerpräsidenten und einem nordrhein-westfälischen Energieversorger zum Wiederanfahren eines hessischen Kernkraftwerkes dazu führen sollte, dass ein Kernkraftwerk in Nie-dersachsen auf Schadensersatz pochen kann. Das ist doch sehr weit hergeholt und für mich heute kein Grund, darüber zu diskutieren.
(Beifall bei der CDU)
Spannend, Frau Kollegin, finde ich die Lektüre einer Pressemitteilung der Landtagsfraktion der Grünen in Hessen vom 16. Januar 2015. Sie hat-ten vorhin ja erwähnt, dass es dort einen Untersu-chungsausschuss zu diesem Thema gibt. Der grü-ne Landtagsabgeordnete, Frank Kaufmann, schreibt:
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„Der Briefwechsel sei allerdings nicht neu. ‚Die beiden Briefe waren von Anfang an in den Akten des Untersuchungsausschusses. Wir“
- d. h. die Grünen in Hessen -
„sehen sie bislang als juristisch nicht rele-vant für die Schadensersatzklage an ...‘“
Ich möchte das gerne wiederholen: „Wir sehen sie bislang als juristisch nicht relevant ... an.“
(Vizepräsident Karl-Hein Klare über-nimmt den Vorsitz)
Am gleichen Tag, an dem die Grünen hier in Nie-dersachsen in der üblichen Skandalrhetorik Fragen stellen, nehmen die Grünen-Kollegen in Hessen eine völlig andere Haltung ein.
Ist das der Grund, Frau Kollegin, dass Sie das so ärgert, dass Sie diesen Punkt hier diskutieren las-sen müssen?
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Es muss Ihnen ein großer Dorn im Auge sein, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen in Hessen diese Briefe viel gelassener sehen, als Sie das hier tun. Es muss Ihnen ein Dorn im Auge sein, dass Ihnen mit dem Atomthema langsam aber sicher der Stoff ausgeht, mit dem Sie jahrelang polemisiert haben, um bei Ihren Wählerinnen und Wählern zu punk-ten.
Ich finde es faszinierend, mit welcher Betroffenheit Sie uns heute Morgen hier kalten Kaffee serviert haben. Das lockt keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor.
(Thomas Schremmer [GRÜNE]: Phrasen!)
Ihnen fällt selbst für die Aktuelle Stunde nichts mehr ein. Wir hatten hier, Frau Kollegin, schon spannendere Debatten. Wenn ich Mitglied der Grünen wäre, dann bekäme ich mit Blick auf die Landtagswahl 2018 Angst. Aber aus meiner Sicht können Sie gerne so weitermachen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Kollege Bäumer. - Für die SPD-Fraktion hat sich der Kollege Marcus Bosse zu Wort gemeldet.
Marcus Bosse (SPD):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich bin der Fraktion der Grü-nen sehr dankbar, dass sie diese Anfrage gestellt hat.
(Jens Nacke [CDU]: Wir auch, Herr Bosse!)
Ich bin auch sehr dankbar, weil es vernünftig ist, dass Niedersachsen wesentlich mehr Fingerspit-zengefühl in der Frage der Atompolitik zeigt als manch andere Bundesländer.
Insofern herzlichen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und Lachen bei der CDU)
Fast 900 Millionen Euro fordern die großen Ener-giekonzerne vom Steuerzahler, weil sie ihre ältes-ten Atomkraftwerke nach der Kernkraftwerkskata-strophe von Fukushima vorübergehend stilllegen mussten.
Ist das möglicherweise ein abgekartetes Spiel gewesen? - Politiker der Union haben den Kon-zernbossen möglicherweise maßgeblich dabei mitgeholfen, diese riesigen Schadensersatzforde-rungen zu stellen, so das Magazin „Monitor“ vom 15. Januar 2015.
Es geht um den Brief, der hier schon angespro-chen wurde, vom Ministerpräsident Bouffier an den RWE-Chef Großmann. In Hessen, das ist auch schon gesagt worden, ist ein entsprechender Un-tersuchungsausschuss eingerichtet worden. Der Brief von Bouffier an Herrn Großmann ist bereits bei einer gerichtlichen Prüfung der Schadenser-satzklage durch den hessischen Verwaltungsge-richtshof in die Beurteilung der Situation aufge-nommen worden. Insofern muss man hier deutlich sagen, dass es sich hier sehr wohl um ein rechtlich relevantes Dokument handelt, und um nichts ande-res.
Es muss auch die Frage erlaubt sein, in wessen Interesse ein Ministerpräsident einen Brief an ei-nen Konzernvorsitzenden schreibt, in einer sol-chen Situation im Frühjahr 2011. Sicherlich nicht im Interesse des jeweiligen Bundeslandes. Dieser unglaubliche Brief liefert doch wirklich reichlich Munition für Spekulationen.
Im Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung - ich will ein bisschen auf die Historie eingehen - wurde die Stilllegung der AKWs nach den Einspei-semengen festgelegt. Für das AKW Unterweser wäre das etwa das Jahr 2011 gewesen. Nach der im Herbst 2010 durch die von Angela Merkel ge-führte Regierung beschlossenen Laufzeitverlänge-rung sollte das Kernkraftwerk Unterweser wieder
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bis 2020 laufen. Aber wir alle wissen: Es kam ganz anders.
Infolge der Debatte um die Nuklearkatastrophe von Fukushima und nach der Entscheidung der schwarz-gelben Bundesregierung im März 2011 wurde für ältere Kernkraftwerke ein dreimonatiges Atom-Moratorium beschlossen; dazu gehörte auch das AKW Unterweser. Im März 2011 wurde das AKW nach dem Herunterfahren vom Netz genom-men. Der Betreiber, E.ON Kernkraft, war zuvor von der Niedersächsischen Landesregierung dazu angewiesen wurden.
Ende Mai 2011 wurde von den Umweltministern der Länder und des Bundes beschlossen, das Kernkraftwerk Unterweser dauerhaft stillzulegen, was im Juni 2011 auch geschehen ist. Auf diesen Zeitraum bezieht sich nun die Klage.
Es sei in diesem Zusammenhang die Frage er-laubt, ob es nicht möglicherweise auch einen Schriftwechsel zwischen dem damaligen nieder-sächsischen Umweltminister Hans-Heinrich San-der oder möglicherweise sogar dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister und dem Vorstandsvorsitzenden Johan-nes Teyssen, Chef von E.ON Kernkraft und Betrei-ber des AKW Unterweser, gegeben hat.
(Helge Limburg [GRÜNE]: Interessan-te Frage!)
Diese Frage sollte an dieser Stelle auch einmal genauer beleuchtet werden.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Und wenn es diesen Schriftwechsel gegeben hat: Was stand darin?
(Christian Grascha [FDP]: Gucken Sie doch in die Akten! Ihr regiert doch!)
Zur Erinnerung: Ab Mai 2011 war Philipp Rösler - im Übrigen auch ein Niedersachse - Bundeswirt-schaftsminister mit den besten Verbindungen nach Niedersachsen.
Der Bericht von „Monitor“ kann durchaus als Beleg dafür gewertet werden, dass der hessische Minis-terpräsident und möglicherweise auch andere - möglicherweise - tiefer in diesen Sumpf verstrickt sind, als bisher bekannt.
(Dr. Gero Hocker [FDP]: Wer hat das denn aufgeschrieben?)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Bosse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen - - -
Marcus Bosse (SPD):
Nein.
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Moment, bitte! Ich habe noch gar nicht den Namen gesagt.
(Zurufe von der CDU und von der FDP)
Moment, bitte! - Keine Zwischenfragen im Moment - Sie haben das Wort. Bitte schön!
Marcus Bosse (SPD):
Ungeheuerlich ist auch die Information, wonach der Brief Bouffiers von RWE sogar beim damaligen Kanzleramtsminister Pofalla bestellt worden sei. Wenn bei dieser möglichen Kungelei tatsächlich der hessische Ministerpräsident und auch Herr Pofalla ihre Finger im Spiel hatten, dann wäre das ein Politthriller aller ersten Güte.
Mit dem persönlichen Brief an den RWE-Vor-standsvorsitzenden hat der hessische Ministerprä-sident die Klage doch letzten Endes erst möglich gemacht und damit dem Bund und den Ländern einen Bärendienst erwiesen. Das Schreiben dient als Grundlage für die Klage der Energiekonzerne. Wenn es da tatsächlich zu Mauscheleien zwischen Wirtschaft und Politik gekommen ist, würde das auch zulasten Niedersachsens gehen. Das wäre ein verantwortungsloser und unerträglicher Vor-gang.
(Zustimmung bei den GRÜNEN - Jens Nacke [CDU]: Bisschen viel Konjunktiv!)
Wenn die Einschätzungen des ARD-Magazins stimmen, ist die Union dafür verantwortlich, dass allein Niedersachsen wegen der Klage der Ener-giekonzerne mit fast 228 Millionen Euro im Risiko steht. Diese Vorkommnisse würden auch einen großen, großen Schatten auf die Ernsthaftigkeit des Ausstiegsbeschlusses werfen. Ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte dann nicht in Ihrer Haut stecken.
Danke schön.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu-stimmung bei der SPD - Dr. Gero Ho-cker [FDP] lacht)
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Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Bosse. - Weitere Wortmeldun-gen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor. Wir beenden damit den Punkt b.
(Christian Grascha [FDP]: Ich glaube, der Minister wollte noch reden!)
- Der Minister wollte noch reden; der Wortmelde-zettel lag hier nicht vor. - Herr Minister, Sie haben das Wort. Bitte!
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz:
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Abgeordneter Bäumer, es wäre wirklich sehr schön, wenn wir mit diesem Thema nichts mehr zu tun hätten und das Schnee von gestern wäre. Lei-der ist das Land aber noch mit einer Reihe von Klagen konfrontiert, in denen erhebliche Summen gefordert werden.
Und, Herr Bäumer, so weit ist Hessen dann doch nicht weg. Denn dieser Brief wird auch in der Klage zitiert, in der gegenüber dem Land Niedersachsen ein Anspruch auf eine Summe in einer gewaltigen Größenordnung erhoben wird.
(Zurufe von der SPD: Hört, hört!)
Da stellen sich dann doch folgende Fragen:
Warum hat E.ON nicht gegen die Anordnung der dreimonatigen Betriebseinstellung geklagt, wenn sie doch von der Rechtswidrigkeit der Anordnung überzeugt waren?
Warum hat E.ON vor Erlass des Moratoriums le-diglich eine schriftliche Anordnung verlangt, aber nicht zur Sache Stellung genommen?
Warum hat E.ON das Kraftwerk nach Ende des Moratoriums nicht wieder hochgefahren?
Gab es Vereinbarungen mit der damaligen Bun-desregierung oder Landesregierung, den Anord-nungen in Anbetracht der öffentlichen Meinung Folge zu leisten und die wirtschaftlichen Verluste später dem Steuerzahler in Rechnung zu stellen nach dem Motto „dulde und liquidiere“?
In den Unterlagen des Umweltministeriums ist keine dem Schriftwechsel zwischen Großmann und Bouffier vergleichbare Korrespondenz vorhan-den.
(Martin Bäumer [CDU]: Das wurde behauptet!)
- In der Klage von E.ON wird das Schreiben von Herrn Bouffier zitiert.
Aber naheliegend ist, dass neben RWE auch die übrigen Betreiber bei den Gesprächen im Bundes-kanzleramt dabei gewesen sind und auf entspre-chende Zusagen vertraut haben.
Wenn dies zutreffend sein sollte, wäre das schon ein Skandal, Herr Bäumer, vor allen Dingen dann, wenn wir am Ende als Land und damit zulasten der Steuerzahler finanzielle Risiken tragen müssten. CDU und FDP hätten in der Geschichte der Kern-energienutzung in Deutschland wieder einmal den wirtschaftlichen Interessen der großen Energieer-zeuger den Vorrang vor den Interessen der Bevöl-kerung und des Steuerzahlers eingeräumt.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass mit der Bitte um ein Schreiben zur Androhung einer Anordnung zur sofortigen Vollziehung im Fall des Wiederan-fahrens nach Auslaufen des Moratoriums versucht werden sollte, eine Faktenlage für das spätere Gerichtsverfahren zu schaffen.
Aber, meine Damen und Herren, diese Rechnung wird nicht aufgehen. Die Rechtsordnung kennt den Grundsatz „dulde und liquidiere“ nicht, sondern verlangt, dass man gegen Anordnungen, die man für rechtswidrig hält, zunächst gerichtlich vorgeht. Das hat E.ON - aus welchen Gründen auch im-mer - nicht getan. Ein Schadenersatzanspruch ist daher ausgeschlossen.
Der bekannt gewordene Schriftwechsel diskredi-tiert E.ON allerdings noch weiter, weil das Schrei-ben von Herrn Bouffier, auf das sich auch E.ON zur Begründung des Nichtwiederanfahrens nach Ende des Moratoriums beruft, offenbar bestellt war.
Meine Damen und Herren, Kraftwerksbetreiber sollten sich immer wieder bewusst machen, dass die Frage der Zuverlässigkeit ein wichtiger Be-standteil der Betriebsgenehmigung ist. Kraftwerks-betreiber, die jahrelang gutes Geld verdient haben, müssen sich heute ihrer Verantwortung stellen. Dazu passt auch nicht, dass man sich an den Tisch der Atommüllkommission setzt und gleichzei-tig die zentralen Aspekte des Standortauswahlge-setzes vor Gericht angreift.
Fordern wird uns in diesem Zusammenhang auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Brunsbüttel, meine Damen und Herren. In Zusam-menarbeit mit anderen Ländern und dem Bund werden wir sorgfältig prüfen, welche Konsequen-zen sich daraus für die Sicherung atomarer Anla-
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gen - wohlgemerkt: aller atomaren Anlagen - erge-ben.
Ich will vor diesem Hintergrund und auch vor dem Hintergrund mancher Aussagen in der Klageschrift des Kraftwerksbetreibers noch einmal deutlich machen, dass wir einen dynamischen Grund-rechtsschutz haben, dessen Grundzüge das Bun-desverfassungsgericht im sogenannten Kalkar-Urteil fixiert hat. Diesseits der praktischen Vernunft muss alles für die Sicherheit getan werden, was nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich ist. Insofern war es bis dahin undenk-bar, dass sich in einem westlichen Industrieland gleichzeitig mehrere Kernschmelzen ereignen. Das war eine Zäsur. Das hat damals offensichtlich auch die Kraftwerksbetreiber im Kern getroffen und rechtfertigt die schnelle Abschaltung der Altanla-gen und das Befristen der Laufzeit der übrigen Anlagen.
Ich danke Ihnen herzlich fürs Zuhören.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Minister Wenzel. - Zu Punkt 3 b hat sich auch Dr. Stefan Birkner, FDP, zu Wort gemeldet. Bitte schön!
Dr. Stefan Birkner (FDP):
Es ist bemerkenswert, zu welchen Themen die Grünen eine Aktuelle Stunde auf die Tagesord-nung setzen. Dabei gibt es doch so viele landespo-litische Themen, die quasi auf der Straße liegen und die eine Erörterung verdient hätten:
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Sind 228 Millionen Euro nicht relevant?)
Schüler demonstrieren, weil ihre Klassenfahrten wegen der rot-grünen Landespolitik ausgefallen sind. In Berlin geht es aktuell um Landwirtschafts-politik. Wir haben Probleme bei Asse II; dort kommt man nicht voran. Der Minister hat Eckert & Ziegler in Braunschweig besucht.
Das sind Themen, die Niedersachsen tatsächlich berühren. Um die sollte es gehen, und damit hatte ich eigentlich auch gerechnet.
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Stellen Sie doch einen Antrag!)
Aber womit kommen Sie? - Sie kommen mit einem Schreiben des Hessischen Ministerpräsidenten aus dem Jahre 2011, das - der Herr Minister hat das eben selbst deutlich gemacht - überhaupt kei-nen Bezug zu Niedersachsen hat. Möglicherweise wird E.ON dieses Schreiben in der Klage heran-ziehen, aber eigentlich nur, um die rechtliche Posi-tion zu erklären. Mit Niedersachsen hat dieses Schreiben jedenfalls überhaupt nichts zu tun.
Das Ganze dient doch nur dazu, dass Sie Ihre altbewährten Verschwörungstheorien wieder auf-wärmen können; Frau Staudte hat das einmal mehr hier eben getan, und der Minister hat das bedauerlicherweise unterstützt, indem er hier stän-dig von Verdächtigungen und sonst was gespro-chen hat, ohne einen tatsächlichen Anhaltspunkt darzulegen.
(Anja Piel [GRÜNE]: Ich finde, solche Schreiben sind schon Anhaltspunkte!)
Zur Sache, meine Damen und Herren. Sie wollen belegen, dass es sich um ein bestelltes Schreiben handelt, dass es irgendwelche Verbindungen ge-geben hat, die es nicht hätte geben dürfen. Damit bewegen Sie sich aber auf sehr dünnem Eis. Sie dürften wohl kaum die gesamte Faktenlage in die-sem Prozess kennen, und Sie wissen wohl auch kaum etwas über die rechtliche Bewertung. Viel-mehr stellen Sie aufgrund eines Medienberichts, der sicherlich nicht die objektive Wahrheit wider-spiegelt, Spekulationen an.
Sie von den Grünen und von der SPD und Herr Wenzel vorneweg, Sie hätten im Jahr 2011, wenn E.ON oder RWE gesagt hätten, dass sie ihre Kernkraftwerke wieder anfahren wollen, eine atom-rechtliche Untersagungsverfügung fordern müs-sen. Genau dagegen hätte sich der Betreiber dann mit einer Klage wehren müssen.
Aufgrund der Ereignisse in Hessen kann ich nach-vollziehen, dass RWE argumentiert, dass das Schreiben des Ministers der Sache nach eine sol-che atomrechtliche Untersagungsverfügung sei. Sonst hätte der Betreiber die Kraftwerke wieder anfahren müssen, und erst dann wäre die Verfü-gung gekommen. Deshalb hat der Betreiber vorher gefragt: Wie würdet ihr reagieren, wenn wir das täten? - Der Ministerpräsident hat offensichtlich gesagt, dass dann eine solche Verfügung ergehen würde.
Mit anderen Worten: Sie beklagen hier ein Schrei-ben, das Sie in der damaligen Situation lauthals eingefordert hätten.
(Jörg Bode [FDP]: Genau! Ja!)
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Sie sagen selbst, dass man das Wiederanfahren um jeden Preis hätte verhindern müssen. Aber heute werfen Sie denjenigen, die damals die Ver-antwortung übernommen haben, vor, sie hätten geklüngelt und irgendwelche Schadenersatzforde-rungen auf den Steuerzahler übertragen.
Das ist unredlich. Das ist eine Unverschämtheit, die wir uns nicht bieten lassen.
(Beifall bei der FDP - Zustimmung bei der CDU)
Aber das, Herr Wenzel, gibt mir die Gelegenheit, Ihr ohnehin fragwürdiges Verhältnis zum Rechts-staat aufzugreifen.
(Zuruf von den GRÜNEN: Was? - Jörg Bode [FDP]: Gar kein Verhältnis zum Rechtsstaat! - Helge Limburg [GRÜNE]: Quatsch! Unfug!)
Ich meine die Art und Weise, mit der Sie bei jeder Gelegenheit auftreten. Sie können die Betreiber der Kernkraftwerke gut oder schlecht finden, Sie können die Betreiber der Kernkraftwerke diskredi-tieren, und Sie können auch eine Klage gut oder schlecht finden; das spielt überhaupt keine Rolle. Aber das, was Sie machen, grenzt im Prinzip an eine Verweigerung, einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten.
Sie behaupten immer wieder, die politische Ent-scheidung für den Ausstieg aus der Kernenergie und der gesellschaftliche Konsens würden ange-griffen, und deshalb wäre eine solche Klage am Ende illegitim. Das aber muss ich ausdrücklich zurückweisen. Wir leben in einem Rechtsstaat, und dort hat jeder die Möglichkeit, seine Rechte durch-zusetzen, auch gerichtlich. Wenn Ihnen das nicht passt, dann ist das Ihr Problem. Sie müssen es aber hinnehmen und sollten nicht versuchen, auf die Art und Weise, wie die Grünen das hier tun, diesen Vorgang zu diskreditieren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Dr. Birkner. - Frau Staudte hat sich zu dem gleichen Punkt noch einmal gemeldet. Das wird eine knappe Sache; denn Sie haben nur noch elf Sekunden.
Miriam Staudte (GRÜNE):
Gut, dann in aller Kürze.
Herr Dr. Birkner, wie bei 228 Millionen Euro der Bezug zu Niedersachsen nicht gegeben sein soll, das müssen Sie erst einmal erklären.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Es kann ja sein, dass Sie die Klageschrift nicht kennen. Aber zumindest die Süddeutsche Zeitung sollten Sie gelesen haben.
Ich finde, es ist eine Unverschämtheit, dass Sie uns immer wieder ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat unterstellen.
(Jörg Bode [FDP]: Das ist doch so!)
Der Skandal liegt ausdrücklich nicht darin, dass geklagt wird, sondern der Skandal liegt darin, dass sich der Ministerpräsident einer schwarz-gelben Landesregierung als Steigbügelhalter der Atom-wirtschaft geriert hat.
Sicherlich: Es ist legal, zu klagen. Aber letztendlich ist es illegitim, wenn man berücksichtigt, wie sehr die Atomwirtschaft in den letzten Jahrzehnten ge-fördert und subventioniert worden ist.
(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Was? Ihr Rechtsstaats-verständnis geht an der Demokratie vorbei! Nur die Gutmenschen dürfen anklagen? Unglaublich!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Frau Staudte. - Jetzt hat sich noch einmal Dr. Birkner zu Wort gemeldet. Er hat noch eine ganze Minute. Bitte schön!
Dr. Stefan Birkner (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staudte, Sie haben im Prinzip das bestätigt, was ich gesagt habe.
Sie sagen, diese Klagen seien illegitim.
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Ja!)
Das heißt, sie seien nicht vernünftig, politisch nicht sinnvoll und am Ende auch nicht wirklich legiti-miert.
Frau Staudte, natürlich ist es legitim, zu klagen. Das ist legal und legitim.
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Legitim! Sie sind Jurist und müssten den Un-terschied kennen!)
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Jeder hat einen Anspruch darauf, seine Rechte vor Gericht durchzusetzen. Es ist legitim, wenn er das tut. Ob das am Ende legal ist, darüber entscheiden die Gerichte und nicht Sie! Legitim ist es allemal.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Miriam Staudte [GRÜNE]: Warum ha-ben Sie nichts zur FDP-Verantwort-ung unter der letzten Hessischen Landesregierung gesagt?)
Sie versuchen, einen Skandal herbeizureden - das ist mit den Händen zu greifen -, haben aber bisher keinen Anhaltspunkt gefunden. Herr Bosse hat spekuliert - „wäre“, „könnte“, „sollte“, „müsste“ -, Sie haben spekuliert, haben aber keinen konkreten Anhaltspunkt.
Das zeigt, dass es Ihnen nur darum geht, die alten Fronten wiederherzustellen und Ihrer Anhänger-schaft, die Sie noch zu haben glauben, zu genü-gen. Sie wollen die alten Kämpfe gegen die Atom-industrie wieder aufnehmen.
Ich finde, Sie sollten sich lieber auf konstruktivere Dinge konzentrieren, als erneut vergebene Schlachten zu schlagen. Aber das müssen Sie selber wissen.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Vielen Dank.
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Dr. Birkner. - Damit sind wir am Ende des Punktes 3 b.
Wir kommen jetzt zu
c) Mehr Chancen durch mehr Zuwanderung - Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderung braucht! - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/2750
Zu Wort gemeldet hat sich der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Dürr. Bitte schön!
Christian Dürr (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Zuwanderung ist auf der politischen Agenda in Deutschland angekommen. Zum Glück! Die Debatte hat sich in den letzten Monaten ge-dreht. Das begrüße ich ausdrücklich.
Dass es notwendig ist, einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft in Deutschland ent-gegenzutreten, ist mittlerweile allen klar geworden. Ohne eine Nettoeinwanderung von 200 000 Per-sonen im Jahr wird die Zahl der Erwerbstätigen erheblich sinken. Unser Wohlstand ist wegen der demografischen Krise in Gefahr.
Das veranschaulicht folgende Zahl: Um den de-mografischen Wandel zu bewältigen, müssten die in Deutschland lebenden Frauen im sogenannten gebärfähigen Alter - das ist ein medizinischer Be-griff - pro Kopf sieben Kinder bekommen. Ich habe das zu Hause mal mit meiner Frau besprochen,
(Heiterkeit)
aber aus meiner Sicht ist das keine Option, um das ganz klar zu sagen, und das nicht nur, weil die Kinderzimmer nicht ausreichen.
Diese Zahl veranschaulicht: Der Wohlstand hängt von qualifizierter Zuwanderung ab. Deswegen liegen Weltoffenheit und Einwanderung im besten nationalen Interesse, liebe Kolleginnen und Kolle-gen.
(Beifall bei der FDP)
Die Themenfelder müssen gleichwohl getrennt werden: einerseits gesteuerte Zuwanderung, ande-rerseits das Grundrecht auf Asyl und die humanitä-re Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen.
Zunächst zum Thema zeitgemäßes Einwande-rungskonzept. Die von der vorherigen Bundesre-gierung begonnene Liberalisierung des Einwande-rungsrechts muss fortgesetzt werden. Es muss weiterentwickelt werden zu einem vollständigen und klaren Punktesystem. Die Blue-Card-Grenzen, die viel zu hoch sind, müssen auf ein realistisches Maß gesenkt werden. Ich will betonen: Es geht nicht nur um IT-Spezialisten. Weil wir dem Fach-kräftemangel in Handel, Industrie und Handwerk begegnen müssen, geht es auch darum, Men-schen in die duale Ausbildung zu bringen.
(Filiz Polat [GRÜNE]: Was haben Sie denn dazu beigetragen?)
Wir stehen hier im Wettbewerb mit anderen Ein-wanderungsländern. Wir müssen offen für Talente sein und aktiv um sie werben. Das sage ich auch in Richtung des Ministerpräsidenten, der gerade leider nicht da ist. Vielleicht hört sein Stellvertreter zu. Auch der Wirtschaftsminister, der bedauerli-cherweise ebenfalls nicht da ist, ist an dieser Stelle betroffen.
(Minister Boris Pistorius: Ich bin da!)
- Sie sind da, Herr Pistorius, das ist schön.
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Auch für Niedersachsen gilt der Wettbewerb zwi-schen den Bundesländern. Deswegen sage ich: Wir brauchen in Niedersachsen Internationalität statt rot-grüne Provinzialität.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Es war ein Riesenfehler, dass der Ministerpräsi-dent dem Wirtschaftsminister erlaubt hat, „Innova-tives Niedersachsen“ abzuwickeln. Da lagen die Themen Innovation und Ansiedlung ausländischer Unternehmen in einer Hand. Das war ein riesiger Standortvorteil, weil die Ansiedlung natürlich auch zu qualifizierter Zuwanderung nach Niedersachsen geführt hat.
Ich will in Richtung der Grünen sagen - Thema: Forschungsfreiheit -: Natürlich müssen wir uns fragen, warum die Biotechexperten um Deutsch-land einen Bogen machen und in angelsächsische Länder gehen. Wir müssen diesen Experten, die-sen Zuwanderern einen roten Teppich ausrollen. Auch da muss man bei den Grünen die Ideologie endlich abschütteln, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Ich will jetzt etwas zum zweiten Kreis sagen, näm-lich zu Asylbewerbern und Flüchtlingen. Wer bei uns Schutz sucht, hat ein Recht, am sozialen Le-ben teilzunehmen. Es ist ungerecht und teilweise sogar unmenschlich, dass wir Menschen - Asylbe-werber und Flüchtlinge -, die bei uns arbeiten wol-len, dazu zwingen, zu Hause in ihren Heimen und Wohnungen zu bleiben oder auf die Straße und zum Einkaufen zu gehen, ohne die Möglichkeit zu haben, von eigener Hände Arbeit zu leben. Das ist aus meiner Sicht nicht sozial gerecht. Viele Flücht-linge, die derzeit kommen, haben vor allem ein Ziel: Sie wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit bei uns leben. Deswegen - wir haben das vorhin schon diskutiert - muss der volle Zugang zum Ar-beitsmarkt möglich sein. Auch über Berufsausbil-dung haben wir vorhin schon gesprochen.
Was den vollen Zugang zum Arbeitsmarkt angeht, will ich ein Beispiel nennen, bei dem ich auch rot-grüne Politiker auffordere, ihre Meinung zu ändern: Es kann nicht sein, dass für Asylbewerber und Flüchtlinge derzeit ein vierjähriges - ein vierjähri-ges! - Arbeitsverbot besteht bei der Zeitarbeit und bei der Leiharbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht und einfach unmenschlich. Aus meiner Sicht muss auch hier der volle Zugang gewährleistet werden.
(Beifall bei der FDP)
Ich will an dieser Stelle noch an eine Sache erin-nern: Mitte des letzten Jahrzehnts waren es im Rahmen der Innenministerkonferenz regelmäßig der liberale Innenminister Ingo Wolf aus Nordrhein-Westfalen und der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann, die für die Arbeitsaufnahme von Flüchtlingen gekämpft haben. Es waren sozi-aldemokratische Innenminister und Ministerpräsi-denten, die das regelmäßig verhindert haben. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Filiz Polat [GRÜNE]: Das müssen Sie uns einmal darlegen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben Men-schen bei uns, die Schutz vor Verfolgung suchen, die hier arbeiten wollen. Sie brauchen faire Chan-cen, eine Arbeit aufzunehmen. Die allermeisten Menschen, die zu uns kommen, sprechen nicht die deutsche Sprache. Das ist natürlich auch am Ar-beitsmarkt ein Hindernis. Es war deshalb - ich will das zum Schluss deutlich sagen - ein Riesenfehler, meine Damen und Herren, diesen Menschen bei den Haushaltsberatungen im Dezember hier im Landtag die deutliche Aufstockung der Mittel für Sprach- und Integrationskurse, die Union und FDP gefordert haben, zu versagen. Gerade einmal 500 000 Euro bei einem 28-Milliarden-Euro-Haushalt war Ihnen dieses Thema wert. Das wird nicht ausreichen.
Liebe Kollegen von den Grünen - ich will die Kolle-gin Piel und ihre Fraktion da ganz deutlich anspre-chen -, es wird nicht ausreichen, in Sonntagsreden über das Schicksal dieser Menschen zu sprechen und ihnen am Montag die Chancen zu versagen, die diese Menschen mehr als verdient haben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Dürr. - Jetzt hat sich Dr. Christos Pantazis, SPD-Fraktion, zu Wort gemeldet. Bitte schön!
Dr. Christos Pantazis (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Vor dem Hintergrund der latent fremdenfeindlichen Demonstrationen, die Anfang Januar auch Niedersachsen erreicht haben - Han-nover und gestern Braunschweig seien hier exemplarisch erwähnt -, hat eine sachliche, offene Debatte um Zuwanderung und ihre gesetzliche
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Regelung an Fahrt gewonnen. Ich persönlich finde, dass genau eine solche Debatte unserem Land und unserer Gesellschaft, in der Veränderungsbe-reitschaft geweckt werden muss, nur guttun kann.
Innenminister Pistorius und die Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Frau Schröder-Köpf, fassten in diesem Zusammenhang die gesell-schaftlichen Veränderungen wie folgt richtig zu-sammen: Klare Zuwanderungsregeln können Ängste nehmen.
Vizekanzler Gabriel schrieb in einem Gastkom-mentar für den Tagesspiegel:
„Ein Einwanderungsgesetz fehlt, in dem un-abhängig von der Flüchtlingsaufnahme klar ist, wem wir in der Welt ein Angebot machen wollen, zu uns zu kommen, weil wir wirt-schaftlich darauf angewiesen sind.“
Vor diesem Hintergrund ist es maßgeblich, dass eine solche Debatte sich nicht in bayerischen Stammtischparolen verliert, sondern hin zur Analy-se von Potenzialen und Chancen von Einwande-rung bewegt.
(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in unserer Koalitionsvereinbarung „Erneuerung und Zusam-menhalt“ haben wir uns darauf verständigt, uns für ein weltoffenes Niedersachsen einzusetzen. Wir wollen Willkommenskultur leben und Zuwanderung erleichtern, weil für uns hinsichtlich der Analyse klar ist: Deutschland ist Einwanderungsland. Ein-wanderung hat unser Land kulturell, aber auch wirtschaftlich bereichert.
Wirtschaftsminister Lies beispielsweise stellte An-fang des Jahres eindrucksvoll dar, dass für die Zukunft Zuwanderung nicht nur eine Chance, son-dern in Anbetracht des durch die demografische Entwicklung ausgelösten Fachkräftemangels und vieler unbesetzter Ausbildungsplätze eine pure Notwendigkeit darstellt. Herr Dürr hat das gerade eben bekräftigt. Mit ihm sind sich der Zentralver-band des Deutschen Handwerks, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sowie die Bun-desvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbän-de einig.
Ohne Zuwanderung werden wir Wirtschaftskraft und Wohlstand in unserem Land nicht erhalten können. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns erstens für ein Gesetz, das Zuwanderung mit rea-listischen Anforderungen regelt, zweitens - nicht erst seit gestern - für eine weitere Erleichterung des Zugangs von Flüchtlingen zum deutschen Arbeitsmarkt und drittens für die bessere Aus-schöpfung der Potenziale der Zuwanderer ein.
Nun zu Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Auch wenn wir bereits im vorletzten Plenum eine Aktuelle Stunde zum Thema „Zuwan-derung und Chancen für unser Land“ hatten und der Kern Ihres Zuwanderungskonzepts, beispiels-weise ein Punktesystem nach kanadischem Vor-bild, keine Neuerung darstellt - im ursprünglichen rot-grünen Entwurf des Zuwanderungsgesetzes Anfang der 2000er-Jahre war dieses bereits vor-gesehen -, sondern quasi, wenn ich das einmal so sagen darf, alter Wein in neuen, in Magenta ge-färbten Schläuchen ist, kann ich Gemeinsamkeiten mit Ihrem Konzept erkennen. Ich mache Ihnen daher ein Angebot: Lassen Sie uns über die grundsätzliche Zuwanderungskonzeption diskutie-ren, in einigen Punkten auch streiten, damit unser Land durch gesetzliche Regelung die Zuwande-rung zukunftsfest gestalten kann!
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Denn wir teilen die Auffassung, dass wir mehr Chancen durch Zuwanderung haben, weil Deutschland Zuwanderung schlichtweg braucht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, abschließend freuen wir uns - das meine ich ernst -, dass auch Sie, Herr Thümler, und die niedersächsische CDU eine Neupositionierung in der Frage eines Ein-wanderungsgesetzes vollzogen haben. Infolge-dessen appelliere ich an Sie, sofern Sie es ernst meinen, sich mit uns für ein solches bei Ihren Par-teifreunden auf Bundesebene, Kauder und de Mai-zière, einzusetzen. Lassen Sie bitte nicht zu, dass auf Bundesebene konservative Parteipolitik den Blick auf die Realitäten verzerrt! Die Union auf Bundesebene muss die sowohl gesellschaftliche als auch ökonomische Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, dass unser Land, wenn es zukunftsfähig bleiben soll, auch des Instruments einer gesetzlich geregelten Zuwanderung bedarf - wie Sie richtig gesagt haben, Herr Thümler. Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kle-ben. Deswegen lade ich wie die FDP, so auch Sie zu einem konstruktiven Dialog ein. Lassen Sie uns gemeinsam anpacken und besser machen!
Willy Brandt sagte einst, „dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. In diesem Sinne denke ich, dass es Zeit für eine Zuwanderungspoli-
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tik ist, die nach humanitären, solidarischen und zukunftsorientierten Grundsätzen geregelt ist. Kurzum: Es ist höchste Zeit für ein Einwande-rungsgesetz.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Danke, Herr Dr. Pantazis. - Jetzt hat sich Björn Thümler, der Vorsitzende der CDU-Fraktion, ge-meldet. Bitte schön!
Björn Thümler (CDU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im Rahmen der Regierungser-klärung auch dieses Thema bereits ausführlich beleuchtet. Deswegen will ich das alles nicht noch einmal zusammenfassen - auch wenn man gele-gentlich etwas öfter wiederholen muss, damit klar wird, was eigentlich gemeint ist.
Zur Frage der Zuwanderung gibt es in diesem Hause - bei unterschiedlichen Positionen - Ansät-ze, mit denen man arbeiten kann. Deswegen ha-ben wir als CDU-Landtagsfraktion gesagt: Wir wollen mit einem schriftlichen Konzept kommen. Denn darüber kann man sich besser unterhalten als über Dinge, die man hier am Rednerpult münd-lich in die Welt setzt.
(Dr. Christos Pantazis [SPD]: Herr Thümler, ich lade Sie ein! Lassen Sie uns das gemeinsam machen!)
Die FDP hat Ähnliches bereits getan. Auch da gibt es klare Vorstellungen von einem Zuwanderungs-gesetz - oder wie auch immer man es nennen möchte.
Eines allerdings, meine Damen und Herren, muss klar sein: Zuwanderung ist an Kriterien gebunden. Zuwanderung muss sich an Kriterien orientieren. Genau das wird wahrscheinlich das Problem oder die Herausforderung im Detail sein.
Diese Kriterien können aus Modellen anderer Staaten abgeleitet werden: Österreich, Niederlan-de, Belgien, Dänemark; auch Kanada ist bereits genannt worden. Man muss schauen, wer zu uns passt und wen wir - Herr Dürr hat es gesagt - bei-spielsweise auf dem Arbeitsmarkt wirklich brau-chen. Darum geht es: um eine gezielte Zuwande-rung und eben nicht um eine zufällige Zuwande-rung, wie wir sie bisher erleben. Das heißt, es geht auch darum zu entscheiden, wer zuwandern darf und wer nicht.
(Christian Dürr [FDP]: Natürlich!)
Nun zu den Bürgerkriegsflüchtlingen. Ich erinnere an die Kosovo-Albaner. Damals sind wir davon ausgegangen: Die kommen hierher, erholen sich sozusagen von den Erlebnissen in der Bürger-kriegsauseinandersetzung auf dem Balkan, und gehen dann alle wieder zurück. Aber diese An-nahme war falsch, wie wir heute wissen. Wer seine Heimat verlässt und hierherkommt, der muss schon sehr gewichtige Gründe dafür haben.
Aus meiner Sicht kann man das Thema Bürger-kriegsflüchtlinge am besten mit dem vergleichen, was die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Flucht und Vertreibung erlebt haben. Damals hat man sehr viele und sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass man die Menschen, die hier-herkamen, so angenommen hat, wie sie waren. Dazu bedarf es heute medizinischer und sozial-psychologischer Hilfen in den zentralen Aufnah-mestellen, also im Vorfeld. Und vor allen Dingen bedarf es der Vermittlung von Sprachkenntnissen. Das ist das A und O.
Ich habe vor Kurzem bei einer Diskussion mit der Härtefallkommission gehört, dass sich die Sprache am Besten im sozialen Kontakt im Dorf erlernen lasse. Aber das, meine Damen und Herren, funkti-oniert nicht. Ich habe es vorhin schon ausgeführt: Die Grundlagen müssen wir in den zentralen Auf-nahmestellen legen.
Deswegen bleibt unsere Forderung: Da die jetzt vorhandenen Kapazitäten vermutlich nicht ausrei-chen, um dem Ansturm, der uns dieses Jahr be-vorstehen kann - - -
(Filiz Polat [GRÜNE]: Ansturm?)
- In Anführungszeichen! Bitte legen Sie doch nicht gleich wieder alles auf die Goldwaage, Frau Polat.
Viele Bürgerkriegsflüchtlinge wollen zu uns kom-men. Das heißt: Wenn wir wirklich ein Interesse daran haben, uns mit ihnen auseinanderzusetzen - und dieses Interesse haben wir sicherlich alle -, dann müssen wir ihnen auch die Chance geben, sich ihrerseits mit uns auseinanderzusetzen. Das geht nur über Sprache, und deswegen ist die Sprachvermittlung das A und O einer jeden Integ-rationspolitik.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
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Letzte Bemerkung. Wir sind, wie gesagt, dabei, ein Konzept zum Thema Einwanderung und Zuwande-rung zu entwickeln. Dabei wollen wir die Vorstel-lungen, die es beim Bund und bei den Ländern schon gibt, in einem Integrationsgesetz zusam-menführen. Wir wollen deutlich machen, dass wir als Staat gewillt sind, Verantwortung zu überneh-men, dass wir gewillt sind, diese Menschen anzu-nehmen, ihnen hier eine Heimat zu geben - so sie es denn wollen - und sie auch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, und zwar so, wie unsere Bedürfnisse es verlangen und wie es die Wirtschaft fordert. Dies muss in einem Gesamtkonzept stim-mig gemacht werden.
Ich bin überzeugt, dass wir darüber auch Einver-nehmen erzielen können. Bezüglich der Detailfra-gen wird es Herausforderungen geben, aber im Großen und Ganzen stellen wir Einigkeit fest.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Thümler. - Zu Wort gemeldet hat sich Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Polat!
Filiz Polat (GRÜNE):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Thümler, ich will gar nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber Sie wissen doch, dass wir gerade in dieser angespannten Situation sehr sensibel mit der Sprache umgehen müssen. „Sturm“ und „Welle“ haben immer etwas Bedrohli-ches an sich. Aber wir sprechen hier doch von Menschen.
(Christian Dürr [FDP]: Deswegen müssen wir auch in Sprache investie-ren! 500 000 Euro werden nicht aus-reichen!)
Deswegen sollte jeder immer wieder seine Wort-wahl reflektieren. Ich mache das auch.
Herr Dürr, ich muss mich schon wundern. Sie ha-ben zwar regelmäßig Aktuelle Stunden zu Ihrem Lieblingsthema angemeldet - ich habe das einmal im Landtagsdokumentationssystem nachge-schaut -, aber passiert ist leider nichts. 2010 haben Sie eine Aktuelle Stunde zum Thema Fachkräftesi-cherung angemeldet, und ein halbes Jahr später, 2011, haben Sie einen Antrag zum Thema demo-grafischer Wandel, Fachkräftesicherung und Zu-wanderung eingebracht. - Wir haben in dieser Zeit Anträge eingebracht, sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene; Herr Dr. Pantazis hat dies an-gesprochen. Rot-Grün hat die Vorstellungen der Süssmuth-Kommission in ein Gesetz einfließen lassen. Aber Ihre Bundesregierung hat seitdem nichts gemacht.
Meine Damen und Herren, schon vor einigen Jah-ren haben wir davon gesprochen, dass wir in Nie-dersachsen, aber auch in Deutschland insgesamt mehr Auswanderung als Einwanderung haben. Viele Menschen - Stichwort Arbeits- und Fachkräf-temigration - sehen ihre berufliche Zukunft nicht in Deutschland, sondern eher im Ausland. Der Trend „Goodbye Deutschland!“ hält an; denn gerade für Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger gestaltet sich eine Einreise nach Deutschland als sehr schwierig. Wenn überhaupt noch eingereist wird, möchte man natürlich die Familienangehörigen nachziehen lassen. Dass das möglich ist, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber nicht im Einwan-derungsland Deutschland! Wer schon einmal ver-sucht hat, einen Familienangehörigen nachziehen zu lassen, erlebt einen Gang durch die Mühlen der Bürokratie, der oftmals mit der Ablehnung des Visaantrags endet. Das ist die Realität. Und da-mals waren Sie - ich habe es erwähnt - in der Re-gierungsverantwortung.
(Christian Grascha [FDP]: So kom-men wir in der Debatte nicht weiter!)
Der Migrationsforscher Klaus Bade hat es einmal so ausgedrückt: Die Vorstellung, dass die ganze Welt auf gepackten Koffern sitzt und nur auf grü-nes Licht für Deutschland wartet, ist ein Irrtum.
Die Fachkräfte - Sie haben es selbst angespro-chen - wandern um Deutschland herum: in die klassischen Einwanderungsländer wie Skandinavi-en oder Nordamerika.
(Christian Dürr [FDP]: Ja! Zum Bei-spiel bei der Biotechnologie, Frau Kol-legin!)
Wir sagen - und darin unterscheiden sich unsere Konzepte -: Wer Arbeitsmigration befördern will, der muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Gerade das haben wir doch aus der Geschichte der Gastarbeiterzuwanderung gelernt. Wir dürfen nicht die Arbeitskraft und die Qualifikation in den Mittelpunkt stellen, sondern den Menschen.
Wir Grünen haben immer wieder aufgezeigt, wel-che Chancen mit der Einwanderung verbunden sind. Wir werben seit Jahren für ein faires und transparentes Einwanderungsgesetz. Entspre-
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chende Konzepte liegen auch vor. - Herr Thümler, wenn Sie jetzt eines schreiben, dann begrüßen wir das sehr.
(Heiterkeit bei den GRÜNEN - Gegen-ruf von Björn Thümler [CDU]: Was gibt es denn da zu lachen?)
Aber eine Klassifizierung rein nach Arbeitskraft, Alter, Größe oder arbeitsmarktbezogenen Merkma-len wäre verfehlt, und so etwas lehnen wir auch ab. Es muss auch die Möglichkeit geben, dass Menschen mit Behinderungen einwandern können. Wie gesagt: Eine Einwanderung nach Größe wie zu Zeiten der Gastarbeiterbewegung - damals durften große Leute eben nicht einwandern - leh-nen wir ab.
(Zustimmung von Miriam Staudte [GRÜNE])
Zu einem solchen in sich schlüssigen Zuwande-rungskonzept gehört natürlich auch, dass wir die Migrationsgesellschaft gestalten. Wenn Zuwande-rung möglich ist, wandern Menschen mit kulturel-len Unterschiedlichkeiten, mit verschiedenen Iden-titäten, mit anderen Religionen zu. Es wird eine stetige Aufgaben von Politik und Gesellschaft sein, diesen Prozess zu gestalten. Unter Menschen mit Migrationshintergrund herrscht Rassismus schließ-lich genauso vor wie unter Menschen ohne Migra-tionshintergrund. Die Landesregierung hat hier innerhalb kürzester Zeit sehr viel getan. Herr Dr. Pantazis hat dies angesprochen, und ich den-ke, auch der Minister wird hierzu noch einiges sagen.
Expertinnen und Experten sagen uns, dass jegli-che Zuwanderung ein Schlüssel zum wirtschaftli-chen Erfolg ist. Auch Herr Ministerpräsident Weil hat dies im Rahmen seines Neujahrsempfangs bei der Industrie- und Handelskammer erwähnt. Zu-wanderung ist notwendig, gerade in Zeiten des demografischen Wandels. Zuwanderung zu ver-hindern, kann zu einer Wachstumsbremse werden. Das gilt auch für die Zuwanderung aus humanitä-ren Gründen.
Wir Grünen haben bereits vor einigen Jahren den Entschließungsantrag „Auswanderungstrend stop-pen - Zuwanderung erleichtern“ in den Landtag eingebracht und ein Konzept für ein Punktesystem gefordert, das die Zuwanderung nach zusammen-hängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien gestaltet. Sie, meine Damen und Herren von CDU und FDP, haben diesen Antrag seinerzeit in der Fassung eines von Ihnen eingebrachten Änderungsantrags beschlossen. Jetzt müssten Sie eigentlich nur noch den Antrag, den Sie damals beschlossen haben, wieder in den Landtag ein-bringen. Wir würden ihn unterstützen, und dann wäre alles gut.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Frau Polat. - Jetzt hat sich der Herr Innenminister gemeldet. Herr Pistorius, bitte schön!
Boris Pistorius, Minister für Inneres und Sport:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits vor fast zwei Jahren habe ich an-lässlich einer Veranstaltung des Flüchtlingsrates Niedersachsen erstmalig und sehr deutlich ein neues Zuwanderungsrecht gefordert und dies in der Folge mehrfach wiederholt, zuletzt vor zwei Wochen in der Hannoverschen Allgemeinen Zei-tung - übrigens ausdrücklich nicht als Reaktion auf Pegida und Ähnliches, sondern schon deutlich vorher aus der Einsicht heraus, dass bei uns eini-ges nicht so läuft wie es laufen könnte bzw. müss-te. Dank der FDP-Fraktion, sehr geehrter Herr Dürr, ist das hier inhaltlich also gewissermaßen wieder einmal ein Heimspiel.
Jetzt müssen wir nur noch die CDU im Bund über-zeugen, meine Damen und Herren. Dann ist der Weg frei für diesen absolut überfälligen Schritt.
(Beifall bei der SPD)
Ich lade Herrn Thümler und die CDU-Fraktion aus-drücklich ein: Leisten Sie auch auf Bundesebene Überzeugungsarbeit in dem Sinne, in dem Sie es heute Morgen hier getan haben! Nehmen Sie die Zögerer und Zauderer in der Bundes-CDU mit, die immer noch glauben, wir kämen ohne eine solche Regelung aus der Kurve des 21. Jahrhunderts!
(Zustimmung bei der SPD)
Wir sind uns in der Analyse hier völlig einig: Deutschland braucht Zuwanderung. Deutschland profitiert von Zuwanderung. Auch die Gesellschaft und die Wirtschaft sind längst von dieser Notwen-digkeit überzeugt. Deswegen ist es notwendig, dass wir endlich eine Möglichkeit für diejenigen Menschen zu schaffen, die zu uns kommen wollen, die wir auf dem Arbeitsmarkt dringend brauchen, die hier arbeiten wollen, die unsere Wirtschaftskraft
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stärken, die die Gesellschaft weiterentwickeln und die uns helfen, die demografische Entwicklung aufzufangen.
Ich begrüße daher alle Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz auch deshalb ausdrücklich, weil es endlich für jeden klar erkennbar werden lässt, worüber wir beim Thema Zuwanderung im Grunde genommen reden. Menschen, die wir hier in Deutschland als Arbeitskräfte brauchen, werden dann nicht in ein Asylsystem gezwängt, das ihnen nicht gerecht werden kann.
(Zustimmung bei der SPD)
Der Ingenieur und die Pflegekraft aus Nordafrika könnten sich dann völlig legal auf den Weg nach Deutschland machen und sich ein neues Leben aufbauen und hier den Fachkräftemangel abbauen helfen. Was wir also brauchen, sind klare gesetzli-che Vorgaben, die die Zuwanderung mit realisti-schen und realisierbaren Anforderungen regeln. Das haben wir hier in Niedersachsen schon in unserer Koalitionsvereinbarung sehr deutlich so festgelegt.
(Zustimmung bei der SPD - Petra Tiemann [SPD]: So ist es!)
Es geht aber nicht nur um gesteuerte Zuwande-rung nach dem Vorbild der USA oder von Kanada. Es ist angesichts der Zahlen und des Elends in der Welt auch und vor allem zeitlich drängend, unser jetziges Asylrecht zu modernisieren. Wir brauchen selbstverständlich weiterhin ein Asylrecht, das den Menschen, die unsere Hilfe dringend brauchen, Schutz bietet. Dieses Asylrecht muss einerseits seiner möglichen Inanspruchnahme durch Men-schen standhalten, die nicht politisch verfolgt sind, und andererseits mehr für die Integration der Men-schen tun, die vor Krieg und Verfolgung flüchten. Das funktioniert vor allem durch Arbeit.
Deshalb ist es gut, dass auch durch den Druck aus Niedersachsen der Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende erleichtert wurde. Das Arbeitsverbot, dem Asylbewerberinnen und -bewerber nach ihrer Einreise unterliegen, wurde von neun auf drei Mo-nate gekürzt. Das war zweifellos ein erster, aber eben auch nur ein erster richtiger Schritt. Wir dür-fen diese Menschen nicht zum Nichtstun verdam-men. Wir sollten ihnen vielmehr die Chance geben, während ihres Asylverfahrens einer Beschäftigung nachzugehen. Das fördert ihre Integration und die Akzeptanz in der Bevölkerung.
(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Und das gebietet die Menschenwürde genauso wie der volkswirtschaftliche Sachverstand, meine Damen und Herren.
(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN - Petra Tiemann [SPD]: So ist es!)
Es macht einfach keinen Sinn, in aller Welt mehr oder weniger erfolgreich nach Fachkräften zu su-chen, gleichzeitig aber die Potenziale links liegen zu lassen, die sich längst schon in unserem Land befinden. Ich könnte Ihnen Geschichten und Er-lebnisse im Zusammenhang mit Begegnungen mit Asylbewerbern schildern, von denen ich weiß, dass sie in wenigen Monaten abgeschoben wer-den, die gerne hier arbeiten würden und die nur den einen Weg nach Deutschland gefunden ha-ben, nämlich den über einen Asylantrag.
Es muss einfach möglich sein, Potenziale und Möglichkeiten von Asylbewerbern zu nutzen und damit auch die Integration deutlich einfacher zu machen. Um es deutlich zu sagen: Natürlich kann und wird gesteuerte Arbeitsmigration nicht durch die unsteuerbare Zuwanderung von Asylsuchen-den ersetzt werden können. Sie kann sie allerdings ergänzen. Deswegen verweise ich ausdrücklich auf den Vorstoß des Präsidenten des Bundesam-tes für Migration und Flüchtlinge aus dem vorletz-ten Jahr, der sagte: Wir brauchen eine Ausfahrt aus dem Asylverfahren!
Zwei Dinge sind bei der zukünftigen Zuwande-rungspolitik entscheidend. Wir müssen erstens Asylbewerberinnen und -bewerber frühzeitig in den Stand versetzen, sich mit ihren Potenzialen und Fähigkeiten in den Arbeitsmarkt einzubringen. Sperrwirkungen müssen abgebaut werden. Wir müssen zweitens Menschen Wege eröffnen, für qualifizierte Erwerbstätigkeit nach Deutschland einzuwandern. Diese Möglichkeiten müssen wir den Erfordernissen des Wirtschaftsstandorts Deutschland kontinuierlich anpassen. Ich kann es daher nur begrüßen, meine Damen und Herren, wenn in dieser Frage größtmöglicher Konsens in diesem Haus besteht.
Vielen Dank.
(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Minister. - Wir sind damit am Ende der Besprechung des Tagesordnungspunk-tes 3 c angelangt.
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Wir kommen nun zu dem Punkt
d) „Die Pflegekammer trägt nicht dazu bei, die drängenden Probleme im Bereich der (Alten-)Pflege zu lösen - Mit freundlichen Grü-ßen Cornelia Rundt“ - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/2752
Ich rufe den ersten Redner auf, nämlich Herrn Hilbers von der CDU-Fraktion. Herr Hilbers, Sie haben das Wort. Bitte schön!
Reinhold Hilbers (CDU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Genau mit diesem Zitat „Die Pflegekammer trägt nicht dazu bei, die drängenden Probleme im Bereich der (Alten-)pflege zu lösen - Mit freundlichen Grüßen Cornelia Rundt“ haben Sie, Frau Rundt, damals eine Stellungnahme der Freien Wohlfahrtspflege unterschrieben. An diesen Fakten hat sich bis heu-te nichts geändert.
Wir unterstützen ausdrücklich, dass sich die Be-dingungen in der Pflege ändern. Wir haben dazu auch Ideen etwa zum Abbau von Dokumentation und Bürokratie vorgelegt. Wir unterstützen auch das Vorhaben „Sozialer Tarifvertrag“ und ähnliche Dinge. Durch konkretes politisches Handeln müs-sen die Bedingungen verbessert werden.
Sie wollen nun laut Koalitionsvertrag - Sie haben das in jüngster Zeit ja auch verkündet - eine Pfle-gekammer einführen. Damit plant Rot-Grün, 70 000 Pflegefachkräfte in eine Kammer einzuglie-dern, eine Pflichtmitgliedschaft auszusprechen und zukünftig 5 Millionen Euro für Bürokratie und Per-sonal von diesem Personal erwirtschaften und zahlen zu lassen.
Die Stellungnahmen, meine Damen und Herren, sind eindeutig: Die gesamte Freie Wohlfahrtspflege ist dagegen. Sämtliche Pflegekassen haben sich ablehnend geäußert. Die kommunalen Spitzenver-bände sind dagegen. Der Sozialverband Deutsch-land ist dagegen. Die Unternehmerverbände Nie-dersachsen sind dagegen. Die private Pflege ist dagegen. Es gibt eine gemeinsame Stellungnahme von ver.di, DGB, Unternehmerverbänden und Ar-beitgeberverband Pflege, die sich eindeutig dage-gen positionieren. Ich zitiere aus diesem Blatt:
„Die aktuellen und zukünftigen Probleme in der Alten- und Gesundheitspflege werden durch eine Pflegekammer nicht gelöst. Eine solche Pflegebehörde kann nicht die hohe Arbeitsbelastung, das Problem der niedrigen Pflegesätze und schon gar nicht den Fach-kräftemangel beseitigen. Durch die geplante berufsständische Vertretung wird lediglich eine wirkungslose und teure Bürokratie auf-gebaut. Wir appellieren deshalb nachdrück-lich an die Niedersächsische Landesregie-rung, auf die Einrichtung einer Pflegekam-mer zu verzichten und die Beschäftigten nicht noch weiter durch Zwangsbeiträge zu belasten.“
Das ist so geschrieben worden.
Herr Ministerpräsident, Sie haben dazu in einem Offenen Brief von vielen Verbänden gemeinsam einen ähnlichen Appell erhalten, von diesem Vor-haben Abstand zu nehmen. Sie sind offensichtlich allein auf weiter Flur. Sie, Frau Ministerin, haben mit dieser Stellungnahme - das Zitat habe ich eben gebracht - damals mit der gesamten Freien Wohl-fahrtspflege selbst deutlich gemacht, dass Sie dagegen sind. An diesen Stellungnahmen hat sich nichts geändert. Was sich lediglich geändert hat, ist, dass Sie eine neue Position einnehmen, einen neuen Job haben und einen neuen Hut aufhaben, Frau Ministerin. Sonst hat sich nichts geändert.
(Beifall bei der CDU)
Frau Ministerin, viele von uns kommen aus dem ländlichen Raum. Dort begegnen wir unseren Menschen täglich oder wöchentlich. Da gilt ein Grundsatz: Sagen, was wir denken, und tun, was wir sagen! - Sie haben damals gesagt, was Sie darüber denken. Heute aber tun Sie nicht mehr das, was Sie denken, und Sie sagen nicht mehr das, was Sie tun. Deswegen ist das falsch. Geben Sie diese Pflegekammer auf!
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Miriam Staudte [GRÜNE]: Das steht doch so im Koalitionsvertrag!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Kollege Hilbers, eine kurze Unterbrechung. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Will, aus der gleichen Ortschaft wie Sie?
Reinhold Hilbers (CDU):
Ja.
(Dr. Stephan Siemer [CDU]: Er kennt ihn gut!)
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Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Die treffen sich regelmäßig. Das hat er auch ge-sagt.
Gerd Ludwig Will (SPD):
Herr Kollege Hilbers, können Sie mir denn erklä-ren, was Sie in den vergangenen zehn Jahren zur Verbesserung der Pflegesituation für die Pflege-kräfte selbst durchgeführt haben?
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Miriam Staudte [GRÜNE]: Das geht schnell! - Zurufe: Null!)
Reinhold Hilbers (CDU):
Wenn der Präsident mir gleich zehn Minuten Zeit gibt, werde ich das gerne beantworten.
(Zuruf von der SPD: Da reichen zehn Sekunden! - Weitere Zurufe - Unruhe)
Wir haben Etliches auf den Weg gebracht. Ich erinnere nur an die Schulgeldunterstützung in der Pflege und daran, was in Berlin durchgesetzt wor-den ist, dass nämlich Tarifverträge in der Pflege zukünftig bei den Entgeltverhandlungen anerkannt werden. Das sind nur zwei Beispiele.
Sie haben hier in den zwei Jahren materiell gar nichts für die Pflege erreicht.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Die Pflegekammer wird keines der drängenden Probleme lösen. Sie ist nämlich nicht an der Fest-setzung der Pflegesätze beteiligt. Die Entgeltver-handlungen führen die Kostenträger, der Heimträ-ger und der Sozialhilfeträger. Es wird auch keine Interessenvertretung sein, weil es eine Zwangs-mitgliedschaft gibt. Interessen können besser bei einer freiwilligen Mitgliedschaft vertreten werden. Der Fachkräftemangel wird ebenfalls nicht beho-ben.
Sie glauben doch nicht, dass sich auch nur ein junger Mensch deshalb für die Altenpflegeausbil-dung entscheidet, weil Sie eine Kammer einrich-ten?
(Dr. Stephan Siemer [CDU]: Doch, das glaubt sie!)
Das ist doch eine Utopie!
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Die Rahmenbedingungen sind nicht Gegenstand der Kammer. Kammern sollen eigentlich Berufs-pflichten und berufsorganisatorische Dinge regeln. Bei der Pflege, sowohl bei der Krankenpflege als auch bei der Altenpflege, ist das aber bundesge-setzlich geregelt. Diese Kammer kann dort über-haupt nichts regeln. Sie wird nur die Menschen mit 9 bis 10 Euro im Monat belasten. Dort werden 50 Menschen arbeiten. Die Kammer wird jährlich 4 bis 5 Millionen Euro an Kosten verursachen. So wird in der Pflege nichts erreicht!
(Dr. Stephan Siemer [CDU]: Unglaublich!)
Wissen Sie, wie man das, was Sie hier tun, nennt? - Professionelles Anscheinerwecken! Sie erreichen damit nichts Spürbares.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Fangen Sie an, substanziell etwas für die Pflege zu tun, und hören Sie auf, Ihre Showveranstaltun-gen zu machen! Nehmen Sie Abstand von einer Pflegekammer, die niemand will!
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Filiz Polat [GRÜNE]: Das stimmt doch gar nicht!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Kollege Hilbers, vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Schwarz.
Meine Damen und Herren, ich gebe einen Hinweis zur Tagesordnung. Wir überziehen jetzt doch er-heblich. Wir werden nach der Aktuellen Stunde - so ist es mit den Parlamentarischen Geschäftsfüh-rern abgesprochen - in die Mittagspause eintreten. Um 15 Uhr werden wir mit dem Tagesordnungs-punkt 4 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Krankenhausgesetzes - weitermachen.
Herr Schwarz, bitte schön!
Uwe Schwarz (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bislang waren die Interessen des Pflegepersonals nicht ausreichend gebündelt. Die Stärkung der pflegeri-schen Selbstverwaltung ist ein Instrument, um den Berufsangehörigen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen und den Stellenwert der Pflegeberufe zu erhöhen.
Wir sind daher davon überzeugt, dass eine Pflege-kammer mehr Sicherheit für Pflegekräfte und Pfle-gebedürftige schafft, eine starke Stimme für die Interessen ihrer Mitglieder ist, praxisnah Kompe-
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tenzen bündelt, Qualität und Fachexpertise ge-währleistet, vor unsachgemäßer Pflege schützt, die Pflege aufwertet, Transparenz schafft und ein star-kes Sprachrohr in der Politik ist.
„Mit der Novellierung des Heilberufegesetzes wird die Pflegekammer jetzt auf den Weg gebracht - auch ein Erfolg der Initiative der CDU-Fraktion“ - so die sozialpolitische Sprecherin Hedi Thelen nach dem einstimmigen Beschluss zur Einrichtung einer Pflegekammer in Rheinland-Pfalz am 17. De-zember 2014.
(Zurufe von der SPD und von den GRÜNEN: Aha!)
Haben Sie noch weitere Fragen Herr Hilbers, oder können wir es dabei belassen?
(Zuruf von Reinhold Hilbers [CDU])
- Ja, ich kenne das. Die Situation der Pflege ist zwischenzeitlich dramatisch. Eine Kampagne jagt die nächste, aktuell „Pflege am Boden“.
(Christian Dürr [FDP]: Was ändert die Pflegekammer daran?)
In einem sind sich alle Akteure einig, nämlich in der Analyse: beängstigender Fachkräftemangel, geringe Wertschätzung, schlechte Bezahlung. - Wenn es allerdings darum geht, dass die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen auf Augenhö-he beteiligt wird, sind sich die gleichen Akteure immer noch einig. Sie sitzen außerhalb des Ver-handlungstisches. Sie werden nicht gehört.
Dann finde ich es in der Tat auch sehr bemer-kenswert, wenn vergangene Woche Unternehmer-verbände, bpa und Gewerkschaften gleicherma-ßen gegen eine Pflegekammer schießen und die Wohlfahrtsverbände und Pflegekassen sich dem anschließen. - Übrigens: Das war in Rheinland-Pfalz genauso.
Wenn Sie einmal genauer hinsehen, meine Damen und Herren, stellen Sie fest: Auf der Seite derer, die dort schießen, sitzen bei dem Thema aus-schließlich die Arbeitgeber bzw. die Kostenträger oder die Tarifvertragsparteien.
(Christian Dürr [FDP]: Bei den Ge-werkschaften?)
- Warten Sie doch einfach ab!
Es sitzen also genau die Akteure dort am Tisch, deren originäre Aufgabe es ist und wäre und in den letzten 20 Jahren auch war, diese absolut miesen Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich zu verbessern. Und genau das, meine Damen und Herren, haben die nicht gemacht.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Die Gewerkschaften vertreten nicht die Arbeitnehmer? Ist das die Aussage?)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Schwarz, eine kurze Unterbrechung. Herr Dürr möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Uwe Schwarz (SPD):
Ja, bitte!
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Dürr!
Christian Dürr (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur, damit ich es richtig verstehe, weil das gerade neu für mich ist: Ein Sozialdemokrat sagt im Nie-dersächsischen Landtag, dass die deutschen Ge-werkschaften nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten. Habe ich Sie an der Stelle richtig verstanden?
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Björn Thümler [CDU]: Ja, haben Sie!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Schwarz, Sie haben das Wort!
Uwe Schwarz (SPD):
Ich habe gerade gesagt, dass dort Akteure gegen gleichberechtigte Teilhabe von Pflegekräften de-monstrieren, deren eigene originäre Aufgaben darin bestehen, im Rahmen der Tarifhoheit für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen.
(Zuruf von Christian Dürr [FDP])
- Wollen Sie die Antwort hören oder nicht?
Das haben sie bisher nicht gemacht. Das sollen sie bitte einmal tun, bevor sie anderen die Gleichbe-rechtigung absprechen. Das habe ich gesagt, mei-ne Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Die Antwort lautet also Ja!)
Meine Damen und Herren, die Einigkeit der Anbie-ter endet genau an der Grenze der Verbandsinter-essen. Das kann man übrigens auch beim TV So-ziales nachvollziehen. Einzig die Diakonie und
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ver.di haben bisher einen gemeinsamen Tarifver-trag auf den Weg gebracht. Ich frage mich: Wo bleiben eigentlich die anderen Verbände bei die-sem Thema, die auch hier immer Unterstützung und Solidarität eingefordert haben?
Die Pflegekräfte sind jedenfalls diesen Umgang mit ihnen seit nunmehr über 30 Jahren leid. Sie sind deshalb der festen Überzeugung, dass sie ihre berufsständischen Angelegenheiten besser selbst in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts re-geln können.
(Reinhold Hilbers [CDU]: Das sehen aber nur wenige so!)
- Das wird überall dort so gesehen, wo die Initiati-ven auf den Weg gebracht werden. Wenn ich mich richtig erinnere, Herr Kollege Hilbers, ist das bis auf Hamburg überall der Fall.
Die neue Landesregierung hat einen „Arbeitskreis Dialog Pflegekammer“ eingerichtet und diverse regionale Veranstaltungen gemacht. Sie hat das Ergebnis der Befragung der Vorgängerregierung ernst genommen, wo sich 67 % der Pflegekräfte für die Einrichtung einer Kammer ausgesprochen haben.
(Reinhold Hilbers [CDU]: Aber nicht für die Zwangsmitgliedschaft!)
Mehr Basisdemokratie kann man doch nicht ma-chen! Sie können sich doch nicht hinterher darüber aufregen, dass Sie ein anderes Ergebnis bekom-men haben, als Ihnen lieb gewesen wäre, meine Damen und Herren!
(Jörg Hillmer [CDU]: Sie können das Ergebnis nicht einfach uminterpretie-ren!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Es gibt noch einmal die Bitte für eine Zwischenfra-ge von Herrn Hilbers.
Uwe Schwarz (SPD):
Bitte!
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Bitte schön, Herr Hilbers!
Reinhold Hilbers (CDU):
Herr Kollege Schwarz, können Sie noch einmal die Zahl nennen, wie viele sich im Rahmen dieser Umfrage für die Pflichtmitgliedschaft entschieden haben?
(Filiz Polat [GRÜNE]: Das mache ich gleich!)
Sie haben hier gerade die Zahl derjenigen ge-nannt, die sich für eine freiwillige Mitgliedschaft entschieden haben.
Uwe Schwarz (SPD):
Ich unterstelle Ihnen, dass Sie das selbst wissen, aber ich kann Ihnen das auch sagen: 67 % haben sich für eine Kammer ausgesprochen und 42 % für eine Pflichtmitgliedschaft und einen Pflichtbeitrag.
(Christian Grascha [FDP]: Das ist we-niger als die Hälfte! - Zuruf von der CDU: Das ist die Minderheit!)
Das ist zu Beginn dieser Frage eine ausgespro-chen hohe Quote gewesen. Deshalb sind ja auch die entsprechenden Veranstaltungen notwendig, um darüber zu unterrichten. Die Mehrheit sind 67 %. Sie werden doch wissen, was bei einer Um-frage die Mehrheit ist.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Helge Limburg [GRÜNE]: Das wissen die schon lange nicht mehr!)
Meine Damen und Herren, es ist doch Ihre Ange-legenheit, wie Sie mit den Pflegekräften umgehen. Es gibt ja auch relativ viel Unterstützung. Es gibt ja nicht nur Gegnerschaft. Ich denke da beispielswei-se an die ver.di-Gruppe an der Medizinischen Hochschule oder an die elf Krankenhäuser im Os-nabrücker Umland, die immerhin 4 500 Pflegekräf-te vertreten.
Meine Damen und Herren, wir begrüßen das klare Votum zugunsten der Pflegekammer. „Während die CDU bereits im Jahr 2010 einen entsprechen-den Parteitagsbeschluss gefasst hat, ist die Lan-desregierung erst spät aus dem Winterschlaf er-wacht“, so wiederum die sozialpolitische Spreche-rin der CDU-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz.
Ich habe den Eindruck, die CDU in Niedersachsen ist noch nicht aus dem Winterschlaf erwacht. Ich finde, Sie sollten einmal eine Schulung bei Ihren Kolleginnen und Kollegen in Rheinland-Pfalz ma-chen, warum die zu diesem eindeutigen Ergebnis gekommen sind.
Sie sollten aufhören, bei jedem Thema nur mit Pawlowschen Reflexen zu arbeiten, und die Inte-ressen der Pflegekräfte in diesem Land endlich einmal ernst nehmen, anstatt sie mit solchen Re-
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den noch zusätzlich zu veralbern, meine Damen und Herren!
(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Schwarz. - Jetzt hat Sylvia Bruns, FDP-Fraktion, das Wort. Bitte schön, Frau Bruns!
Sylvia Bruns (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die von den Regierungsparteien ge-plante Einrichtung einer Pflegekammer wird kont-rovers diskutiert. Das ist auch gut so.
Vor mehr als einer Woche nahm ein breites Bünd-nis aus Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbän-den Stellung: Eine Pflegekammer wird abgelehnt. - Dieser Meinung haben sich noch andere ange-schlossen: Der Landkreistag, der Städte- und Ge-meindebund, der Verband der Ersatzkassen - also der Verband aller sechs Ersatzkassen, die in Nie-dersachsen mehr als 2,6 Millionen Menschen ver-sichern -, auch der Sozialverband Deutschland und die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen sprechen sich gegen die Einrichtung einer Pflegekammer aus. Dennoch bleibt diese Kritik ungehört.
Es ist richtig, dass im Jahr 2012/2013 eine Umfra-ge zur Pflegekammer stattgefunden hat. Lediglich 1 039 Pflegekräfte haben daran teilgenommen und damit nur 1,5 % der 70 000 Betroffenen.
(Zuruf von den GRÜNEN: Sehr reprä-sentativ! - Zuruf von der CDU: Oh, Mehrheit ist Mehrheit!)
Von diesen 1,5 % haben lediglich 31 % - das sind 322 Personen - der Befragten erklärt, dass sie vorher schon gut informiert gewesen seien, was sie von einer Kammer zu erwarten haben.
Ja, es ist richtig, dass in dieser Umfrage eine Mehrheit für die Kammer war. Zu beachten sind aber auch folgende Zahlen: 47 % der Befragten sind gegen eine Zwangsmitgliedschaft, nur 42 % dafür. Das sind insgesamt 424 Stimmen.
DGB, ver.di und bpa haben schon über 5 000 Stimmen gegen eine Einführung gesammelt. De-mokratische Legitimation sieht anders aus!
(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)
Nun zum Konstrukt einer Kammer. Eine Kammer beinhaltet immer eine Zwangsmitgliedschaft. Das liegt nicht in den Händen der politischen Gestalter, sondern am juristischen Konstrukt einer Kammer. Es müssen alle Pflegekräfte Mitglied werden. Es wird also eine Zwangsmitgliedschaft werden.
Anders als bei Berufsstandswerken von Ärzten oder Apothekern, die freiberuflich tätig sind, soll die Pflegekammer kein Versorgungswerk beinhalten. Das wäre zumindest einmal ein Goody, aber das bleibt außen vor. Das gilt genauso hinsichtlich der Pflegehilfskräfte; das sind fast 50 % der Mitarbei-ter.
Wenn also eine Kammer zur Stärkung des Pflege-berufs beitragen soll, ist das an dieser Stelle schon kläglich misslungen.
(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)
Kommen wir nun zu den Aufgaben einer Kammer. Eine Kammer hat immer die Aufgabe zu kontrollie-ren. Aber unter zu wenig Kontrolle leidet die Pflege nicht. Die geplante Pflegekammer wird nicht dort mitreden können, wo die Musik spielt, nämlich bei den Lohnverhandlungen oder bei der Finanzie-rung.
Genau die Punkte, die wichtig wären, wie die Ent-lohnung und die Arbeitsbedingungen, bleiben au-ßen vor.
Da kann man doch wirklich fragen: Welchen kon-kreten Nutzen hat die Kammer? - Aus meiner Sicht keinen.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Interessant wird es dann auch, wenn man sich das Rechtsgutachten von Rechtsanwalt Deter ansieht. Dort wird eine umfassende Abwägung zwischen Nutzen einer Kammer und deren Belastungen für Steuerzahler und Mitglieder vorgenommen. Der Kammerbeitrag ist für die Pflegekräfte definitiv eine Nettolohnkürzung. Rechnet man dann die Kosten hoch, die eine Kammer haben wird - dies anhand der Kosten für die Ärztekammer, die ungefähr nur die Hälfte der Mitglieder hat -, kann man ganz schnell ersehen, dass der im Raum stehende Bei-trag von 6 bis 10 Euro niemals ausreichen wird. Der Rest wird steuerfinanziert werden.
Ein Zitat von Hartmut Tölle, Vorsitzender des DGB-Bezirks Hannover:
„Eine Zwangskammer für Pflegekräfte, die abhängig beschäftigt und nicht wie Ärzte,
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Architekten oder Rechtsanwälte selbststän-dig sind, macht überhaupt keinen Sinn.“
(Christian Dürr [FDP]: Das ist genau der Punkt!)
„Wir lehnen die Zwangsmitgliedschaft des-halb ebenso wie den geplanten Zwangsbei-trag von jährlich vorerst 96 Euro entschieden ab. Wir gehen davon aus, dass dieser Bei-trag schon bald auf rund 120 Euro steigen wird. Dies käme einer zwangsweisen Ge-haltskürzung gleich, ohne dass die Pflege-kräfte dadurch einen Nutzen hätten. Auch die Studie des Sozialministeriums von 2013 belegt, dass 47 Prozent der befragten Pfle-gekräfte einen Zwangsbeitrag ablehnen.“
Herausgehoben wird immer, dass nun endlich Fortbildungen gemacht werden müssen. Fortbil-dungen sind aber heute schon Teil der Rahmen-verträge; die sind für Pflegende und für Personal selbstverständlich.
Außerdem vergessen Sie eines: Auch bei der Pfle-gequalität greift schon das Bundesrecht.
Frau Ministerin, ich kann an dieser Stelle nur an Sie appellieren: Lassen Sie uns alle in diesem Haus an einer gesellschaftlichen Wertschätzung und auch an einer materiellen Wertschätzung von Pflege arbeiten! Kehren Sie zu Ihren Wurzeln zu-rück und lehnen die Pflegekammer ab! Diese Posi-tion hatten Sie zumindest noch im April 2010, und sie war richtig und gut.
(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)
Hören Sie auf die kritischen Stimmen von DGB, ver.di, bpa, LAG, Privaten, Sozialverband, Freie Wohlfahrt, Niedersächsischer Landkreistag und Niedersächsischer Städtebund! Damit würden Sie der Pflege helfen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Frau Bruns. - Jetzt hat sich Filiz Po-lat, Bündnis 90/Die Grünen, zu Wort gemeldet. Bitte schön!
Filiz Polat (GRÜNE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU-Fraktion in Niedersachsen hat sich seit dem Regierungswechsel nun aus der Deckung gewagt, um sich offiziell von einer Pfle-gekammer in Niedersachsen zu verabschieden.
(Zuruf von Reinhold Hilbers [CDU])
Sie lassen die Pflegekräfte, Herr Hilbers, damit im Stich. Ja, Sie lassen sie im Stich. Denn gerade jetzt, wo sich Arbeitgeberverbände und Gewerk-schaften in Niedersachsen gegen die Pflegekam-mer zusammengeschlossen haben, bedarf es doch eines Schulterschlusses mit den Pflegekräften, meine Damen und Herren. Denn einmal mehr hat die Pressekonferenz dieser beiden Verbände in der letzten Woche gezeigt, dass wieder über die Pflegenden gesprochen wurde anstatt mit ihnen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu-stimmung von Uwe Schwarz [SPD])
Unsere Fraktion steht an der Seite der Pflegekräfte und wird die Landesregierung und vor allem Frau Ministerin Rundt weiterhin darin bestärken, den konsequenten Weg zur Einrichtung einer Pflege-kammer fortzusetzen.
Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat sich in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen den Prüfauftrag zur Einrichtung einer Pflegekammer in Niedersachsen sehr intensiv gestellt. Es wurden auch intensive Gespräche sowohl mit Befürwortern als auch mit Gegnern - mit Gegnern, die selbst nicht Pflegekräfte sind, sondern Kostenträger wie die Kassen, Frau Bruns - und mit Akteuren geführt. Die Eckpunkte zur Einrichtung einer Kammer wurden in vielen regionalen Veranstaltungen breit diskutiert.
Selbstverständlich wurde - wie bereits in der letz-ten Legislaturperiode; Herr Dr. Matthiesen wird das wissen - der mit einem kammertypischen Pflicht-mitgliedschaftsbeitrag einhergehende Grund-rechtseingriff sorgfältig geprüft. Das ist auch not-wendig, weil nur so eine Kammer legitim ist.
Ich möchte auch in Erinnerung rufen, dass bereits in der vorherigen Legislaturperiode im Rahmen der Anhörung, die der Sozialausschuss zur Frage der Einrichtung einer Pflegekammer durchgeführt hat, rund 20 Verbände angehört worden sind. Diese haben mehrheitlich für eine Kammer votiert. Zwei Verbände, Frau Bruns, haben sich allerdings im-mer klar gegen die Kammer ausgesprochen: der bpa und ver.di.
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Herr Hilbers, die noch unter Ihrer Ministerin erfolg-te repräsentative Umfrage - Frau Bruns, da können Sie 2 000 oder 3 000 befragen, es kommen immer die 67 % heraus; das ist die Normalverteilung; es ist auch wichtig, dass man die Unterschriften bei den Pflegekräften sammelt und nicht bei Kassen-patienten oder bei wem auch immer, der da unter-schreibt; denn es geht um die Pflegekräfte und um deren Meinung - hat ein deutliches Votum gezeigt, Herr Hilbers. Ich möchte auch, dass Sie das aner-kennen, gerade wenn Sie vor Ort mit den Pflege-kräften in der Grafschaft Bentheim sprechen.
(Reinhold Hilbers [CDU]: Die wollen keine Pflegekammer!)
Denn was sind die Ergebnisse? - Ich möchte hier einmal ausgewählte Ergebnisse der Umfrage dar-stellen, weil das doch noch einmal wichtig ist. Es wird ja jetzt immer davon gesprochen, wie reprä-sentativ denn die Umfrage war, die Aygül Özkan in Auftrag gegeben hat.
67 % der Befragten insgesamt sind grundsätzlich für die Einrichtung einer Pflegekammer
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Ja, das ist ja schon mal was!)
und nur 13 % - bei der Umfrage durch Ihre Ministe-rin! - dagegen. 14 % antworten neutral.
Je informierter die Befragten sind - ich sage das auch noch einmal in Richtung von Herrn Steinhoff, mit dem ich mich gestern getroffen habe, Herr Schwarz -, desto mehr Zustimmung findet die Pfle-gekammer. 83 % der mit dem Thema vertrauten Befragten befürworten die Pflegekammer.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Auch das stellen Sie ja immer wieder infrage.
In allen Gruppierungen - das ist auch wichtig -, ob Berufsgruppe, Tätigkeitsfeld, Position, Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung oder Kenntnisstand zum Thema Pflegekammer, stimmte ausnahmslos die Mehrheit für eine Pflegekammer.
Jetzt noch eine wichtige Zahl, Frau Bruns: 42 % haben sich dagegen ausgesprochen. Aber bei einer weiteren Frage - das muss man gerade auch bei Statistiken, wenn man sie auswertet, in Bezug setzen - akzeptieren 63 % eine Beitragshöhe von 5 bis 9 Euro. Davon würden 19 % bis zu 14 Euro und 9 % sogar noch mehr akzeptieren. Das sind die entscheidenden Antworten, die wir für die Ein-führung einer Kammer brauchten. Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich, meine Damen und Her-ren.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Zum Schluss, weil wir ja nicht über die Pflegekräfte sprechen wollen, sondern darüber, was die Pfle-gekräfte sagen: Was erwarten die Pflegekräfte selbst von ihrer Kammer? - Auch das wurde abge-fragt. - Die Pflegekräfte glauben - das bewegt sich immer bei 60 %, 70 %, 80 % -, dass die Qualität der Pflege durch die Selbstverwaltung nachhaltig gestärkt werde. Die Pflegekräfte wollen nicht alle Regelungen uns Politikern überlassen. Sie wollen, dass die Pflege mit einer Pflegekammer eine ein-heitliche und damit stärkere Stimme in der Politik und in der Öffentlichkeit bekommt, und sie sehen in der Pflegekammer die Aufwertung des Berufs-standes.
Meine Damen und Herren, geben wir den Pflege-kräften diese Stimme, unterstützen wir sie bitte mehrheitlich in ihrem Wunsch zur Einrichtung einer Kammer!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Frau Polat. - Jetzt hat sich die Frau Ministerin zu Wort gemeldet. Frau Ministerin Rundt, Sie haben das Wort.
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir können ja einmal ohne Polemik über die Pflegekammer diskutieren. Dazu, was die Pfle-gekräfte zur Einrichtung der Kammer sagen, liegen uns ja die Fakten vor.
(Christian Grascha [FDP]: Mich würde interessieren, was Sie eigentlich dazu sagen!)
Vor mehr als zwei Jahren hat Infratest dimap, also ein bekanntes und renommiertes Unternehmen, eine ganz deutlich repräsentative Umfrage unter niedersächsischen Pflegefachkräften durchgeführt. Bekanntermaßen haben sich 67 % der Befragten für die Gründung der Pflegekammer ausgespro-chen. Das entspricht auch dem jetzigen Verhalten. Auch wenn die Verbände im Moment große Pres-sekampagnen durchführen, habe ich inzwischen mehrere Tausend Unterschriften von den Pflege-
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kräften selber bekommen, die sich für eine Pflege-kammer aussprechen.
(Reinhold Hilbers [CDU]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Ihrem Sinnes-wandel und nicht zu den Verbänden!)
Ich bin der Ansicht, dass bei der Gründung eines Selbstverwaltungsorgans insbesondere die Mei-nung derer, die es angeht, zählen muss. Das ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen not-wendig, weil die Errichtung einer Kammer nämlich dann alleine verfassungskonform ist, wenn die Mehrheit der Pflegefachkräfte eine berufsständi-sche Vertretung in Form einer Kammer wünscht. Das bestätigt das Rechtsgutachten zur Pflege-kammer aus dem Jahr 2012, und - es ist gesagt worden - sowohl das Rechtsgutachten als auch die Umfrage stammen aus einer Zeit, in der die heuti-gen Oppositionsfraktionen das Thema Pflege-kammer noch auf ihre Fahnen geschrieben hatten.
Die Menschen, die in der Pflege tätig sind, leisten harte und für die Gesellschaft unverzichtbare Ar-beit, aber die entsprechende Anerkennung und die erforderliche Unterstützung bleiben ihnen oft ver-wehrt. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass eine Pflegekammer nicht alle drängenden Probleme zu lösen vermag, dass sie aber eine wesentliche und flankierende Maßnahme und damit ein Teil der Lösung sein kann. Arbeitsverdichtung, familienun-freundliche Arbeitszeiten und nicht tarifgerechte Bezahlung sind nur drei von vielen Herausforde-rungen, die angegangen werden müssen, wenn Fachkräftemangel nicht die Ursache für ein frühzei-tiges Aus der flächendeckenden Pflege in Nieder-sachsen werden soll.
Die Landesregierung hat eine Vielzahl von Maß-nahmen ergriffen und sich den Herausforderun-gen, die uns der demografische Wandel aufgibt, gestellt. Die gesetzliche Absicherung der Schul-geldfreiheit im Bereich der Altenpflegeausbildung ist bereits umgesetzt. An der Einführung einer solidarischen Umlagefinanzierung für Ausbildungs-vergütungen wird gearbeitet. Die Umsetzung einer neuen, unbürokratischen Dokumentation ist ange-stoßen, und die Tarifpartner können mit einem für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrag Soziales das Ihre tun.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Pflege-kammer neben all diesen Maßnahmen einen Bei-trag dazu leisten kann, die Situation der Pflege und der in der Pflege Beschäftigten zu verbessern. Mit der Kammer erhält die Pflege eine demokratisch legitimierte berufspolitische Vertretung. Sie kann alle rund 70 000 Pflegefachkräfte mit einer starken Stimme sprechen lassen. Mit einer Selbstverwal-tung befreit sich die Pflege von der Fremdbestim-mung. Sie erhält das Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, und die Pflegekammer wird das Selbstverständnis und die öffentliche Wahrneh-mung des pflegerischen Berufsstandes positiv verändern.
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilbers?
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung:
Nein, die gestatte ich nicht.
(Björn Thümler [CDU]: Dann muss er doch wieder reden!)
Pflege muss endlich als eigenständige Profession und als wichtiger Player im Gesundheitswesen anerkannt werden. Wer könnte bessere Impulse zur Weiterentwicklung der Pflegepraxis geben als die Pflege selber? Die Kammer wird z. B. Stan-dards zur Pflegequalität definieren können und auf diese Weise eine fachgerechte und professionelle Pflege der Bevölkerung sicherstellen.
Vor einem Monat - wir haben es gehört - ist im rheinland-pfälzischen Landtag das Gesetz zur Errichtung einer Pflegekammer über sämtliche Parteigrenzen hinweg einstimmig verabschiedet worden. Ich würde mir wünschen, dass wir in Nie-dersachsen ebenfalls zu einer solchen wirklich sachorientierten Diskussion zurückfinden.
Lassen Sie uns der Öffentlichkeit vor Augen füh-ren, dass wir den hohen Wert der Pflege wirklich anerkennen. Lassen Sie uns der Pflege und den dort Beschäftigten durch eine Kammer eine kraft-volle Stimme geben.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Besprechung zu Punkt c) und insgesamt am Ende der Aktuellen Stunde ange-kommen.
Eine kleine zeitliche Veränderung müssen wir noch bekanntgeben: Wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Die Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
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Änderung des Niedersächsischen Krankenhaus-gesetzes wird auf den Nachmittag verlegt. Aller-dings werden wir schon um 14.30 Uhr wieder be-ginnen. Ich denke, dass die Zeit genügt und wir eine ordentliche Mittagspause haben können.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Mittagspause. Um 14.30 Uhr sehen wir uns alle gestärkt und voller Kraft wieder.
(Unterbrechung der Sitzung von 13.06 Uhr bis 14.33 Uhr)
Präsident Bernd Busemann:
Meine Damen und Herren! Wir treten jetzt in die nachmittäglichen Beratungen ein.
Wir kommen zum
Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Nie-dersächsischen Krankenhausgesetzes - Ge-setzentwurf der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2709
Der Gesetzentwurf wird durch die SPD-Fraktion eingebracht. Für diese spricht Herr Kollege Schwarz. Bitte sehr!
Uwe Schwarz (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Gesundheitswesen gilt als eines der besten in der Welt. Trotzdem wird unser Gesundheitswesen immer wieder von nicht unerheblichen Skandalen erschüttert.
2002. Einer der größten Betrugsskandale in dreistelliger Millionenhöhe. Im sogenannten Zahn-ersatzskandal wurde für teures Geld Billigzahner-satz aus Asien abgegeben und hier zulasten der Krankenversicherung abgerechnet.
2004. Die niedersächsischen Kieferorthopäden gaben im großen Stil ihre Kassenzulassungen zurück. Angefeuert vom damaligen Vorsitzenden der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Nieder-sachsen, Herrn Dr. Schirbort, wollten und sollten sie nur auf privatärztlicher Basis ohne Kontrolle der Krankenkassen behandeln. So sollte eine System-änderung unseres Gesundheitssystems erzwun-gen werden. Die Leidtragenden waren damals insbesondere Kinder. Der Bundesdatenschutzbe-auftragte und der Bundespatientenschutzbeauf-tragte hatten außerordentlich viel zu tun. Letztend-lich übernahmen die Krankenkassen den Sicher-stellungsauftrag.
2012. Transplantationsskandal an der Universi-tätsklinik Göttingen. Dialyseprotokolle und Labor-werte wurden gefälscht, damit Patientinnen und Patienten nach Aktenlage kranker wirkten, als sie tatsächlich waren. Dadurch kamen sie schneller an eine Spenderleber. Dieser Skandal hat noch heute erhebliche Auswirkungen in Form erheblich zu-rückgegangener Bereitschaft bei der Organspen-de.
2012. Ambulante Pflegedienste handeln unterein-ander mit Intensivpatienten. Für möglichst jüngere Leute, die noch 10 bis 20 Jahre leben und rund um die Uhr betreut werden müssen, fließen zwischen 40 000 und 60 000 Euro. Immerhin können die Käufer mit Profiten von über 4 000 Euro im Monat bei diesen zu behandelnden Personen rechnen.
2013 folgt der große Skandal um schadhafte und stark gesundheitsschädigende Brustimplantate, die viele Frauen zu einer zweiten Operation zwingen. Er macht aber auch die Schwächen deutlich, die in unserem Zulassungssystem für Medizinprodukte vorhanden sind.
Ende 2014 erschüttert ein Skandal mit in Indien gefälschten Medikamentenstudien unser Land. 80 Zulassungen für Medikamente wurden sofort in Deutschland vom Markt genommen. Überprüft werden derzeit noch weit über 1 000 Medikamente, ob deren Zulassung ebenfalls auf gefälschten Stu-dien beruht.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Liste könnte noch erheblich fortge-setzt werden. So sicher, wie wir seit Jahren in un-regelmäßigen Abständen mit Skandalen der Er-nährungswirtschaft konfrontiert werden, so sicher wird das auch in Zukunft im Gesundheitswesen nicht auszuschließen sein. Im Vordergrund dieser Skandale steht in diesem großen Gesundheits-markt vor allem die Gewinnmaximierung Einzelner oder auch von Gruppen, teilweise verbunden mit einer nicht unerheblichen kriminellen Energie.
Der Schaden ist allerdings nicht nur volkswirt-schaftlich beachtlich, sondern er erschüttert das Vertrauen in unser Gesundheitssystem nachhaltig. Patientinnen und Patienten fühlen sich ausgeliefert und haben noch zusätzlich Angst, in ein Kranken-haus oder in ein Pflegeheim zu gehen. Dafür gibt es allerdings nach meiner Überzeugung keinen wirklichen Grund. In Deutschland arbeiten rund 4,2 Millionen Menschen im Gesundheitswesen,
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allein in der Pflege 1,2 Millionen Menschen. Ich behaupte, 99,9 % von ihnen leisten in ihrem Beruf eine aufopferungsvolle Arbeit - teilweise unter schlechten Rahmenbedingungen. Wir haben hier-über oft diskutiert.
Wir haben auch zur Kenntnis genommen, dass eine beschleunigte Privatisierung mit verminderten Kontrollmöglichkeiten durch den Staat durchaus Risiken in sich birgt. Ich verweise nur auf die Ab-gabe der Arzneimittelkontrolle aus staatlicher Kompetenz oder auf die Privatisierung der Lan-deskrankenhäuser hier in Niedersachsen. Die Rahmenbedingungen für Patientinnen und Patien-ten sind dadurch, was die Kontrollmechanismen betrifft, mit Sicherheit nicht besser geworden.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wir müssen also auf der einen Seite die Patienten-sicherheit, den Patientenschutz und die staatlichen Kontrollmöglichkeiten verbessern, aber auf der anderen Seite gilt es genauso nachdrücklich, die Beschäftigten im Gesundheitswesen vor einem Generalverdacht zu schützen. Eines dieser Instru-mente, wenn auch nicht das einzige, ist die Schaf-fung von unabhängigen vertrauenswürdigen An-laufstellen im Gesundheitswesen. Die Patienten-beauftragten könnten solche Stellen sein.
Bereits bei der letzten Novelle des Niedersächsi-schen Krankenhausgesetzes im Jahre 2012 haben SPD und Grüne einen entsprechenden Vorschlag eingebracht. Die damalige CDU/FDP-Landesregie-rung und die sie tragenden Fraktionen haben die-sen Vorschlag seinerzeit vehement abgelehnt. In dem von Rot-Grün vor einigen Monaten vorgeleg-ten Antrag zur Weiterentwicklung der Kranken-hauslandschaft haben wir diesen Vorschlag wieder aufgegriffen.
Im Zusammenhang mit den bereits zugegebenen Tötungen von 30 Patientinnen und Patienten sowie 60 weiteren Mordversuchen durch den mutmaßli-chen Massenmörder Niels H. hat der CDU-Frak-tionsvorsitzende Herr Thümler in einer Pressemit-teilung die Forderung nach Einrichtung von Om-budsstellen erhoben.
Meine Damen und Herren, wir sind uns sicher - - -
(Unruhe)
Präsident Bernd Busemann:
Herr Kollege, einen Moment! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt zu viel Gemurmel im Plenum. Das ist nicht gut und auch dem Redner gegenüber nicht fair. Auch die Randgespräche, Kollegen Matthiesen, Jasper und Limburg, bitte ich einzu-stellen. - Danke. Jetzt geht es weiter.
Uwe Schwarz (SPD):
Ich komme zurück auf die Aussage von Herrn Thümler, meine Damen und Herren. Wir sind uns sicherlich einig, dass durch die Einrichtung einer solchen Stelle vermutlich kein einziger der verüb-ten Morde hätte verhindert werden können. Wir sind uns aber vielleicht auch darin einig, dass wir dennoch sehr ortsnah Anlaufstellen für verunsi-cherte und besorgte Patientinnen und Patienten schaffen sollten. SPD und Grüne haben daher heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der jedes Krankenhaus in Niedersachsen verpflichtet, min-destens eine bzw. einen Patientenbeauftragten und einen Stellvertreter zu berufen. Die Amtsperi-ode beträgt fünf Jahre. Diese Personen sind unab-hängig, dürfen nicht im Krankenhaus beschäftigt sein und unterliegen nicht den Weisungen dieses Hauses. Die erstmalige Berufung soll bis zum 1. Juli dieses Jahres erfolgen. Wir folgen damit den Vorbildern aus bereits zehn anderen Bundeslän-dern, wobei wir uns inhaltlich weitgehend an Nord-rhein-Westfalen, Thüringen bzw. dem Saarland orientiert haben.
Die Patientenbeauftragten sollen regelmäßig Sprechstunden im Krankenhaus abhalten und als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner Anre-gungen und Beschwerden von Patientinnen und Patienten bzw. deren Angehörigen entgegenneh-men und prüfen. Sie vertreten deren Anliegen ge-genüber dem Krankenhaus und den zuständigen Behörden. Die Beauftragten legen gegenüber dem Sozialministerium und dem Krankenhausträger - mit Ausnahme von besonders dringlichen Fällen - einen regelmäßigen jährlichen Erfahrungsbericht vor. Das Krankenhaus ist zur Zusammenarbeit mit der oder dem Beauftragten verpflichtet. Es geht den vorgebrachten Hinweisen nach, erteilt ihnen die notwendigen Auskünfte und gewährt ihnen Zutritt.
Meine Damen und Herren, für uns ist das ein ers-ter überfälliger Schritt, den Patientenschutz und die Patientensicherheit in Niedersachsen zu ver-bessern. Aber bei diesem alleinigen Schritt kann und wird es nicht bleiben. Das darf ich schon heute ankündigen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
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Ich bin mir sicher, dass dieses Mehr an Transpa-renz und Patientenschutz auch im Interesse unse-rer Krankenhäuser liegen müsste. Ich bitte schon heute das Sozialministerium, Erfahrungsberichte mit den Patientenbeauftragten in den anderen Bundesländern für die Ausschussberatungen ein-zuholen. Insbesondere sollte es dabei auch um die Fragen der Aufgaben im Detail, deren Qualifikation und die Höhe der Aufwandsentschädigung gehen sowie um die Zusammenarbeit mit der jeweiligen Aufsichtsbehörde.
In diesem Sinne werden wir meines Erachtens heute einen wichtigen Punkt anstoßen. Ich freue mich auf eine sorgfältige, aber natürlich auch sehr zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege Schwarz. Auch tech-nisch, was die Redezeit anbelangt, war es eine Punktlandung.
Der Gesetzentwurf wurde ja nicht nur von der Fraktion der SPD eingebracht, sondern auch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Für diese spricht jetzt unser Kollege Thomas Schremmer. Bitte sehr!
Thomas Schremmer (GRÜNE):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Patientensicherheit und Patientenschutz als verbindlicher Qualitätsstandard in Krankenhäusern sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf versu-chen wir einen Teil dieser Selbstverständlichkeit einzulösen.
Selbstverständlich ist auch, dass wir dies vor dem Hintergrund der schrecklichen Patientenmorde vorziehen wollen, wie der Kollege Schwarz das gesagt hat. Ich denke, das ist ein richtiger Schritt, um auch den Angehörigen und den Patientinnen und Patienten ein bisschen mehr Sicherheit und Verbindlichkeit zu geben.
Wenn man sich die Berichterstattung der Unab-hängigen Patientenberatung Deutschlands oder der Deutschen Stiftung Patientenschutz anschaut, ist durchaus eine Zunahme des Bedarfs an Bera-tung von Patientinnen und Patienten außerhalb der Krankenhäuser festzustellen. Wir meinen aller-dings, dass es auch innerhalb der Einrichtungen geschehen soll.
Angehörige und Patientinnen und Patienten müs-sen trotz der Alltagshektik und der oft systemim-manenten Aneinander-vorbei-Kommunikation - die Fachsprache ist in der Regel nicht alltagstauglich - unabhängige Ansprechpartnerinnen und An-sprechpartner bekommen. Das soll nicht gegen das Pflege- und Ärztepersonal gerichtet sein, ich denke aber, dass in der Hektik des Alltages die Gespräche mit den Patientinnen und Patienten zumindest in den letzten Jahren sicherlich nicht so einfach gewesen sind.
Ein Teil des Problems ist die zunehmende Öko-nomisierung, der stark ausgeprägte Wettbewerb um Patientinnen und Patienten. Das Personal ist meistens zu knapp bemessen, zuhörende Beglei-tung in der Pflege findet nicht statt, und die Häu-ser - das hat sich in der Presseberichterstattung um die Patientenmorde auch herausgestellt - sind zwangsläufig zu stark von der Angst um ihr Image getrieben. Deshalb ist die Gefahr möglicherweise größer, nicht aktiv nach Problemen Ausschau zu halten.
Herr Kollege Schwarz hat es angesprochen, das Thema ist nicht neu. Wir Grüne haben schon im-mer gesagt, dass eine unabhängige Patientenbe-ratung auch im Krankenhaus ein wichtiger Teil des Qualitätszirkels sein soll. In Oppositionszeiten hatten wir dieses Thema aufgegriffen. Innerhalb der grünen Fraktion, der ich damals noch nicht angehörte, haben wir Patientenfürsprecher aus anderen Bundesländern gehört. Da ist immer wie-der gesagt worden, dass sich die innerkranken-häusliche Diskussions- und Beteiligungskultur mit der Berufung eines Beauftragten/einer Beauftrag-ten erheblich ändert. Allein das Dasein sorgt dafür, dass plötzlich viel mehr Bereitschaft vorhanden ist, die Handlungsabläufe im Krankenhaus zu erklä-ren, auch wenn das mancher oder manchem viel-leicht lästig erscheint.
Man muss sagen, dass dies im Zusammenhang mit den Patientenmorden, die der Kollege Schwarz bereits angesprochen hat, sicherlich ein kleiner Schritt ist. Es wird auch nicht so sein, dass Miss-stände durch eine Patientenbeauftragte bzw. einen Patientenbeauftragten komplett verhindert werden können. Aber bei den Patientenmorden geht es um Aufklärung. Ich denke, wenn es in allen Kranken-häusern Patientenbeauftragte gibt, sind solche Vorkommnisse in der Regel viel schwieriger unter dem Deckel zu halten. Ich behaupte sogar, dass es viel schwieriger sein wird, mit solchen Dingen konfrontiert zu werden, beispielsweise bei der Kon-
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trolle des Arzneimittelverbrauchs, bei der Abgabe von Arzneimitteln usw.
Deswegen teile ich auch ausdrücklich die Ein-schätzung der Ministerin, dass die Gesetzgebung im Bund eine zusätzliche Qualitätskontrolle mit Sanktionsmöglichkeiten einfügen solle. Das wäre sicherlich keine überflüssige Bürokratie. Ich glaube aber, dass auch Ministerien und wir als zuständi-ges Parlament in der Lage sein müssen, hier Auf-sicht über Kliniken, über Krankenhäuser, in denen Missstände zutage getreten sind, wahrzunehmen.
Ich finde, dass es ein richtiger Schritt wäre, hier in dieser Hinsicht das Gesetz zu ändern. Ich kann auch nicht verstehen, dass die Geschäftsführer einzelner Kliniken wie z. B. in Oldenburg sagen, das wäre überflüssige Bürokratie. Wenn es so wäre, wie die Niedersächsische Krankenhausge-sellschaft meint, dass das Qualitäts- und Be-schwerdemanagement ausreichend ist, was bisher etabliert ist, dann hätten wir sicherlich diese Dinge, wie sie in der Vergangenheit geschehen sind, so nicht erlebt. Herr Kollege Schwarz hat einige Bei-spiele genannt.
Wir wollen also - das ist der Teil, der in diesem Gesetzentwurf entscheidend ist - die Bestellung von Patientenbeauftragten zum 1. Juli 2015 wie in anderen Bundesländern ermöglichen. Die wesent-lichen Merkmale sind die Unabhängigkeit der eh-renamtlich tätigen Patientenbeauftragten, die nur im Auftrag der Patientinnen und Patienten tätig sind. Es werden Anliegen sowohl während des stationären Aufenthaltes, als auch - das ist ein wichtiger Punkt - nach dem stationären Aufenthalt in den Blick genommen, sodass auch die Dinge, die im Anschluss festgestellt werden, dem Kran-kenhaus zur Kenntnis gegeben werden können. Auch Angehörige finden Gehör, auch das haben wir in den Gesetzentwurf einfließen lassen. Die Erreichbarkeit ist unabhängig vom Klinikalltag.
Wer sagt, dass eine Aufwandsentschädigung an dieser Stelle ein Hinderungsgrund sei, der soll sich den Bericht von Oxfam, der heute durch die Zei-tungen gegangen ist, ansehen, in dem berichtet wird, dass die Milliardäre, die in der Pharma- und Gesundheitswirtschaft tätig sind, im letzten Jahr eine Erhöhung ihres Vermögens um sage und schreibe 47 % erzielt haben. Ich finde, das zeigt schon sehr deutlich, dass dort die Verhältnisse völlig falsch sind. Die Häuser werden also zur Zu-sammenarbeit verpflichtet und verpflichten sich hoffentlich dann auch ganz selbstverständlich selbst dazu. Das stärkt aus unserer Sicht das Ver-trauen der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen. Das sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Hauptsorge der Krankenhäuser sein.
Ich freue mich auf eine intensive, aber gleichwohl schnelle Beratung im Ausschuss. Aber wenn ich sehe, welche Anträge wir heute gemeinschaftlich beschließen werden, dann bin ich sehr optimis-tisch, dass uns das in diesem Fall auch gelingt.
Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege. - Es folgt jetzt für die Fraktion der FDP Kollegin Sylvia Bruns. Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!
Sylvia Bruns (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer sich in ein Krankenhaus begibt und sich dort vielleicht sogar auf den OP-Tisch begeben muss, sollte das mit höchstmöglichem Vertrauen in die Patientensicherheit tun können. Meines Erachtens ist das Gefühl des Ausgelie-fertseins nirgendwo größer als im Krankenhaus oder in Pflegeeinrichtungen.
Wie sehr dieses Vertrauen gestört werden kann, zeigt uns zum einen der aktuelle Fall in Oldenburg und zeigen zum anderen die Fälle, die Uwe Schwarz schon aufgeführt hat, u. a. der Transplan-tationsskandal in Göttingen. Die Hemmschwelle für Patienten oder Angehörige, sich über Maßnahmen zu erkundigen oder sogar zu beschweren, ist enorm hoch. Mittelpunkt und Ziel unseres gesam-ten Handelns muss aber das Wohlergehen des Patienten sein.
Laut Statistik aus dem Jahr 2012 hat Niedersach-sen 197 Krankenhäuser mit 42 204 Betten und jährlich ca. 1,6 Millionen Patienten. Für diese gilt es, größtmögliche Sicherheit und Transparenz zu erreichen. Dazu gehören zum einen die Einset-zung eines Hygienebeauftragten, wie sie schon einmal in einem Antrag gefordert wurde, und zum anderen ein niedrigschwelliges Angebot für die Patienten vor Ort. Wir finden es richtig, vor Ort anzufangen. Es ist auch richtig, die Krankenhaus-träger vor Ort damit zu beauftragen; denn sie ken-nen die Lage und die Menschen, mit denen sie zu tun haben.
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Richtig ist auch, dass die Krankenhäuser zur Zu-sammenarbeit mit den Patientenbeauftragten ver-pflichtet werden und der Patientenbeauftragte in seinem Amt nicht an Weisungen gebunden ist; denn sonst gäbe es keine Konsequenzen. An die-ser Stelle müssen wir im Ausschuss in den Dialog mit den Krankenhausträgern treten und uns mit den Bedenkenträgern sachlich auseinandersetzen.
Eine Frage, die sich mir mit Blick auf die Geset-zesänderung stellt, betrifft den vorgegebenen Zeit-rahmen bis zum 1. Juli. Den finde ich sehr sport-lich.
(Christian Dürr [FDP]: Das fällt bei den Gesetzentwürfen der Landesre-gierung immer auf!)
Hinsichtlich der Aufwandsentschädigung für das Ehrenamt - Thomas Schremmer hatte das schon angesprochen - müssen wir darüber reden, welche Kosten da entstehen und wie das mit Blick auf die Krankenhausträger gehandhabt werden soll.
Die FDP-Fraktion wird diese Gesetzesänderung auf jeden Fall positiv begleiten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und Zustimmung von Thomas Schremmer [GRÜNE])
Präsident Bernd Busemann:
Danke schön, Frau Kollegin. - Es folgt sodann für die Fraktion der CDU Frau Abgeordnete Annette Schwarz. Bitte!
Annette Schwarz (CDU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Krankenhausaufenthalten vor allem infolge schwerwiegender, teilweise auch mehrfacher Er-krankungen kommt bei Patienten und deren Ange-hörigen der Wunsch nach Begleitung, nach einem Ansprechpartner auf, insbesondere dann, wenn die Kommunikation mit dem Arzt, der Pflegenden oder der Verwaltung nicht klappt, wenn sprichwört-lich das Vertrauen fehlt.
Patientenbeauftragte als eine Form des Be-schwerdemanagements sind bereits an einigen Krankenhäusern in Niedersachsen installiert. Ich nenne als Beispiele das Bürgerhospital in Einbeck, das St.-Elisabeth-Krankenhaus in Salzgitter, das Klinikum Oldenburg oder das Klinikum Delmen-horst. Das findet dort eventuell nicht in der Form statt, wie Sie es im Gesetzentwurf formuliert ha-ben. Aber es werden bei Hinweisen offiziell - mei-netwegen bei der BKK - Patientenbeauftragte aus-gewiesen.
Auf Bundesebene gibt es den Patienten- und Pfle-gebeauftragten der Bundesregierung. Aktuell ist es der Staatssekretär Karl-Josef Laumann.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf von Rot-Grün soll die Verpflichtung verankert wer-den, dass jedes Krankenhaus in Niedersachsen für jeweils fünf Jahre einen ehrenamtlichen Patienten-beauftragten und einen Stellvertreter beruft. Bis zum 1. Juli 2015 hat das demnach zu geschehen. Weiter- und Fortbildung stehen dem Beauftragten und dem Stellvertreter zu. Und eine angemessene Aufwandsentschädigung ist zu gewähren. - So stellt sich das Rot-Grün vor.
Das führt bei uns zu einer ganzen Reihe von Fra-gen: Welche Erfahrungen haben die bisherigen Patientenbeauftragten gemacht? Konnten sie der Erwartungshaltung gerecht werden? Welche Er-gebnisse liegen vor? Oder sind sie so etwas wie ein Kummerkasten? - Das wertet die Deutsche Stiftung für Patientenschutz alles andere als posi-tiv. Denn sie sagt, dass das keine durchgreifende Wirkung hat.
Welche Qualifikation muss jemand mitbringen, der eine solche Funktion ehrenamtlich ausüben soll? Und welche Durchgriffsmöglichkeiten bestehen bzw. wären erforderlich? Wie sieht es mit Wei-sungsbefugnissen aus? Werden alle Krankenhäu-ser in Niedersachsen - das sind mehr als 180 - geeignete Leute finden, die dazu bereit sind, ent-sprechend aktiv zu werden? - Das wären dann zwei pro Krankenhaus. Gibt es andere Formen des Beschwerdemanagements, der Qualitätsverbesse-rung an den Krankenhäusern? Haben diese sich bewährt?
Und: Wer bezahlt die von Rot-Grün verpflichtend gewollten Patientenbeauftragten? - In der Begrün-dung zum Gesetzentwurf heißt es dazu: „Voraus-sichtliche Kosten und haushaltsmäßige Auswir-kungen des Gesetzentwurfs: Keine.“
Meine Damen und Herren, hier wird bestellt, ohne bezahlen zu wollen. Das wollen Sie von Rot-Grün bislang den Krankenhausträgern überlassen. Ist das in Ordnung? - Suchen Sie sich doch bitte ein-mal die Pressemitteilung der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft vom 5. Januar dieses Jahres heraus. Da wird sehr deutlich darauf hin-gewiesen, dass Personal- und Sachkostensteige-rungen in diesem Zusammenhang zukünftig voll zu
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refinanzieren seien, und zwar nicht auf Kosten der Krankenhausträger.
Meine Damen und Herren, diese Fragen stehen für die mündliche Anhörung im Ausschuss ebenso an. Es sollte klar sein - meine Kollegin Sylvia Bruns hat das hier schon gesagt -: Ein Dialog ist erforder-lich.
Es ist auch zu örtern, ob die Einführung eines Landesbeauftragten für Patienten, z. B. beim So-zialministerium angedockt, eventuell eine geeigne-te Form und zielführend ist und wie das auszuge-stalten wäre.
(Zustimmung von Dr. Max Matthiesen [CDU])
Im Zuge der Ausschussberatungen sind auch die Stellungnahmen der Akteure im Krankenhauswe-sen zu den Klinikmorden vorzulegen. Ministerin Rundt hat angekündigt, dass diese im März 2015 vorliegen sollen. Auch diese Erkenntnisse dürfen nicht unter den Tisch fallen. Die betroffenen Ange-hörigen haben ein großes Interesse daran.
Meine Damen und Herren, es geht um eine ver-trauenswürdige und vertrauensvolle medizinische und pflegerische Versorgung von Patienten in Krankenhäusern. Vertrauen zu Ärzten, zu Kran-kenpflegern und Krankenschwestern, die direkt am Bett des Patienten stehen, ist unabdingbar für den Patienten und seine Angehörigen, die diese Hilfe benötigen. Ein Generalverdacht gegenüber der Pflege ist da meines Erachtens nicht förderlich. Deswegen sollten wir in den Dialog eintreten, auch im Ausschuss. Das ist der richtige Weg. Ich bin gespannt darauf.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarz. - Es folgt nun die Landesregierung. Es spricht Frau Ministerin Rundt. Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Niedersächsischen Landesregierung ist es ein ganz besonderes Anliegen, kurzfristig Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit von Patientinnen und Patienten in einer stationären Behandlung oder Betreuung zu ermöglichen. Defi-zite müssen behoben werden. Menschen in Pfle-geheimen, in Krankenhäusern befinden sich in einer Ausnahmesituation, in der sie sich besonders hilflos fühlen und klar auf die Unterstützung von anderen angewiesen sind.
Ich halte es deshalb für sinnvoll und notwendig, in einem ersten Schritt die Krankenhäuser in Nieder-sachsen zu verpflichten, Patientenbeauftragte flächendeckend einzusetzen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Krankenhausträger ab 1. Juli 2015 mindestens eine Beauftragte bzw. einen Beauftragten sowie eine Stellvertreterin bzw. einen Stellvertreter einsetzen müssen.
Die Patientenbeauftragten haben die Aufgabe, sich persönlich um Anliegen und Beschwerden von Patientinnen und Patienten und deren Angehöri-gen zu kümmern. Sie übernehmen eine Mittlerrolle zwischen Patienten einerseits und Klinikpersonal andererseits und tragen damit zur Transparenz, Klärung und Entschärfung von Konflikten bei. Sie sind in der Lage, eventuell notwendige Verände-rungen in der Organisation des Klinikablaufs anzu-regen.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Organmit-glieder der jeweiligen Krankenhausträger dürfen nicht in diese Funktion berufen werden. Und die Funktion soll ehrenamtlich ausgeübt werden. Da-mit befinden sich die Patientenfürsprecherinnen und -fürsprecher in keinem Anstellungs- oder Ab-hängigkeitsverhältnis zum Krankenhaus. Durch diese Unabhängigkeit wird ein besonderes Maß an Vertrauen, an Akzeptanz und Glaubwürdigkeit bei den Patientinnen und Patienten und deren Ange-hörigen sichergestellt.
Bei allen Vorteilen, die die Etablierung von Patien-tenbeauftragten mit sich bringt, wird man auch hier sicher sein können, dass strafrechtliches Verhalten oder schwerwiegende Behandlungsfehler durch ehrenamtliche Patientenbeauftragte nicht zu 100 % ausgeschlossen werden können. Dennoch: In Bezug auf Patientensicherheit und Patientenori-entierung in Krankenhäusern machen wir mit die-sem Gesetzentwurf ganz sicherlich einen ersten guten Schritt.
In der Bund-Länder-Arbeitsgruppe haben wir uns dafür eingesetzt, dass auch die Qualität der Be-handlung in den Krankenhäusern Einfluss in die Krankenhausplanung nehmen soll. Nach Ab-schluss des Bundesgesetzgebungsverfahrens wird das Land deutlich mehr Möglichkeiten haben, im Landeskrankenhausgesetz qualitative Elemente in die Krankenhausplanung einzubeziehen. Kranken-häuser, die dauerhaft und mehrfach durch Quali-tätsmängel auffallen, können letztlich aus dem Krankenhausplan herausgenommen werden. Ich
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gehe also davon aus, dass wir in absehbarer Zeit eine weitere, durchaus grundlegende Novellierung des Krankenhausgesetzes benötigen werden.
Beim Thema Patientensicherheit ist darauf hinzu-weisen, dass es hier um Menschen geht, die be-sonderer Unterstützung bedürfen, weil sie auf fremde Betreuung und auf Pflege angewiesen sind. Aus diesem Grund halte ich den vorgezoge-nen Gesetzentwurf zur Änderung des Kranken-hausgesetzes für durchaus richtig. Aber wir wer-den natürlich weiter im Blick behalten, dass es nicht nur um Krankenhäuser geht, sondern auch um andere Einrichtungen. Ich bin mir ganz sicher, dass fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sei es in Krankenhäusern, in Pflegeeinrichtungen, in psychiatrischen Krankenhäusern usw., wirklich ihr Bestes geben und hoch engagiert arbeiten.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Dennoch glaube ich, dass die Patientinnen und Patienten auch hier besondere Unterstützung brauchen, die ihnen durch dieses Gesetz gegeben werden soll.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Weitere Wortmel-dungen liegen mir nicht vor, sodass ich die Bera-tung schließen kann.
Wir kommen zur Ausschussüberweisung.
Die Federführung soll beim Ausschuss für Sozia-les, Frauen, Familie, Gesundheit und Migration liegen, mitberatend soll der Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen sein. Wer so verfahren möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ge-genprobe! - Das ist einstimmig so beschlossen worden.
Meine Damen und Herren, wir kommen zum
Tagesordnungspunkt 5: Abschließende Beratung: Jobmotor soziale Gesundheitswirtschaft Nie-dersachsen - Gesundheitsberufe stärken und Fachkräftenachwuchs sichern - Antrag der Frak-tion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/1488 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie, Ge-sundheit und Migration - Drs. 17/2478 - Ände-rungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2640 - Änderungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2759 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2777
Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.
Die Änderungsanträge zielen auf eine Annahme des Antrags in einer geänderten Fassung.
Ich eröffne die Beratung. Für die SPD-Fraktion hat sich der Kollege Holger Ansmann gemeldet. Herr Ansmann, ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!
Holger Ansmann (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast alltäglich haben die Bürgerin-nen und Bürger in Niedersachsen Berührungs-punkte mit Beschäftigten aus der Gesundheitswirt-schaft. Wir treffen sie beim Arzttermin, beim Be-such von Verwandten und Freunden im Kranken-haus oder im Pflegeheim. Wir treffen sie beim An-tritt einer Kur, bei gesundheitlichen Präventions-maßnahmen oder im Wellness-Urlaub. Sie arbei-ten als hochqualifizierte Wissenschaftler in For-schungseinrichtungen und in Unternehmen der Medizintechnik und der E-Health-Branche.
Fast 15 % aller sozialversicherungspflichtigen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Niedersach-sen, also über 450 000 Beschäftigte, arbeiten in der Gesundheitswirtschaft. Das Engagement aller in der Gesundheitswirtschaft Tätigen verbessert unsere Lebensbedingungen und hilft in schwieri-gen gesundheitlichen oder altersbedingten Le-benssituationen. Dieses Engagement ist nicht hoch genug zu schätzen, wertzuschätzen und verdient unser aller Anerkennung, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Die Gesundheitsbranche ist und bleibt ein Wachs-tumsmarkt. Jeder neunte Euro - bzw. 11 % der Bruttowertschöpfung in Niedersachsen - wird mitt-lerweile in diesem Sektor generiert. Für die kom-menden Jahre wird erhebliches Wachstum vor allem durch die demografische Entwicklung prog-nostiziert. Die Gesundheitswirtschaft bleibt das, was sie ist: ein Jobmotor.
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Doch trotz allem: Die Gesundheitswirtschaft, ins-besondere die soziale Gesundheitswirtschaft, hat nicht den gesellschaftlichen Stellenwert, der ihr gebührt. Das gilt es zu verändern, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Zu der sozialen Gesundheitswirtschaft zählen wir insbesondere die Bereiche, die über die Kosten-träger der gesetzlichen Sozialversicherung abge-deckt werden, also die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung, aber auch die Behindertenhil-fe. Hier den Stellenwert zu verbessern, die Kräfte und Zuständigkeiten zu bündeln und die Attraktivi-tät der Arbeitsplätze zu erhöhen, ist vorrangiges Ziel unseres Änderungsantrages, für den ich Sie um Unterstützung bitte.
Im Sozialbereich wird nicht nur gut, sondern auch immer unter Hochdruck gearbeitet. Ich hoffe, dass wir den gemeinsamen Änderungsantrag aller vier Fraktionen so kurz vor der Debatte zu diesem Ta-gesordnungspunkt noch form- und fristgerecht vorgelegt haben. Der Antrag enthält eine Ände-rung, auf die ich bereits jetzt eingehen möchte. Unter Nr. 7 heißt es, dass der Tarifvertrag Soziales nicht weiterhin, sondern auch zukünftig unterstützt wird.
Wir begrüßen sehr, dass im letzten Jahr unter Federführung des Sozialministeriums eine Auftakt-konferenz über das Thema soziale Gesundheits-wirtschaft durchgeführt wurde. Wir wollen nun die Impulse aus dieser Konferenz für die Erarbeitung eines gesundheitswirtschaftlichen Gesamtkonzep-tes nutzen.
Kern dieses Konzeptes ist die Erarbeitung eines Masterplans „Soziale Gesundheitswirtschaft Nie-dersachsen“ gemeinsam mit den Akteuren und den bereits bestehenden Netzwerken der sozialen Gesundheitswirtschaft in den Regionen Nieder-sachsens unter Einbeziehung von Patienten- und Verbraucherorganisationen. Wir brauchen diesen Masterplan u. a. für Versorgungssicherheit und neue integrative Versorgungsformen, für die Ge-währleistung eines wohnortnahen leistungsfähigen Krankenhausangebotes und für Verbesserungen - das ist heute schon angesprochen worden - im Bereich der Pflege.
Der Masterplan setzt mit den in der Entschließung genannten weiteren Maßnahmen ein sichtbares Signal, dass wir die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und die Bedürfnisse der im sozialen Gesundheitsbereich Beschäftigten in den Mittel-punkt stellen. Das ist vor dem Hintergrund der aufgezeigten steigenden Nachfrage nach sozialer Gesundheitsarbeit und einem bereits spürbaren und sich weiter verstärkenden Fachkräftemangel in ausgewählten Berufsfeldern dringend erforderlich. Wichtig ist uns dabei die Durchsetzung der Prinzi-pien guter Arbeit.
Zu Recht haben sich in den vergangenen Monaten Beschäftigte aus dem Gesundheitsbereich mit der Aktion „Pflege am Boden“ in vielen Städten Nie-dersachsens für faire Löhne, für faire Arbeitsbe-dingungen, für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit, für die Vermeidung von Lohndumping durch Leih-arbeit und für ein Recht und Weiterbildung einge-setzt. Wir unterstützen diese Aktion ausdrücklich und sagen allen Verantwortlichen unsere solidari-sche Unterstützung zu.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wir sind uns der grundsätzlichen Notwendigkeit - ich bin dankbar: Auch da gibt es große Überein-stimmung in allen Fraktionen - einer besseren gesellschaftlichen Wertschätzung der sozialen Gesundheitswirtschaft und ihrer Beschäftigten bewusst. Da haben wir keine unterschiedlichen Auffassungen.
Wir wollen mit dem heutigen - jetzt gemeinsamen - Antrag - ich bitte Sie um Ihre Zustimmung - wichti-ge Weichen stellen, um Niedersachsen als Ge-sundheitsland zu profilieren. Wir werben für das Potenzial, das in der Gesundheitswirtschaft steckt: Gesundheitswirtschaft als Motor für Innovation, die der Patientenversorgung zugutekommt, für mehr Lebensqualität und für schöneres Altern; Gesund-heitswirtschaft als Motor für neue Geschäftsfelder und neue, gute Arbeitsplätze, für mehr Wirt-schaftskraft und Wachstum.
Die Gesundheitswirtschaft ist eine Branche, in der Menschen für Menschen tätig sind, in vielen Beru-fen, an sieben Tagen in der Woche, 24 Stunden. Die Gesundheitswirtschaft und die Beschäftigten haben es verdient, dass wir sie stärker in den Mit-telpunkt unserer politischen Arbeit stellen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege Ansmann. - Meine Da-men und Herren, es folgt jetzt für die Fraktion der CDU unser Kollege Burkhard Jasper. Bitte sehr!
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Burkhard Jasper (CDU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Gesundheitswirtschaft ist nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Beschäf-tigung in Niedersachsen wichtig. Etwa jeder siebte Erwerbstätige ist diesem Bereich zuzurechnen. Somit ist es sinnvoll, dass sich der Landtag hiermit beschäftigt, um die Gesundheitsberufe zu stärken und den Fachkräftenachwuchs zu sichern.
Schon zu Zeiten der CDU/FDP-Mehrheit hier im Landtag haben wir uns mit dem demografischen Wandel beschäftigt und überlegt, wie wir ihm be-gegnen können. Durch die Alterung der Gesell-schaft haben wir mehr Patienten und andere Krankheitsstrukturen. Hatten wir in Niedersachsen 2005 noch 228 000 Pflegebedürftige, werden es 2020 schon 300 000 sein. Das Risiko, pflegebe-dürftig zu werden, steigt mit zunehmendem Alter: von 4,8 % im Alter zwischen 70 und 75 Jahren auf 61,6 % im Alter von mehr als 90 Jahren. Die An-gebote müssen deshalb erweitert und verändert werden.
Hinzu kommt, dass es immer schwieriger wird, Fachkräfte zu gewinnen. Das Bundesinstitut für Berufsbildung geht für 2025 von 152 000 fehlen-den Beschäftigten in den Pflegeberufen aus. Folg-lich müssen Maßnahmen ergriffen werden und war es sinnvoll, dass hier im Mai 2014 ein Antrag dazu eingebracht wurde.
Inzwischen haben mehrere Ausschüsse darüber beraten. Es gab Unterrichtungen und Diskussio-nen. Ich war an sich immer davon ausgegangen, dass die neuen Erkenntnisse in einen Änderungs-vorschlag münden würden. Ich war völlig erstaunt, als uns im Sozialausschuss erklärt wurde: Nein, wir stellen jetzt unseren Ursprungsantrag zur Ab-stimmung und empfehlen dem Landtag, so zu verfahren.
Damit das Plenum nun weiß, was das bedeutet: Wir hätten hier einen Antrag gehabt, eine Auftakt-veranstaltung durchzuführen, die schon am 14. Juli 2014 stattgefunden hat. Das heißt, die Landesre-gierung hat diesen Auftrag schon vor sechs Mona-ten erledigt.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Wie klein kann man sich als Fraktion in diesem Haus eigentlich machen?)
Ich finde es seltsam, dass Sie den Antrag trotzdem so lassen. Wenn der Landtag dieser Beschluss-empfehlung des Ausschusses - gegen die CDU und FDP natürlich gestimmt haben - gefolgt wäre, wäre das ja so, als ob CDU und FDP richtiger-weise Pfingsten feiern würden, während Sie sich noch in der Adventszeit auf Weihnachten vorberei-ten würden - natürlich sehr wohl wissend, dass Weihnachten schon gewesen ist, weil Sie selbst das Fest gefeiert haben.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Helge Limburg [GRÜNE]: Nach dem Fest ist vor dem Fest, Herr Kollege! Gerade für Weihnachten gilt das! Glauben Sie mir!)
Um dieser Peinlichkeit zu entgehen, haben wir mit Unterstützung der FDP einen Änderungsantrag gestellt.
Ich bin froh, dass heute Morgen auch SPD und Grüne einen Änderungsantrag eingereicht haben, der dazu dient, eine gemeinsame Entschließung zu ermöglichen.
Ich gehe jetzt kurz auf die einzelnen Punkte ein, und weil das alles so schnell ging, nehme ich die Nummerierung des Änderungsantrages von CDU und FDP.
Bei Nr. 4 geht es darum, die Impulse aus der Auf-taktveranstaltung aufzunehmen. - Das ist sicherlich sinnvoll; dem folgen Sie.
Auch bei Nr. 5 hat die Landesregierung schon gearbeitet: Es gibt eine Arbeitsgruppe der Landes-regierung zur Weiterentwicklung der Studien- so-wie Fort- und Weiterbildungsangebote. Die Lan-desregierung ist also offensichtlich besser, als Sie selbst teilweise glauben.
(Thomas Schremmer [GRÜNE]: Sie antizipieren, was wir wollen!)
Wir haben vorgeschlagen, im Ausschuss für Wis-senschaft und Kultur die Ergebnisse vorzustellen und dann entsprechende Maßnahmen zu ergrei-fen. Selbst der Abgeordnete Ottmar von Holtz hat am 16. Juni im Ausschuss gesagt, gerade diese Forderung müsse man konkretisieren. Ich habe jetzt versucht, sie zu konkretisieren: Leider sind Sie meinem Versuch nicht gefolgt; das taucht lei-der in Ihrem Änderungsantrag nicht auf.
Einig sind wir uns auch beim Tarifvertrag Sozia-les - Nr. 9 -; das unterstützen Sie.
Unsere Ergänzung in Nr. 6 - Initiativen zu ergrei-fen, damit Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf in Nie-dersachsen ausüben - haben Sie übernommen.
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Nicht übernommen haben Sie natürlich Punkt Nr. 10, der die Pflegekammer betrifft. Das ist klar; darüber haben wir eben schon diskutiert.
Sie haben Nr. 11 - zur generalistischen Grundaus-bildung in den Pflegeberufen mit darauf aufbauen-der Spezialisierung - übernommen.
Nr. 12 - zu den Betreuungseinrichtungen - haben Sie leider nicht übernommen, obwohl solche Ein-richtungen wegen der Arbeitszeiten gerade im Pflegebereich sehr wichtig wären.
Die Forderung nach interkultureller Öffnung - Nr. 14 - haben wir aus dem Ursprungsantrag über-nommen.
Ich habe allerdings Nr. 13 vorangestellt, weil zur Vielfalt der Kultur auch die Männer gehören. Da am 10. Oktober 2014 im Kultusausschuss gesagt wurde, die Pflegeberufe seien „frauendominiert“, habe ich gedacht: Es wäre ganz gut, Maßnahmen zu ergreifen, um mehr Männer für diese Berufe zu interessieren.
(Christian Dürr [FDP]: Sehr richtig!)
Bei den Kurorten und Heilbädern - Nr. 15 - gibt es keine Meinungsverschiedenheiten.
Unsere Forderung nach mehr Geldern für Investiti-onen in die Krankenhäuser - Nr. 16 - haben Sie nicht übernommen. Das war für mich nicht ver-wunderlich. Denn schon bei den Haushaltsbera-tungen haben Sie es abgelehnt, in diesem Jahr und in den kommenden vier Jahren jeweils 20 Millionen Euro mehr für Investitionen zur Verfü-gung zu stellen.
(Christian Grascha [FDP]: Was? - Christian Dürr [FDP]: Unglaublich! Gegen die Krankenhäuser!)
Die CDU wird sich weiterhin dafür einsetzen.
Beim gesundheitswirtschaftlichen Gesamtkonzept oder - wie Sie es nennen - Masterplan - Nr. 17 - haben Sie unsere Forderung nach Stärkung der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum und nach Gewährleistung eines wohnortnahen Kran-kenhausangebotes übernommen.
Die Forderung nach intensiverer Zusammenarbeit innerhalb der Landesregierung - Nr. 3 - ist Ihrem Ursprungsantrag entnommen.
Gefreut habe ich mich darüber, dass auch Sie der Meinung sind, dass eine Offensive zur stärkeren Wertschätzung der Gesundheitsberufe - Nr. 2 - gestartet werden sollte. Das ist aus meiner Sicht dringend erforderlich. Denn während 82 % der Deutschen den Arztberuf zu den Berufen zählen, denen man große Achtung entgegenbringt, attes-tieren nur 17 % den Pflegeheimen einen guten Ruf. Wer möchte schon in solch einem Umfeld arbeiten? - Da müssen wir also etwas machen.
Zusammenfassend kann ich sagen: Der Ände-rungsantrag von SPD und Grünen ist zwar nicht optimal, aber besser und vor allem auch aktueller als der Ursprungsantrag. Das ist Grundlage für einen gemeinsamen Änderungsantrag. Ich hoffe, dass der Landtag so ein gutes Zeichen setzt, um die Pflegeberufe zu stärken und den Fachkräf-tenachwuchs zu sichern.
(Christian Dürr [FDP]: Sehr gut!)
Die CDU wird sich weiter dafür einsetzen, dass in diesem Bereich gute Arbeitsbedingungen herr-schen und dass wir in Niedersachsen gute Leis-tungen anbieten können.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege Jasper. - Es folgt so-dann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kol-lege Ottmar von Holtz. Bitte sehr!
Ottmar von Holtz (GRÜNE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dar-über, was unter dem Begriff „Gesundheitswirt-schaft“ zu verstehen ist, kann man lange diskutie-ren. Ähnlich wie bei der Volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnung gibt es künftig deshalb auch eine Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung. Denn die volkswirtschaftlichen Effekte der Ge-sundheitswirtschaft gehen weit über das hinaus, was die Statistik bisher erfasst, bei der Wertschöp-fung und auch bei der Beschäftigung. Das ist kein einfaches Vorhaben. Denn es gibt nicht diesen einen Gesundheitsmarkt, und es gibt auch nicht diesen einen Markt für Gesundheitswirtschaft.
Die Märkte im Gesundheitssektor unterliegen alle unterschiedlichen Regeln. Auf der einen Seite haben wir stark reglementierte Bereiche wie die ärztliche Versorgung, die Krankenhausplanung oder die Zulassung und Preisgestaltung von Medi-kamenten. Auf der anderen Seite haben wir den weitgehend freien Markt der Gesundheitswirtschaft im engeren Sinne: der ganze große Bereich der Dienstleistungen rund um das Thema Gesundheit wie beispielsweise Gesundheitstourismus, Ernäh-
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rungswirtschaft, Life-Science-Technologien, alters-gerechtes Wohnen, Forschung usw.
Man kann sich trefflich über Abgrenzungen, Markt-gestaltungen und anderes streiten. Aber über ei-nes, so denke ich, sind wir uns einig: Es ist höchs-te Zeit, dass wir die Gesundheitswirtschaft, die soziale Gesundheitswirtschaft ganzheitlich denken. Einem Entwickler von E-Health-Produkten bei-spielsweise ist es egal, wer für die Einführung neuer Verfahren in der Telemedizin zuständig ist. Was zählt, ist die gemeinsame Anstrengung, sol-che Verfahren überhaupt zur Marktreife und am Ende zum Einsatz zu bringen.
Für die Beteiligten beispielsweise im Verein Ge-sundheitswirtschaft Nordwest der Metropolregion Bremen/Oldenburg spielt es keine Rolle, wer wofür zuständig ist. Entscheidend ist, dass fachbereichs-übergreifenden Kooperationen auch eine ressort-übergreifende Unterstützung gegenübersteht.
Ich war einmal beim Hamburger Gesundheitswirt-schaftskongress und kann ihn nur empfehlen. Wer ihn besucht, bekommt einen Eindruck davon, was es heißt, die Gesundheitswirtschaft ganzheitlich zu denken.
Niemand wird behaupten, dass dies einfach ist. Am Ende geht es auch um Fördertöpfe und um formale Zuständigkeiten. Dennoch müssen wir uns auf den Weg machen, diesen gesamten Komplex gemeinsam anzugehen; denn nur so schöpfen wir das ganze Potenzial aus, das die soziale Gesund-heitswirtschaft bietet, nämlich ein gewaltiges Po-tenzial für zukunftssichere Arbeitsplätze.
Mit der Auftaktveranstaltung im Juli letzten Jahres ist der Anfang gemacht. Mit dieser Entschließung schaffen wir eine gute Grundlage für den weiteren Weg. Dass wir ihn hier gemeinsam beschließen, finde ich, ist ein gutes Zeichen.
Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege von Holtz. - Es folgt schließlich die Fraktion der FDP. Kollegin Sylvia Bruns, ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!
Sylvia Bruns (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die ökonomische Bedeutung der Ge-sundheitswirtschaft lässt sich ganz klar an den vorhandenen Zahlen ablesen. Die Gesundheits-ausgaben beliefen sich im Jahr 2012 auf rund 300 Milliarden Euro. Das entspricht ungefähr 3 700 Euro pro Einwohner. Im zweiten Gesund-heitsmarkt, der hier schon mehrfach angesprochen wurde, werden rund 70 Milliarden Euro umgesetzt. Die Bedeutung der Gesundheitswirtschaft nimmt weiter zu. Durch den demografischen Wandel und den kontinuierlichen medizinischen Fortschritt zählt sie zu den wichtigsten Wachstumsbranchen auch in Niedersachsen.
Die Bruttowertschöpfung der Gesundheitsbranche ist im Zeitraum von 2007 bis 2012 jährlich im Durchschnitt um 3,7 % gestiegen, deutlich schnel-ler als die Gesamtwirtschaft mit 2,3 %.
Aber das ist natürlich nicht der einzige Grund. Die steigende Bedeutung der Gesundheitswirtschaft hängt auch mit einem Bewusstseinswandel in der Bevölkerung zusammen. Die Gesundheit steht bei immer Menschen ganz oben an. Immer mehr Bür-gerinnen und Bürger unseres Landes erkennen den Wert der Gesundheit für das Wohlbefinden und die eigene Leistungsfähigkeit. Die Menschen wollen gesund bleiben, gesund werden und es dabei auch genießen. Da ist es nur logisch, dass Gesundheitswirtschaft auch ein Jobmotor ist.
Im Gesundheitswesen arbeiten, je nach Untersu-chung und Definition, derzeit zwischen 5,2 und 6 Millionen Menschen. Demzufolge wäre mehr als jeder siebte Erwerbstätige im Gesundheitsmarkt tätig. In Niedersachsen sind es mehr als 450 000 Menschen.
Seit dem Jahr 2000 hat in Gesamtdeutschland die Beschäftigung in diesem Sektor um 1 Million zuge-nommen. Das ist auch kein Wunder; denn kaum ein Wirtschaftsbereich ist so vielfältig wie die Ge-sundheitswirtschaft. Er beinhaltet eine Vielzahl von Gütern und Dienstleistungen, die weit mehr umfas-sen als ambulante und stationäre Gesundheitsver-sorgung in Kliniken und Arztpraxen. Auch Vorsor-ge, Rehabilitationseinrichtungen, Pflegeeinrichtun-gen und die therapeutische Versorgung, die Her-stellung und der Vertrieb von medizinischen, pharmazeutischen und orthopädischen Erzeugnis-sen gehören dazu.
Weitere Themenfelder sind die Entwicklung und Anwendung von telemedizinischen Produkten und Dienstleistungen sowie der Gesundheitstourismus - beides sehr interessant für Niedersachsen. Da-rum ist es auch zu kurz gegriffen, die Gesund-heitspolitik nur der Sozialpolitik zuzuordnen. Sie
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gehört ebenso in den Bereich Forschung und Wirt-schaftspolitik.
Richtig ist es, Maßnahmen zu ergreifen, um die Arbeitsverdichtung in den Pflegeberufen zu verrin-gern. Das hat der Kollege Jasper schon angespro-chen. Ebenso wichtig ist es, die Bürokratie inner-halb dieses Bereichs abzubauen. Da die CDU-Fraktion einen eigenen Antrag dazu eingebracht hat, den wir im Ausschuss noch beraten werden, braucht dies nicht unbedingt in den gemeinsamen Antrag hinein, in dem wir über Gesundheitswirt-schaft reden. Auch zu der Krankenhausfinanzie-rung, die der Kollege Jasper angesprochen hat, gibt es ja noch einen gesonderten Antrag. Unsere Positionen dazu sind klar, sodass dies nicht unbe-dingt in diesen Antrag hinein muss.
Über die Auftakttagung hat der Kollege Jasper sehr scherzhaft berichtet. Das kann ich nicht bes-ser machen. Also werde ich diesen Punkt einfach weglassen und auf ihn verweisen.
Darüber hinaus sollten wir uns in Niedersachsen besonders um die Bereiche Biotechnologie, Medi-zintechnik, E-Health und den zweiten Gesund-heitsmarkt kümmern. Hier hat Schwarz-Gelb in der Vergangenheit viel getan.
Die Landesinitiative Life Science Niedersachsen - kurz: BioRegioN - vernetzt seit 2002 Wirtschaft und Wissenschaft mit dem Ziel, Niedersachsen als Life-Science-Standort zu stärken. Deswegen begrüßen wir es, dass sich dies schon in dem ersten Antrag von Ihnen wiedergefunden hat.
Auch den Tarifvertrag Soziales unterstützen wir. Es gibt nichts Liberaleres, als wenn sich zwei Ta-rifparteien auf ein Gehalt einigen, das sie unterein-ander zahlen.
(Beifall bei der FDP - Christian Dürr [FDP]: So ist es!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann mich nur allen anderen anschließen: Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für das Parlament, hier gemeinsam ein Signal für die Gesundheitswirtschaft in Nieder-sachsen zu setzen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU sowie Zustimmung bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Bruns. - Es folgt jetzt für die Landesregierung Frau Ministerin Rundt. Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich ganz ausdrücklich bei den Regierungsfraktionen für die Initiative zur Stärkung der sozialen Gesundheitswirtschaft als Jobmotor in Niedersachsen bedanken. Ich begrü-ße, dass in dem Antrag sehr konsequent von sozi-aler Gesundheitswirtschaft gesprochen wird. Denn soziale Gesundheitswirtschaft zielt eben nicht auf quantitatives Wachstum, sondern auf mehr gesun-de Lebensjahre, auf bessere Lebensqualität, auf gute Arbeit und auf qualitatives Wachstum.
Niedersachsen ist bereits ein sehr starker Ge-sundheitsstandort. Der Anteil der Erwerbstätigen an der regionalen Gesamtwirtschaft ist seit dem Jahr 2000 von 14,2 auf 15,1 % im Jahr 2013 ge-stiegen. Seit 2000 entstanden mehr als 25 % der neuen Arbeitsplätze im Bereich der Gesundheits-wirtschaft. Jeder Siebte ist dort beschäftigt.
So groß die Gesundheitswirtschaft ist, so vielfältig und facettenreich ist sie auch. Neben Krankenhäu-sern, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Pflegediensten und Apotheken sind auch die Ge-sundheitshandwerke wie z. B. die Augenoptikerin-nen und -optiker dabei. Es gibt den Gesundheits-tourismus genauso wie Unternehmen aus dem Bereich der Life Science und der Medizintechnik.
Der Standort Niedersachsen zeichnet sich auch durch eine hervorragende Forschungslandschaft im Bereich Wirk- und Impfstoffversorgung, im Be-reich der Infektionsmedizin, der regenerativen Medizin und der Biomedizintechnik aus.
Niedersachsen hat große Standortvorteile für inno-vative Unternehmen.
In Niedersachsen werden Lösungsansätze entwi-ckelt, die zur Verbesserung der Arbeits- und Be-handlungsprozesse beitragen.
Auch IT-Anwendungen bekommen im Gesund-heitswesen eine zunehmende Bedeutung. Ein-satzmöglichkeiten sind z. B. elektronische Arztbrie-fe, Patientenakten, Telemedizin, AAL-Projekte, aber auch die Notfallmedizin.
Das Thema Prävention wird in den kommenden Jahren auch vor dem Hintergrund des demografi-schen Wandels immer wichtiger werden. Dies ist schon jetzt eine große Chance für den Gesund-heitstourismus. Gerade im ländlichen Raum bietet sich hier die Chance für innovative Konzepte und die Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort.
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Gemeinsam mit den Akteurinnen und Akteuren streben wir an, die Potenziale der sozialen Ge-sundheitswirtschaft in Niedersachsen zu stärken und zu entwickeln. Die Sicherstellung einer guten Versorgung, insbesondere in der Fläche, ist für ein Land wie Niedersachsen eine besondere Heraus-forderung. So ist beispielsweise der Auf- und Aus-bau der Gesundheitsregionen mit dem Fokus ge-sundheitliche Versorgung für uns ein wichtiger Ansatz, den das Sozialministerium in die Fläche bringt.
Wir sprechen ganz bewusst von sozialer Gesund-heitswirtschaft, weil sie sowohl als individueller und gesellschaftlicher Wert gilt als auch die ökonomi-schen und arbeitsmarktpolitischen Bedeutungen unterstreicht. Wir sehen - anders vielleicht als manche Vorgängerregierung - das Gesundheits-wesen eben nicht einseitig als Kostenfaktor vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen. Eine aktive Sozial-, Wirtschafts- und Forschungspolitik wird dafür sorgen, dass die Chancen und Poten-ziale für Gesundheit und Lebensqualität wie auch für Wirtschaft und Arbeit als gemeinsames Ziel definiert werden.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Unter Federführung des Sozialministeriums arbei-ten wir bereits ressortübergreifend unter Einbin-dung der Akteure der Gesundheitswirtschaft an dem entsprechenden Masterplan. Schon heute ist die soziale Gesundheitswirtschaft ein starker Job-motor für Niedersachsen. Diese Stärke wird noch wachsen.
Insofern freue ich mich, wenn der Landtag frakti-onsübergreifend ein starkes, ein gemeinsames Signal für diesen Jobmotor, für die dort tätigen Organisationen und Unternehmen, insbesondere aber auch für die Beschäftigten gibt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Frau Ministerin Rundt. - Meine Da-men und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor.
Ich hatte eingangs schon darauf hingewiesen, dass zum Ausgangsantrag und zur Beschlussemp-fehlung des Ausschusses noch zwei Änderungsan-träge vorliegen. Das Ganze dürfte sich jetzt da-durch vereinfachen, dass uns die Fraktionen der SPD und der CDU, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die FDP-Fraktion, also alle Fraktionen, mit Eingangsstempel von heute, 15.12 Uhr - daran können Sie sehen, wie flott das hier geht -, einen Änderungsantrag vorgelegt haben. Am Text wurde bis zur letzten Sekunde gefeilt, sodass wir jetzt offenbar - in mancher Rede ist dies angedeutet worden, Herr Ansmann - zu einer Übereinstim-mung kommen.
Ich stelle diesen gemeinsamen Änderungsantrag zur Abstimmung. Er trägt die Drucksachennummer 2777. Ihre Fraktionsführung kennt ihn und vertraut auf die telepathische Kraft ihrer Fraktionsführung. Ich bin sicher, Sie kennen ihn auch. Es wurde ins-besondere an der Nr. 7 im Ausgangsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen noch etwas gefeilt, sodass ich denke, dass Sie alle wissen, worum es geht.
Wer also diesem gemeinsamen Änderungsantrag aller Fraktionen seine Zustimmung erteilen möch-te, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Ge-genprobe! - Enthaltungen? - Damit ist dieser Ände-rungsantrag aller Fraktionen einstimmig beschlos-sen worden.
Der Ausgangsantrag, aber auch die Beschluss-empfehlung des Ausschusses sowie die Einzelan-träge zum einen von CDU und FDP sowie zum anderen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die damit als zurückgezogen betrachtet werden kön-nen, haben sich dadurch erledigt.
Besten Dank, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir gehen nun über zu dem
Tagesordnungspunkt 6: Abschließende Beratung: Sicherstellung und Weiterentwicklung der qua-lifizierten Angebote für taubblinde und hörseh-behinderte Menschen in Niedersachsen - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/1754 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Fami-lie, Gesundheit und Migration - Drs. 17/2471 - Än-derungsantrag der Fraktion der CDU und der Frak-tion der FDP - Drs. 17/2641 - Änderungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2764
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag in geänderter Fassung anzunehmen.
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Mir liegt eine erste Wortmeldung des Kollegen Uwe Schwarz von der SPD-Fraktion vor. Herr Schwarz, ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!
Uwe Schwarz (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der ersten Beratung am 25. Juli des vergangenen Jahres haben wir im Fachausschuss eine schriftli-che Anhörung durchgeführt und ausschließlich positive Rückmeldungen für diese Initiative erhal-ten. Menschen mit anderen Handicaps machten allerdings auch auf ihre Situation und auf die für sie immer noch bestehenden erheblichen Nachtei-le aufmerksam. Erneut wurde uns deutlich, dass der Weg zum Ziel einer wirklich inklusiven Gesell-schaft noch lang und vermutlich auch steinig ist.
Die mehr als 1,3 Millionen Menschen mit Behinde-rungen in Niedersachsen erwarten von uns zu Recht, dass wir das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen mit Nachdruck verfolgen und dass dieser Prozess nicht durch parteitaktische Spielereien gefährdet wird. Spätestens seit der UN-Behindertenrechts-konvention 2009 hat das Thema auch bei uns in Deutschland und in Niedersachsen deutlich an Fahrt aufgenommen. Das ist auch gut so.
Das Leitmotiv der UN-Behindertenrechtskonven-tion „Nichts über uns ohne uns!“ kommt zuneh-mend in unserer Gesellschaft an. - Ich erlaube mir den Hinweis: Es wäre ganz gut, wenn das gleich-ermaßen auch Grundlage des Handelns mit Blick auf die Pflegekräfte und die Pflegekammer wäre, meine Damen und Herren.
(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Mit Einführung des Sozialgesetzbuches IX - Reha-bilitation und Teilhabe behinderter Menschen - wurde in Deutschland ein deutlicher politischer Paradigmenwechsel eingeleitet weg von der Für-sorge und Gängelung hin zu mehr Selbstbestim-mung von Menschen mit Behinderungen.
Heute geht es bei dieser nunmehr abschließenden Beratung um die schätzungsweise knapp 500 Menschen, die gleichzeitig in ihrer Seh- und Hörfä-higkeit beeinträchtigt sind. Weitere 100 Betroffene sind sowohl vollständig blind als auch taub. Es handelt sich hier um eine Behinderung eigener Art, weil der Ausfall des einen Sinnesorgans nicht durch das andere kompensiert werden kann.
(Unruhe)
- Ich muss sagen, das stört wirklich sehr.
Präsident Bernd Busemann:
Herr Kollege Schwarz, einen Moment, bitte! - Herr Kollege Hiebing, Herr Schönecke! Herr Rolfes, sind Sie geneigt, oder sollen wir warten? - Auf geht’s!
(Jens Nacke [CDU]: Herr Schwarz fühlt sich gestört!)
Uwe Schwarz (SPD):
Ich finde, bei diesem Thema und angesichts des Personenkreises, um den es geht, wäre es ange-messen zuzuhören.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Weitere 100 Betroffene sind sowohl vollständig blind als auch taub. Es handelt sich um eine - - -
(Jens Nacke [CDU]: Vielleicht reden Sie einmal etwas entspannter!)
- Ich finde, Sie haben ein merkwürdiges Beneh-men.
(Petra Tiemann [SPD]: Ja!)
Es handelt sich um eine Behinderung eigener Art, weil der Ausfall des einen Sinnesorganes nicht durch das andere kompensiert werden kann. Häu-fig kommt es daher nach Eintritt der Sinnesbeein-trächtigung zu einer starken Beeinträchtigung der persönlichen Gesamtentwicklung. Die damit ver-bundene Isolation mit der dauernden Notwendig-keit einer ständigen Unterstützung ist für uns, glaube ich, nur sehr schwer vorstellbar.
Trotzdem wird den Betroffenen in Deutschland noch immer die Einführung eines eigenen Schwer-behindertenmerkzeichens „TBL“ verweigert. Taub-blindheit ist nicht als eigenständige Behinderung anerkannt. Das war und ist für uns ein gesell-schaftlicher Skandal, meine Damen und Herren.
Bereits 2003 hat das Europäische Parlament die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, die Rechte taub-blinder Menschen anzuerkennen und ihnen Gel-tung zu verschaffen. Nach zehn Jahren Untätigkeit gab es am 4. Oktober 2013 in Berlin eine De-monstration unter dem Titel: „Taubblinde in Isolati-onshaft - Null Rechte für Taubblinde - Schluss damit!“ Ich zitiere erneut aus dem Aufruf dieser Veranstaltung:
„Für uns sind ein würdevolles, selbstbe-stimmtes Leben sowie die Entfaltung unse-rer Persönlichkeit nur mit qualifizierter Assis-tenz möglich. Wer nicht sehen und nicht hö-
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ren kann, braucht Unterstützung - für Mobili-tät und Kommunikation. Das wäre möglich mit nur wenigen Stunden qualifizierter Assis-tenz pro Tag. Genau diese Assistenz fehlt weitgehend, die Folgen sind oftmals erschüt-ternde unwürdige Lebenssituationen, Hilflo-sigkeit, Isolation und Abhängigkeit“.
So weit die Veranstalter.
Ich finde, es war überfällig, dass sich der Nieder-sächsische Landtag erstmals solitär mit der Situa-tion von taubblinden Menschen befasst - und das nicht nur, weil das Deutsche Taubblindenwerk seit 1967 seinen Sitz hier bei uns in Hannover hat.
Der vorliegende Parlamentsbeschluss soll dazu beitragen, dass taubblinde Menschen sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene endlich aus der Isolation herauskommen. Dazu gehört u. a. auf Bundesebene die Anerkennung des TBL-Merk-zeichens als eigenständiges Merkmal. Ich sage an dieser Stelle auch: Wir appellieren an die Große Koalition, das nunmehr endlich umzusetzen. Wir fordern u. a. in Zusammenarbeit mit dem Nieder-sächsischen Blindenverband und dem Nieder-sächsischen Taubblindenwerk, dafür Sorge zu tragen, dass die Aus- und Weiterbildungsmöglich-keiten für Taubblindenassistentinnen und -assis-tenten sowie für entsprechende Dolmetscherinnen und Dolmetscher etabliert, gesichert und ausge-baut werden.
Wir fordern ferner, sich für eine bundesweit einheit-liche Finanzierung der Assistenzkräfte und der Kommunikationsdolmetscherinnen und -dolmet-scher einzusetzen und drittens bei den zuständi-gen Trägern darauf hinzuwirken, dass das Ge-nehmigungsverfahren für Rehabilitationsmaßnah-men und Hilfsmittel für Hör-/Sehbehinderte und taubblinde Menschen vereinfacht und vereinheit-licht wird und eine Frist von sechs Wochen nicht überschreiten darf. Ich sage das auch sehr deut-lich, weil die Sozialversicherungsträger in der An-hörung erklärt haben, sie würden die Fristen, die da vorgegeben würden, immer deutlich einhalten. Das, was uns die Betroffenen sagen, weicht jeden-falls erheblich von der Darstellung der Sozialversi-cherungsträger ab. Ich glaube an dieser Stelle, ehrlich gesagt, den Betroffenen.
Wir wollen des Weiteren für betroffene Kinder, die sich in Einrichtungen befinden, im Rahmen der Frühförderung eine fachlich kompetente Beratung in Abstimmung mit den Trägern der Eingliede-rungshilfe sicherstellen und im Rahmen der Alten-pflege für betroffene Menschen eine fachlich kom-petente Beratung und Assistenz ermöglichen.
Zu guter Letzt muss geklärt werden, ob der ermit-telte Bedarf mit vorhandenen Studienplatzangebo-ten gedeckt werden kann bzw. wie der Bedarf für Blinden- und Gehörlosenpädagogik sowie der Taubblindenpädagogik gegebenenfalls in Abspra-che mit den norddeutschen Bundesländern sicher-gestellt werden kann.
Meine Damen und Herren, vielleicht erinnern Sie sich: Dieses Thema war am 25. Juli vergangenen Jahres der letzte Beratungspunkt in unserem alten, geschichtsträchtigen Plenarsaal. Es ist ein gutes Zeichen, dass der Landtag heute diesen Be-schluss einstimmig verabschieden wird. Es war und ist eine Frage des Anstandes, wie eine reiche Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Deshalb finde ich diesen gemeinsamen Beschluss ein wichtiges Signal nach außen und an die betroffenen Menschen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Präsident Bernd Busemann:
Vielen Dank, Herr Kollege Schwarz. - Jetzt folgt für die Fraktion der CDU Kollege Dr. Max Matthiesen. Bitte sehr! Ich erteile Ihnen das Wort.
Dr. Max Matthiesen (CDU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Juli letzten Jahres hat die erste Beratung des Entschließungsantrags von SPD und Grünen zur Weiterentwicklung qualifizierter Angebote für taubblinde Menschen in Niedersachsen stattge-funden. Uwe Schwarz hat es gerade sehr eindring-lich gesagt: Wir können uns kaum vorstellen, wie viel für einen Menschen dazugehört, mit der dop-pelten Behinderung zurechtzukommen, gleichzeitig taub und blind zu sein. Wir sind deshalb alle ge-meinsam gefordert, jedem einzelnen Menschen beizustehen, diese doppelte Barriere so gut es geht zu überwinden und am Leben teilzuhaben.
Deswegen freut sich die CDU-Fraktion sehr, dass wir heute den gemeinsamen Antrag beschließen können, zusammen mit allen Fraktionen dieses Hauses. Vielen Dank!
(Beifall)
Auf CDU-Seite hat meine liebe Kollegin Gudrun Pieper mit viel Herzblut die vorliegende Fassung
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mit den einzelnen Fraktionen verhandelt. Dafür danke ich ihr an dieser Stelle sehr. Leider kann sie heute nicht hier sein und das Ergebnis vorzustel-len, weil sie eine schwere Bronchitis hat. Deswe-gen mache ich das jetzt in Vertretung für sie. Ich greife auch auf ihre Unterlagen zurück.
Es reicht nicht immer aus, dass für einzelne Be-lange intelligente Unterstützungsmöglichkeiten und zahlreiche Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Damit ein Mensch mit einer doppelten Sinnesbehinde-rung sein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwirklichen kann, müssen die verschiede-nen Hilfen in einen ganzheitlichen Zusammenhang gebracht werden. Auch vor diesem Hintergrund haben wir im Fachausschuss die Anhörung durch-geführt. In der Folge haben wir die einvernehmli-chen Eckpunkte des vorliegenden Entschlie-ßungsantrags entwickelt.
(Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann übernimmt den Vorsitz)
Darin geht es zum einen um die Einführung eines Merkzeichens für Taubblinde in den Schwerbehin-dertenausweis. Zum anderen ist es ganz wesent-lich, die Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung von Assistentinnen und Assistenten sowie von Dolmetscherinnen und Dolmetschern zu sichern und auszubauen und eine bundesweit einheitliche Finanzierungssituation zu erreichen. Herr Schwarz hat eben bereits darauf hingewiesen, dass auch die Genehmigungsverfahren für Reha-Maßnahmen und Hilfsmittel einfach und zügig gestaltet werden müssen. Wir haben jetzt sogar eine Frist von sechs Wochen in den Antrag aufgenommen.
Weitere Punkte sind die fachlich gute Beratung zur Frühförderung von Kindern in Einrichtungen und gleichzeitig auch in der Altenpflege sowie die Er-mittlung des pädagogischen Bedarfs und auch, wie dieser mit Studienangeboten gedeckt werden kann.
Die jetzige Fassung des gemeinsamen Entschlie-ßungsantrags trägt unserer gemeinsamen Er-kenntnis Rechnung, dass nicht nur junge Men-schen, sondern alle Generationen betroffen sind. Für uns ist es dabei auch wichtig, dass wir uns für die Einführung eines Merkzeichens für Taubblinde auf Bundesebene einsetzen, damit überall gleiche Standards vorhanden sind. Gudrun Pieper verweist hier besonders auf ein Feststellungsverfahren auf der Basis des ICF, d. h. der Internationalen Klassi-fikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit.
Der Anspruch behinderter Menschen lautet: „Nichts über uns ohne uns!“ Dieser Anspruch wird auch im zweiten Punkt des Antrags aufgenommen. Dort haben wir formuliert, dass im Aus- und Wei-terbildungsbereich für Taubblindenassistentinnen und -assistenten und Dolmetscherinnen und Dol-metscher eine enge Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Blindenverband erfolgen muss und dass hier sehr viel davon abhängt, diese Zu-sammenarbeit gut auszugestalten, und dass auf diese Art und Weise gemeinsam die Fachkräftesi-cherung und deren Ausbau vorangebracht werden kann.
Neben der Forderung des Blindenverbandes gibt es eine Studie aus Nordrhein-Westfalen mit dem Titel „Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Hörschädigung in unterschiedlichen Lebenslagen“, in der ganz nüchtern ausgedrückt wird, was wir gerade auch schon hören konnten:
„Die zentrale Aufgabe besteht im Aufbau und Ausbau von Strukturen, die es gehörlo-sen, schwerhörigen, ertaubten und taubblin-den Menschen in unterschiedlichen Lebens-lagen und Lebensphasen ermöglichen, un-abhängig vom Wohnort, vom Einkommen und von der sozialen Stellung am gesell-schaftlichen Leben teilzuhaben. Dieser Pro-zess sollte in enger Kooperation mit den Selbsthilfeverbänden gestaltet werden.“
Im dritten Forderungspunkt haben wir noch die Ergänzung, dass eine bundesweit einheitliche Finanzierung der Assistenzkräfte und Kommunika-tionsdolmetscher und -dolmetscherinnen durchge-setzt werden soll, damit hier in den Bundesländern kein Ungleichgewicht mehr entstehen kann.
Es gibt ein sehr interessantes Eckpunktepapier der Unionsfraktion auf Bundesebene zum geplanten Bundesteilhabegesetz. Darin wird gesagt, dass dieser ganze Bereich in einem Assistenzpflegesetz geregelt werden könnte. Das ist an sich eine tech-nische Sache. Wir sind jedenfalls der Meinung, dass wir das geplante Bundesteilhabegesetz als Chance nutzen sollten, die bundesweit einheitliche Finanzierung von Assistenzkräften und Dolmet-scherinnen und Dolmetschern zu erreichen.
Wie bereits in der ersten Beratung dargestellt, setzt sich die CDU ausführlich und auf breiter Ebe-ne für ein eigenes Merkzeichen für Taubblinde ein, um auf eine bundeseinheitliche Vorgehensweise abzustellen und damit einheitliche Standards zu machen. Wir sehen diesen Antrag als einen Bau-stein für die weitere Entscheidungsfindung.
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Noch einmal mit den Worten von Gudrun Pieper: Das ist ein starkes Signal aus Niedersachsen, und wir können so auch eine Leuchtturmfunktion über-nehmen. Wir wollen gemeinsam bekräftigen, dass uns die besondere Lage taubblinder Menschen sehr bewusst ist. Uns ist auch bewusst, dass dies erst ein Anfang auf dem Weg zu einem inklusiven Niedersachsen sein kann und dass wir noch einige Zeit brauchen werden, um alles das umzusetzen, was wir uns vornehmen, und um Erfahrungen aus der Praxis zu sammeln. Wir wollen dabei auch das gemeinsame Motto behinderter Menschen und von uns allen im Blick behalten: „Nichts über uns ohne uns!“
Vielen Dank.
(Beifall)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Ihnen auch herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Matthiesen.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass im Augen-blick die Abstimmungsklingelanlage nicht in Betrieb ist. Das heißt, es liegt jetzt an Ihnen selbst, die Disziplin zu wahren. Sie können sich nicht darauf berufen, dass Sie hineingeklingelt werden. Geben Sie das bitte auch den Kolleginnen und Kollegen weiter, die im Moment unterwegs sind!
(Jörg Bode [FDP]: Aber nicht allen! - Heiterkeit)
Das Wort hat jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Thomas Schremmer. Bitte schön, Herr Kollege!
Thomas Schremmer (GRÜNE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen, dass es bei diesem wichtigen The-ma nun doch ein gemeinsamer Antrag geworden ist. Das unterstreicht den gemeinsamen Willen, die UN-Behindertenrechtskonvention auch für taub-blinde Menschen zur Anwendung zu bringen, wo-bei die Kollegin Bruns mir eben im Gespräch ge-sagt hat: Wozu brauchen wir das eigentlich? Wir müssten das eigentlich selbst wissen.
Neben der Anerkennung des Merkmals „Taub-blindheit“ geht es an dieser Stelle eindeutig um den Alltag der taubblinden Menschen. Ich frage mich im Übrigen, wieso es noch nicht eingeführt ist; denn die Rente mit 63 wird mal eben mit schlopperdihopps eingeführt; aber so ein Merkzei-chen einzuführen, dauert aus irgendwelchen Gründen zehn Jahre. Ich verstehe überhaupt nicht, dass die Große Koalition das noch nicht geschafft hat.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)
Viele Taubblinde leben zurückgezogen, abseits vom gesellschaftlichen Leben. Auch in den vertrau-ten vier Wänden gibt es immer wieder Herausfor-derungen, die für uns keine sind, z. B. gefahrlos zu prüfen, ob das Wasser kocht, zu prüfen, ob das Licht angelassen wurde, wenn jemand an der Tür klingelt, wenn jemand anruft, welche Farbe die Kleidung hat usw. usf. Die meisten Menschen blei-ben daher bei ihren Familien wohnen, solange es geht, oder schlagen sich durch. Das ist aus unse-rer gemeinsamen Sicht sicherlich kein Zustand, der menschenwürdiges Leben und Teilhabe er-möglicht.
Insofern finden sie echte Teilhabe durch die Taub-blindenassistentinnen und -assistenten. Wir versu-chen, mit diesem gemeinsamen Antrag auch die Professionalisierung dieses Berufsstandes bzw. dieser Unterstützung durch mehr Aus- und Weiter-bildung voranzutreiben. Aber man muss auch ganz klar sagen: Das Leihen von Ohren und Augen der Taubblindenassistentinnen und -assistenten kostet natürlich Geld. Von der Ausübung dieses Berufs kann man nicht leben. Deshalb ist es sicherlich außerordentlich wichtig, dass die Finanzierung dieser Assistenz über die bundesgesetzliche Ebe-ne gesichert wird.
Lernen, die Dinge anders wahrzunehmen, müssen allerdings beide Seiten, finde ich - die Betroffenen und wir -; denn taub oder blind zu sein oder taub und blind zu sein, heißt ja nicht, stumm zu sein. Das kann man ganz gut und aktuell an einem Bei-spiel hier in Hannover sehen. Auf dem Theodor-Lessing-Platz findet sich ein Beispiel für ein Schwarmkunstprojekt, nämlich die Stachelmen-schen, die dort ausgestellt werden. Es handelt sich um ganz verschiedene, etwas skurrile Skulpturen, die zusammen von Hörenden und Gehörlosen in einer Kooperation erstellt worden sind. Wie sie sich dafür zusammengetan und kommuniziert haben, finde ich beispielhaft, auch wenn es nicht jedem gefallen mag.
Außerdem gibt es Bücher von einer taubblinden Schriftstellerin - das wusste ich zuvor nicht; das habe ich recherchiert - vom Anfang des vergange-nen Jahrhunderts, Helen Keller. Sie hat mehrere Werke geschrieben, nachdem Sie das Lormen erlernt hatte und damit umgehen konnte. Zum
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Schluss meines Beitrags möchte ich aus einem ihrer Werke zitieren:
„Draußen erkenne ich durch Geruch- und Tastsinn den Grund, worauf wir gehen, und die Stellen, woran wir vorbeikommen. Zu-weilen, wenn es windstill ist, sind die Gerü-che so gruppiert, dass ich den Charakter ei-ner Landschaft wahrnehme, eine Heuwiese, einen Dorfladen, einen Garten, eine Scheu-ne, ein Bauerngehöft mit offenen Fenstern, ein Fichtenwäldchen gleichzeitig ihrer Lage nach erkenne.“
Ich finde, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass es wichtig ist, dass wir uns im Parlament vorgenom-men haben, die Gruppe der taubblinden Menschen zu unterstützen. Das ist ein erster Schritt in richtige Inklusion und zeigt, wie wertvoll diese Menschen für uns gemeinsam sein können. Deswegen finde ich diesen Antrag außerordentlich gut und finde es sehr gut, dass wir ihn heute gemeinsam beschlie-ßen.
Vielen Dank.
(Beifall)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Kollege Schremmer. - Das Wort hat jetzt für die FDP-Fraktion die Abgeordnete Sylvia Bruns. Bitte, Frau Kollegin!
Sylvia Bruns (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit dem Inkrafttreten der UN-Behin-dertenrechtskonvention haben Menschen mit Be-hinderungen einklagbare Rechte, vor allen Dingen das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe - und das ist auch gut so!
Thomas Schremmer hat eben ein bisschen aus dem gemeinsamen Gespräch erzählt. Wir hatten vorhin darüber geredet, dass es mich immer wie-der erstaunt, dass es dafür eine UN-Behin-dertenrechtskonvention braucht. Für mich ist Teil-habe schon vorher möglich und sollte auch vorher möglich sein. Jeder Mensch hat ein Recht auf ge-sellschaftliche Teilhabe. Das ist im Interesse von uns allen und ein Menschenrecht. Das hätte uns auch ohne UN-Behindertenrechtskonvention klar sein müssen.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Für mich ist eine der unvorstellbarsten Einschrän-kungen im Leben die Taubblindheit. Hier sind wir alle gefordert, diesen Menschen die Teilhabe zu ermöglichen und ihre Lebenslage zu verbessern.
Ich denke, jetzt ist schon sehr viel von meinen Vorrednern gesagt worden. Es ist also alles ge-sagt, nur noch nicht von allen. Ich möchte das jetzt einfach abkürzen; denn ich möchte das alles nicht wiederholen, und würde mich gerne der Kollegin Gudrun Pieper anschließen, die sagte: Es ist ein starkes Signal aus Niedersachsen, hierbei ge-meinsam voranzugehen. So setzen wir ein Zei-chen.
Vielen Dank.
(Beifall)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Bruns. - Das Wort hat jetzt für die Landesregierung Frau Ministerin Rundt.
Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte als Erstes - vielleicht etwas ungewöhnlich - die Gelegenheit nutzen, um Sie auf einen Film aufmerksam zu machen, auf einen Film, der am 1. Januar in den deutschen Kinos angelau-fen ist und sehr viel mit dem jetzigen Thema zu tun hat. Der Film heißt „Die Sprache des Herzens“. Er spielt im Frankreich des ausgehenden 19. Jahr-hunderts. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die taubblind geboren wurde. Er ist von der Kritik sehr gut aufgenommen und auch bereits ausgezeichnet worden.
Der Film zeigt eben sehr sinnlich, worum es heute geht, und ist deswegen empfehlenswert - wie im Übrigen auch ein Besuch des Taubblindenwerks hier in Hannover-Kirchrode.
Bereits im Juli letzten Jahres war die Verbesse-rung der Situation taubblinder Menschen in Nie-dersachsen Gegenstand eines von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrach-ten Entschließungsantrags. Taubblinde Menschen bilden eine Gruppe, die aufgrund ihrer besonderen Behinderung nur äußerst eingeschränkt am gesell-schaftlichen Leben partizipieren kann.
Ein Baustein auf diesem Weg ist die Einführung des Merkmals „taubblind“; denn in der Regel wer-den die Beeinträchtigung von Hör- und Sehvermö-gen nur einzeln betrachtet und nicht in der Ge-
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samtschau. Bei einem Ausfall eines dieser Sinne wird dessen Funktion zumindest teilweise durch den anderen Sinn ausgeglichen. Im Falle der Taubblindheit ist dieser Ausgleich eben nicht mög-lich, was zu erheblichen Funktionsbeeinträchtigun-gen führt.
Die von Niedersachsen unterstützte Einführung des Merkzeichens „taubblind“ bedeutet also eine Erleichterung für taubblinde Menschen, die dadurch in die Lage versetzt werden, die Art ihrer Einschränkung gegenüber anderen Menschen eindeutig anzeigen zu können. Die Vermeidung von Unklarheiten hinsichtlich der Funktionsbeein-trächtigung ist insbesondere auch im Rahmen der Gewährung von Unterstützungsleistungen wichtig, z. B. in Krankenhäusern, bei Krankenkassen usw.
Vor zwei Jahren hatte die Arbeits- und Sozialminis-terkonferenz nach einem einstimmigen Beschluss den Bund gebeten, das Merkzeichen „taubblind“ einzuführen. Leider ist es bislang noch nicht zu den von uns gewünschten Fortschritten gekom-men. Die Länder haben sich daher wiederholt an den Bund gewandt, zügig die Voraussetzungen für die Einführung des Merkzeichens zu schaffen. Niedersachsen wird sich weiterhin dafür einsetzen.
Ein wesentlicher Punkt bei dem hier vorliegenden Antrag ist auch die Qualifizierung von Fachkräften. So geht es z. B. darum, Kommunikationsdolmet-scherinnen und -dolmetscher, die auch das Lor-men beherrschen, zu unterstützen und auch die Vergütung entsprechend festzulegen. Ein Punkt ist auch die Ausbildung von Taubblindenassistentin-nen und -assistenten und Taubblindendolmet-schern.
Es gibt sehr viel Erfahrung im Umgang mit Taubblindheit, gerade am Zentrum hier in Hanno-ver. Aber es gibt eben noch zu wenige Menschen, die, auf diese Erfahrung aufbauend, notwendige Unterstützung im Sinne von qualifizierter Assistenz leisten können.
Ich freue mich also, Ihnen mitteilen zu können, dass wir gerade Anfang dieser Woche einen klei-nen weiteren Schritt gehen konnten. In enger Ab-stimmung mit dem Blinden- und Sehbehinderten-verband Niedersachsen haben wir in dieser Woche Qualifizierungsmaßnahmen zur Schulung von Taubblindenassistentinnen und -assistenten auf den Weg bringen können. Das Konzept richtet sich nach den Mindestanforderungen des Gemeinsa-men Fachausschusses Hörsehbehindert/Taubblind und ist damit zertifiziert. Unser angestrebtes Ziel ist dabei die Sicherstellung des Bedarfs an Taubblin-denassistenz.
Insgesamt lässt sich sagen, dass das neue Merk-zeichen den taubblinden Menschen zugutekäme, sodass sie ihren besonderen Unterstützungsbedarf auf ganz einfache Weise geltend machen und eindeutig belegen könnten.
Aus all diesen Erwägungen sollten Sie daher der Beschlussempfehlung des Sozialausschusses folgen und dem Entschließungsantrag in der vor-liegenden Fassung zustimmen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Ich stelle fest: Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Deswegen können wir die Beratungen abschließen.
Wir treten in die Abstimmung ein.
Vor dem Hintergrund des Ihnen vorliegenden und von den Rednerinnen und Rednern angesproche-nen gemeinsamen Änderungsantrags aller Frakti-onen des Hauses halte ich Sie damit für einver-standen, dass wir zunächst über diesen Ände-rungsantrag abstimmen. Nur im unwahrscheinli-chen Fall von dessen Ablehnung wäre dann noch über den gemeinsamen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der FDP und gegebenen-falls über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses abzustimmen.
Ich frage also das Haus: Wer dem gemeinsamen Änderungsantrag aller Fraktionen des Hauses in der Drucksache 17/2764 zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. - Gibt es Ge-genstimmen? - Enthaltungen? - Dann haben Sie einstimmig beschlossen. Dem interfraktionellen Änderungsantrag wurde damit gefolgt. Damit ist der Antrag in der Fassung dieses Änderungsan-trags angenommen worden.
Ich stelle fest, dass damit der Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP in der Drucksache 17/2641 und die Beschlussempfeh-lung des Ausschusses nach § 39 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit § 31 Abs. 3 Satz 2 unserer Ge-schäftsordnung abgelehnt sind.
Damit ist der Tagesordnungspunkt 6 erledigt.
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Ich rufe auf den
Tagesordnungspunkt 7: Abschließende Beratung: Natürliche Geburt stärken und fördern - Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 17/2164 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Fami-lie, Gesundheit und Migration - Drs. 17/2477
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag unver-ändert anzunehmen.
Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.
Ich eröffne die Beratung. Als Erste hat die Abge-ordnete Elke Twesten, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Elke Twesten (GRÜNE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland kommen immer mehr Kinder durch Kaiserschnitt auf die Welt. Bei uns in Niedersach-sen mittlerweile fast jedes dritte Kind! Damit reihen wir und auch alle anderen Bundesländer uns in einen mittlerweile allgemeinen Trend in den meis-ten Industrienationen ein. Im Bundesgebiet hat sich die Zahl der Kaiserschnittgeburten in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt.
Und um es gleich vorwegzunehmen: Kaiserschnit-te retten jedes Jahr das Leben von Tausenden von Kindern und ihren Müttern, die eine Geburt auf normalem Weg wahrscheinlich nicht oder zumin-dest nicht ohne bleibende Schäden überleben würden.
Gleichwohl bleibt ein Kaiserschnitt ein Kaiser-schnitt, ein operativer Eingriff. Dennoch: Vieles spricht dafür, sich wieder verstärkt mit der natürli-chen Geburt zu beschäftigen, da der WHO zufolge nur 10 bis 15 % dieser Kaiserschnitte medizinisch notwendig sind.
Den massiven Anstieg der medizinisch nicht not-wendigen Kaiserschnitte beobachten Medizinerin-nen und Mediziner wie auch Hebammen mit größ-ter Sorge. Ein auf allen Seiten gestiegenes Sicher-heitsempfinden, das Vergütungssystem, die be-triebswirtschaftliche Situation vieler Kliniken haben zu einem Verlust an Erfahrung und Zutrauen in die natürliche Geburt geführt.
So berichtete jüngst ein Arzt im Rahmen des Run-den Tisches NRW sehr eindrucksvoll, dass sich die organisatorischen und wirtschaftlichen Interessen einer Klinik maßgeblich auf die Kaiserschnittrate auswirken würden. Er sagt - Zitat -, solange der Kaiserschnitt finanziell besser honoriert werde als die Spontangeburt, betrachte er als Arzt die Sen-kung der Kaiserschnittrate als Utopie. Er selbst habe an seinem Krankenhaus allerdings die Kai-serschnittrate um 10 % gesenkt und dadurch 400 000 Euro Einnahmen pro Jahr verloren. Eine zeitlich in der Regel nur schwer einschätzbare Spontangeburt binde mehr Mittel und Personal als ein fest terminierter Kaiserschnitt.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Kollegin Twesten, ich darf Sie kurz unterbrechen! - Der Abgeordnete Bley möchte Ihnen eine Zwi-schenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Elke Twesten (GRÜNE):
Im Anschluss, bitte.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Im Moment nicht, Herr Bley.
Elke Twesten (GRÜNE):
Im Moment nicht.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Dann ist es keine Zwischenfrage mehr, dann kann ich die Frage im Anschluss auch nicht zulassen. Sie müssten eine Wortmeldung abgeben. Ich wei-se nur darauf hin. Oder Frau Twesten sagt: Jetzt ist es möglich.
Elke Twesten (GRÜNE):
Nein.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Aber Frau Twesten setzt erst einmal fort. - Bitte!
Elke Twesten (GRÜNE):
Genau. - Meine Damen und Herren, aktuell zeigen die jüngsten Entwicklungen sowohl in der Landes-hauptstadt als auch in vielen ländlichen Regionen, dass wir uns mit der Schließung von Geburtsklini-ken auf einem falschen Weg befinden. Die NP berichtete am 18. Oktober 2014:
„Wegen der schlechten Vergütung gelten Geburtskliniken als teuer.“
Ohne zu übertreiben, lässt sich feststellen, dass die Strukturen für eine natürliche Geburt durch die negativen Entwicklungen bei der stationären Ver-
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sorgung und die massive Schwächung und damit Entwertung der so wichtigen Arbeit der Hebammen wegbrechen.
Das Vergütungsproblem, welches schon jetzt viele Hebammen zur Aufgabe ihres Berufes zwingt und einen jahrhundertealten Berufsstand gefährdet, ist seit Jahren bekannt. Und noch immer hat sich nichts Wesentliches geändert.
Aufgabe und Auftrag sind jetzt die in unserem Ent-schließungsantrag formulierten Punkte: das Zu-sammenspiel von Frauenärztinnen und -ärzten, Krankenhäusern und Hebammen zu verbessern und insbesondere an dieser Stelle das Gesund-heitssystem nachhaltig zu verändern.
Wir begrüßen von daher, dass die rot-grüne Lan-desregierung die ansteigenden Kaiserschnittraten gewissenhaft beobachtet und erste Maßnahmen ergriffen hat, um die natürliche Geburt zu stärken.
Die bereits jetzt angelaufene Kampagne zeigt, wie wichtig es ist, die Strukturen zu verbessern und das Wissen um die natürliche Geburt wieder zu-rück in die Kreißsäle zu holen.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu-stimmung bei der SPD)
Vereinzelt gibt es diese Beispiele schon. So betei-ligt sich die MHH als eine von 15 Kliniken an dem europaweiten Projekt „OptiBIRTH“. Die Hochschu-le Osnabrück entwickelt den Qualitätsstandard „Förderung der physiologischen Geburt“, und viele Kliniken haben bereits Hebammensprechstunden eingerichtet.
Leider zeigen diese Beispiele aber auch, dass eine der wesentlichen Fragen nicht beantwortet ist: Wie kommen wir da wieder hin?
Wenn wir das laufen lassen, wird es bei diesen überaus engagierten Geburtshelferinnen und -helfern nur Frust, Enttäuschung und Resignation geben. Wir laufen dann Gefahr, dass wichtige Er-fahrungen, wichtige Ressourcen und Engagement verlorengehen.
Meine Damen und Herren, ich nehme wahr, dass Geburt zwar durchaus ernst,
(Glocke des Präsidenten)
aber gleichwohl als weiches Frauenthema gehan-delt wird. Denn als solches fristet es seit Bekannt-gabe der massiven Probleme im Hebammenbe-reich ein Schattendasein jenseits der sogenannten hemdsärmeligen harten Themen, ohne dass wir nur ansatzweise zu tragfähigen Lösungen kom-men.
Ich werde aber nicht müde, daran zu erinnern, dass Geburtshilfe uns alle angeht: Sie, meine Her-ren, als werdende Väter und als Großeltern, Freunde, Patinnen und Paten.
Ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus zeigt zudem: Es geht auch anders. In Holland sind die Hebammen in der Geburtshilfe die erste In-stanz, und das mit Erfolg. Die Kaiserschnittrate liegt dort mit nur 15 % deutlich niedriger. Manch-mal ist weniger mehr.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Ich komme zum Schluss. Insbesondere den Heb-ammenverbänden ist es zu verdanken: Sie haben uns gezeigt, wie dringlich das Thema ist. Die Zu-stimmung aller Fraktionen zeigt und unterstreicht aber auch die Bedeutung und den gemeinsamen Handlungsauftrag.
(Glocke des Präsidenten)
Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Twesten. - Der Kollege Bley hat das für sich so gelöst, dass er sich zu einer Kurzintervention gemeldet hat. - Sie haben das Wort für 90 Sekunden, Herr Kollege.
Karl-Heinz Bley (CDU):
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Twesten! Ich bin Großvater und habe zwei Enkelkinder. Ich würde gern mehr Enkelkinder haben. Ich darf das zu dem in den Raum stellen, dass Sie gesagt haben, dass es zu viele Kaiserschnitte gibt und dass man nicht so viele Kaiserschnitte braucht.
Ich hoffe, dass das Hohe Haus zustimmt, wenn ich hier einen Fall schildere, den ich im direkten Um-feld erlebt habe. Wenn eine Geburtsphase be-ginnt - 10 Stunden, 15 Stunden; darauf muss ich nicht tiefer eingehen -, dann entscheidet man sich für den Kaiserschnitt. Dieser Kaiserschnitt endete dann fast so, dass man tatsächlich das Leben von Mutter und Kind riskiert hat. Es war eine Phase, in der plötzlich die Narkose nicht wirkt, woher das auch immer gekommen sein mag. Dann war es so, dass die Herztöne auf null gingen und der Arzt
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sagte: Ich übernehme die Verantwortung nicht mehr.
Dann wurde tatsächlich - ich sage „Gott sei Dank“ - die Entscheidung getroffen. Dann wurden Arme und Hände angebunden, dann wurde die Bauch-decke aufgemacht - ohne Narkose.
Das Kind lebt. Ich freue mich.
Ich möchte nur sagen: Wenn man so etwas sieht, dann möchte ich nicht sagen, den Kaiserschnitt nicht einzuleiten. Deswegen haben Sie hoffentlich dafür Verständnis, wenn hier alle vier Fraktionen sagen, sie würden diesem Antrag mit vielen Ände-rungen zustimmen, dass ich diesen Antrag heute ablehnen muss. Ich stimme dem nicht zu.
Danke schön.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Herr Kollege Bley. - Kollegin Twes-ten, Sie möchten antworten. Sie haben dafür eben-falls 90 Sekunden. Bitte schön!
Elke Twesten (GRÜNE):
Herr Bley, ich habe großen Respekt davor, dass Sie hier ein sehr persönliches Erlebnis geschildert haben, und für Ihre Entscheidung. Aber seien Sie sicher: Ich weiß, wovon ich rede. Kaiserschnitte werden dann durchgeführt, wenn sie medizinisch notwendig sind. Dafür wurde dieses Instrument vor vielen hundert Jahren erfunden. Es hat eine Ge-schichte; das wissen Sie vielleicht auch. Ich möch-te aber an dieser Stelle noch einmal betonen: Es gibt viele Zusammenhänge, die sich im Rahmen einer natürlichen Geburt ergeben können. Kein verantwortungsvoller Arzt wird in diesem Moment einen Kaiserschnitt ablehnen, um das Leben von Mutter und Kind zu retten. Ich habe das selber erlebt. Meine Tochter lag unter einer Spontange-burt auf ihrer Hauptschlagader, hat sich die Ver-sorgung abgeklemmt. Ich hatte überhaupt keine Chance zu entscheiden: Hopp oder topp? Viel-mehr hat der Arzt entschieden, und das war gut so; sonst würde meine Tochter heute nicht leben.
(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der CDU und bei der FDP)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Twesten. - Für die CDU-Fraktion hat jetzt die Abgeordnete Petra Jo-umaah das Wort.
Petra Joumaah (CDU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich beginne, möchte ich auch noch einmal das Wort an meinen Kollegen Karl-Heinz Bley richten. - Was dir passiert ist, ist furchtbar, und ich habe absolutes Verständnis dafür, dass dich dieses Ereignis für dein ganzes weiteres Le-ben prägen wird. Aber es ist wirklich so - zu Beginn ihrer Rede hat Frau Twesten darauf hingewiesen -, dass die Kaiserschnittentbindung ein Segen für jede Mutter und für jedes Kind ist, die diese Form der Entbindung benötigen. Ich denke, das wird eigentlich auch überall so gehandhabt.
(Beifall bei der CDU, bei den GRÜ-NEN und bei der FDP)
Meine Damen und Herren, betrachtet man die Zahlen im vorliegenden Antrag - Sie haben eben auch schon darauf hingewiesen -, kann man wirk-lich nur zu dem Ergebnis kommen, dass ganz of-fensichtlich bezüglich der Reduzierung von Kaiser-schnitten bzw. der Förderung der natürlichen Ge-burt großer Handlungsbedarf besteht. Man stellt sich natürlich die Frage nach dem Grund für die-sen so rasanten Anstieg auf inzwischen weit über 30 %. Gerade wir in Niedersachsen liegen noch ein Stück über dem Bundesdurchschnitt.
Als medizinisch notwendig - das haben wir eben gehört - werden laut WHO 10 % bis 15 % angese-hen. Bei diesen medizinisch indizierten Kaiser-schnittentbindungen sollte es natürlich auch blei-ben, aber sie sollten eben auch nicht groß darüber liegen. Denn es gibt durchaus - ich formuliere das jetzt einmal sehr vorsichtig - wissenschaftliche Bedenken bezüglich der Risiken, denen Kinder, die per Kaiserschnitt entbunden wurden, ausge-setzt sind. Gesichert ist, dass die - glücklicher-weise sehr niedrige - Sterblichkeitsrate von Neu-geborenen bei Kaiserschnittentbindungen eben doch leicht erhöht ist. Noch erforscht wird, ob diese Kinder später signifikant häufiger an Asthma, an anderen Bronchialerkrankungen oder aber auch an Diabetes erkranken.
Meine Damen und Herren, wenn man nun nach den Gründen fragt, stellt man fest, dass die Ein-flussfaktoren sehr vielschichtig sind. Einer der Hauptgründe, warum Frauen häufig einen Kaiser-schnitt einfordern - auch das passiert ja -, ist schlichtweg Angst, zum einen Angst vor den Schmerzen einer Geburt, zum anderen aber ins-besondere Angst um das erwartete Baby. Frauen bzw. Eltern sorgen sich, dass es unter der Geburt Komplikationen geben könnte, die unter Umstän-
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den zu bleibenden Schäden des Kindes führen. Diese Ängste der Frauen müssen außerordentlich ernst genommen werden, und man kann ihnen nur mit einer sehr sensiblen, ausführlichen vorgeburtli-chen Beratung durch Gynäkologen und Gynäkolo-ginnen und Hebammen begegnen.
Das Projekt OptiBIRTH - da gebe ich Ihnen recht, Frau Twesten - ist in diesem Zusammenhang si-cher unterstützenswert, auch die Initiierung eines Modellversuchs Hebammensprechstunde ist sicher begrüßenswert, wie auch landesweite Diskussions-foren zum Thema natürliche Geburt bzw. Kaiser-schnitt.
Eines möchte ich hier aber auch ganz deutlich sagen: Wenn sich eine Schwangere nach ausführ-licher Beratung doch für einen Kaiserschnitt ent-scheidet, müssen wir auch diese Entscheidung respektieren.
(Zustimmung von Karl-Heinz Bley [CDU] und Sylvia Bruns [FDP])
Die Geburt eines Kindes ist einer der wichtigsten, bedeutendsten, aber auch intimsten Momente im Leben einer Frau, und letztendlich hat nur sie zu entscheiden, wie sie ihr Kind entbindet. Ich betone nochmals: Nach umfangreicher Aufklärung und Beratung müssen die Frauen eine persönliche, selbstbestimmte Entscheidung treffen können.
Kräftig einmischen müssen wir uns allerdings bei einem weiteren Einflussfaktor: den Abläufen und Rahmenbedingungen in den Entbindungskliniken. Da wir niedersachsenweit sehr unterschiedliche Kaiserschnittquoten in den Krankenhäusern ha-ben - sie variieren zwischen 26 % und 43 % -, sollten wir uns die Konzepte der Kliniken mit den niedrigen Raten ansehen, um daraus Schlüsse zu ziehen und gegebenenfalls Lösungsansätze erar-beiten zu können.
(Glocke des Präsidenten)
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt scheint mir auch die Sorge des medizinischen Personals vor juristi-schen Konsequenzen zu sein. Wenn bei der Ent-scheidungsfindung pro oder contra natürliche Ge-burt bzw. Kaiserschnitt die Angst einer eventuellen Klage wegen möglicher Geburtsschäden im Raum steht, wird vielleicht nicht mehr objektiv im Sinne der Schwangeren und ihres Kindes entschieden. Insoweit sollten ganz sicher die Leitlinien der me-dizinischen Fachgesellschaften überarbeitet wer-den.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Den Teil mit den Kosten lasse ich aus. Das hat Frau Twesten richtig und korrekt vorgetragen. Der Überarbeitung des Mutterpasses stimmen wir auch zu.
Wir haben das gleiche Ziel, meine Damen und Herren: pro natürliche Geburt, contra Kaiserschnitt. - Deshalb stimmen wir dem Antrag zu.
Vielen Dank.
(Beifall)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Für die SPD-Fraktion erteile ich jetzt der Abgeordneten Dr. Thela Wernstedt das Wort.
Dr. Thela Wernstedt (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorrednerinnen haben schon wesentliche Punkte erläutert. Wir haben auch schon sehr persönliche, von existenzieller Erfahrung gefärbte Berichte hier gehört. Ich denke, das ist ein eindrucksvolles Bei-spiel dafür, dass dieses Thema niemanden richtig kaltlässt und dass eben auch sehr viele existenzi-elle Emotionen mit ihm verbunden sind. Ich denke, es ist auch richtig, wenn die Entscheidung in einem medizinisch so wichtigen Thema dem Gewissen vorbehalten bleibt. Wenn jemand aus einer Frakti-on das nicht mittragen kann, dann soll es ihm auch freistehen, nein zu sagen. Ich finde, das ist sehr wichtig. Das wird auch bei anderen Entscheidun-gen im biologischen und medizinischen Bereich so gehandhabt.
Die ausgeprägten regionalen Unterschiede, die Frau Joumaah zum Schluss angesprochen hat - Kaiserschnittraten zwischen 26 % und 43 % -, beruhen vermutlich darauf, dass vorhandene Ent-scheidungsspielräume in den Krankenhäusern unterschiedlich bewertet werden, und dies in Be-zug auf die Krankenhausorganisation - Stichwort „Planbarkeit eines Eingriffs“ -, auf die Refinanzie-rung, die Frau Twesten auch schon angesprochen hat, und auf die Risikobewertung: Was geht wo-möglich schief, wenn wir vor und während der Geburt nicht eingreifen?
Warum sind hohe Kaiserschnittraten ein Problem? Es ist bereits angedeutet worden, dass es starke Hinweise darauf gibt, dass Kinder, die per Kaiser-schnitt entbunden wurden, häufiger an Asthma erkranken, auch andere Atemwegserkrankungen unmittelbar nach der Geburt und in der Zeit da-nach haben. Auch die Narkoseeinleitung bei einer
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Schwangeren ist mit einem hohen Risiko verbun-den. Das weiß ich noch aus eigener Erfahrung.
Wenn also nur maximal 15 % der Kaiserschnitte, wie die WHO einmal festgestellt hat, medizinisch indiziert sind und wir darüber liegen, müssen wir überlegen, ob wir die Schwangeren und auch die Kinder nicht einem erhöhten überflüssigen Risiko aussetzen, wenn wir dennoch nachgeben, solche Kaiserschnitte durchzuführen. Das tut den Kindern, den frischgebackenen Müttern und vermutlich auch den Vätern nicht gut.
Wir haben in unserem Antrag - einige Punkte sind schon genannt worden - einen Maßnahmenkatalog zusammengestellt, um Veränderungen in dem komplexen Entscheidungsgeschehen herbeizufüh-ren. Dazu zählt auch eine Stärkung der Stellung der Hebammen im Geschehen. Wir plädieren für den Aufbau von Hebammenkreißsälen in Nieder-sachsen. Die Frauen werden unter der Geburt, von Anfang bis Ende, verantwortlich von Hebammen betreut, und nur dann, wenn sich gravierende Schwierigkeiten ergeben und Risiken entstehen, wird ein Ärzteteam mit operativen Eingriffsmöglich-keiten hinzugezogen.
Hier soll sehr deutlich gesagt werden: Es geht um eine fachkompetente Betreuung der Gebärenden unter der Geburt mit der Sicherheit, bei Schwierig-keiten jederzeit eingreifen zu können. Es findet eine Akzentverschiebung in der Betreuung statt, keine erhöhten Risiken für die Frauen.
Wir wollen die Einrichtung von Hebammensprech-stunden fördern, die die Schwangeren aufklären und beraten. Ich sage deutlich: Frauen werden natürlich über Risiken und Probleme aufgeklärt. Aber der Akzent liegt nicht nur auf den Risiken und Nebenwirkungen, sondern auf den Stärken, die die Frauen mitbringen.
Ein wichtiges - Frau Twesten hat es schon ange-sprochen -, aus meiner Sicht dezidiert frauenpoliti-sches Thema betrifft das ganz große Rad der Re-finanzierung von Krankenhausleistungen. Wie bitte schön ist es zustande gekommen, dass die Vergü-tung einer normalen natürlichen Geburt mit ca. 600 Euro erfolgt, gleichgültig ob die Geburt nach zwei Stunden komplikationslos zu Ende ist oder erst nach drei Tagen intensiver Betreuung einschließ-lich eines Periduralkatheters zur Schmerztherapie unter der Geburt.
Wie kommt es, dass der Kaiserschnitt mit mehr als doppelt so viel Geld vergütet wird, mit 1 400 Euro?
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Und weni-ger Personaleinsatz!)
Vorhaltekosten haben beide Versorgungsformen. Aber die innere Logik ist eine andere. Während die OP zur Durchführung eines Kaiserschnittes einen bestimmten Aufwand mit qualifiziertem und pflege-rischem Personal sowie Geräten und Technik und anderen Mitarbeitern betreiben muss, ist die Zeit des Kümmerns und operativen Versorgens relativ kurz. Das qualifizierte und menschliche Kümmern machen hinterher andere. So kann jede geburts-hilfliche OP-Abteilung danach streben, ihren OP möglichst hoch auszulasten. Hier sind wir in der instrumentellen und technischen Logik der Waren-herstellung angelangt.
Die Betreuung einer Frau unter der Geburt erfor-dert viel Fachwissen, Erfahrung und Standfestig-keit. Der Geburtsverlauf ist nur bedingt zu beein-flussen. Das Sorgen und Kümmern um einen an-deren Menschen folgt einer anderen Logik. Hier ist Fachkompetenz, gute Hintergrundorganisation für den Notfall und eine gute Beziehung zwischen den Beteiligten gefragt - Fähigkeiten und Kenntnisse, die traditionell weiblich konnotiert sind. Als weiblich geltende Fähigkeiten haben den bedeutsamen Nachteil, dass sie traditionell abgewertet werden, sowohl was die allgemeine Wertschätzung betrifft als auch den Geldwert ihrer Entlohnung. Die we-sentlich schlechtere Vergütung der Begleitung bei natürlicher Geburt findet hier ihre Entsprechung.
(Glocke des Präsidenten)
Daher fordern wir die Landesregierung auf, sich für eine bessere Vergütung der Betreuung normaler Geburten im Vergleich zu Kaiserschnitten einzu-setzen.
Wir haben hier in der Region Hannover eine hoch aktuelle Debatte zu genau diesem Thema. Wir gehen im Klinikum Region Hannover den schwieri-gen Pfad zwischen wirtschaftlicher Konsolidierung eines Krankenhauskonzerns, möglichst wohnort-naher Versorgung, einer qualitativ hochwertigen Versorgung und einer Ausrichtung der Kranken-hausstandorte auf die nächsten 30 Jahre und die kommenden medizinischen Entwicklungen. Auch bei der geburtshilflichen Versorgung schlug der Streit in den letzten Monaten hohe Wogen: Was ist noch an Wegezeiten zumutbar? Wo setzen Ge-fährdungen ein? Wo muss sich die Versorgung verändern und verbessern?
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Unser politisches Ziel ist: Stärkung der Schwange-ren in ihrer Fähigkeit, Kinder normal bekommen zu können, Vermeidung von überflüssigen Risiken und Spätfolgen für Mütter und Kinder, keine Be-vormundung der werdenden Mütter, Erhalt mög-lichst wohnortnaher, qualitativ hochwertiger Beglei-tung bei Schwangerschaft und Geburt.
(Glocke des Präsidenten)
Um es mit einem Zitat aus der Bibel, aus dem Pre-diger Salomo, Kapitel 14, Satz 3 zu sagen: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit“.
Und für das geduldige Präsidium noch Satz 7 von der Abgeordneten: Reden hat seine Zeit, und Schweigen hat seine Zeit.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Sehr gut, Frau Dr. Wernstedt. Aber das Präsidium muss sich an Redezeiten halten.
Es spricht jetzt für die FDP-Fraktion die Abgeord-nete Sylvia Bruns. Sie haben das Wort, Frau Kol-legin.
Sylvia Bruns (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuellen Daten, die auch meine Vorrednerinnen schon angesprochen haben, spre-chen eine deutliche Sprache. In den letzten 20 Jahren hat sich die Kaiserschnittrate verdoppelt. Bei jeder dritten Schwangerschaft fällt die Ent-scheidung zu einem Kaiserschnitt. Zwei Drittel der Frauen, die das erste Kind mit Kaiserschnitt ent-bunden haben, entbinden auch das zweite Kind mit Kaiserschnitt. Setzt man die medizinische Not-wendigkeit dagegen, ist diese nur bei circa 10 % der Fälle gegeben. Dies geht mit vielen gesell-schaftlichen Veränderungen einher. Frau muss schnell geplant ihr Kind bekommen, mindestens nach einem Monat wieder ihre Bikinifigur haben und nach sechs Wochen wieder berufstätig sein. Der gesellschaftliche Druck ist enorm.
Doch stellt sich für uns immer die Frage: Kann die Politik etwas tun, und muss die Politik auch etwas tun? - Eine Schwangerschaft und eine Geburt sind ein zutiefst privates Thema für die Paare. Dennoch kann im Bereich der besseren Aufklärung über Kaiserschnitte viel erreicht werden. Wir müssen in diesem Bereich so viel wie möglich sensibilisieren, sodass ein Kaiserschnitt keine einfache Geburt ist, sondern ein chirurgischer Eingriff, dessen Auswir-kungen auf Mutter und Kind nicht problemlos sind. Schlagworte sind hier die Bindung zwischen Mutter und Kind und die Auswirkungen auf das Neugebo-rene, das mit Kaiserschnitt zur Welt kommt. Ärzte können hier die Schwierigkeiten besser beschrei-ben, als ich es kann.
Aber daraus kann man nicht schließen, dass alle Mütter und Kinder solche Probleme haben. Da gilt auf jeden Fall als vorderes Postulat die Mündigkeit der Frau. Wir müssen dafür sorgen, dass für die Frau eine wirkliche Wahlfreiheit besteht. Es kann deswegen nicht sein, dass es wirtschaftlich loh-nender ist, einen Kaiserschnitt zu machen, als eine natürliche Geburt durchzuführen. Dazu ist von meinen Vorrednerinnen schon viel gesagt worden - über Abläufe in Kliniken usw. und über die unter-schiedlichen Zahlen in Niedersachsen.
Wir dürfen jetzt nicht daraus das Postulat erstellen, dass ab jetzt alle Kinder nur noch natürlich zur Welt kommen müssen, analog zu der Werbung zum Stillpostulat, wie ich es immer genannt habe: Heute fühlt man sich doch minderwertig, wenn man sein Kind nicht mindestens ein Jahr voll ge-stillt hat. - Auf diese gesellschaftliche Entwicklung möchte ich hinweisen. Da möchte ich bei dem Thema gar nicht erst landen.
Zu guter Letzt: Wenn alle Beratungsangebote wahrgenommen werden, wenn Ärzte sensibel auf das Thema aufmerksam gemacht haben, dann liegt die letzte Entscheidung bei dem Paar. Auch wenn es keine medizinische Indikation gibt und sie sich für einen Kaiserschnitt entscheidet, haben wir das zu akzeptieren. Es gibt nichts Privateres, als ein Kind zu kriegen.
Ich freue mich, dass wir dem Antrag zustimmen können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Bruns. - Es hat jetzt für die Landesregierung Frau Ministerin Rundt das Wort. Bitte schön!
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Cornelia Rundt, Ministerin für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal danke ich den Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dass sie mit diesem Entschließungsantrag ein Problem aufgrei-fen, das sich in den letzten Jahren verstärkt ge-zeigt hat. Die Bertelsmann-Studie von Professor Petra Kolip belegt eindrücklich, dass die Kaiser-schnittrate in Deutschland zu hoch ist. Jedes dritte Kind in Deutschland kommt per Kaiserschnittent-bindung zur Welt und damit doppelt so viele Kinder wie vor ca. 20 Jahren. In Niedersachsen gibt es signifikante Unterschiede zwischen 22 und 43 % in den einzelnen Regionen. Niedersachsen liegt über dem Bundesdurchschnitt. 15 % hält die WHO für plausibel.
Wie in dem Antrag erwähnt, sind die Ursachen sehr vielfältig. Es ist deshalb sinnvoll, Schwangere, aber auch Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Kliniken zu sensibilisieren und zu informieren.
Andererseits sind die Rahmenbedingungen unter die Lupe zu nehmen, warum eine Schwanger-schaft immer häufiger mit einem Kaiserschnitt be-endet wird. Studien liefern Hinweise, dass bei feh-lender oder unzureichend gestellter medizinischer Indikation nach einem Kaiserschnitt häufiger ge-sundheitliche Probleme bei Mutter und Kind auftre-ten als bei der natürlichen Geburt.
Herr Bley, noch einmal zur Bekräftigung: Es soll nicht der falsche Eindruck entstehen, dass jemand in Zweifel zieht, dass in einer geburtlichen Notsitu-ation der Kaiserschnitt für Mutter und Kind Leben retten kann. Ich bin aber auch überzeugt, dass eine Operation - und nichts anderes ist ein Kaiser-schnitt - tatsächlich nur in medizinischen Notfällen erfolgen sollte. Der Dienstplan eines Krankenhau-ses, rückläufige Geburtenzahlen, Auslastungsgra-de von OPs o. Ä. dürfen eben nicht ausschlagge-bend sein für die Durchführung eines solchen Ein-griffs.
Wir haben bereits mit einer Kampagne zur Sen-kung der Kaiserschnittraten begonnen und zu-nächst einmal Gespräche mit den Chefärztinnen und Chefärzten und leitenden Hebammen ver-schiedener Geburtskliniken mit niedriger Kaiser-schnittrate geführt. Im Kern kann man sagen, dass der wichtigste Faktor in diesem Zusammenhang letztlich die Haltung, die innere Einstellung der Leitung der jeweiligen Abteilung zur natürlichen Geburt war. Wichtig ist natürlich auch eine ver-stärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit in diesem Bereich.
Manche Themen sind auch nur auf Bundesebene zu bewegen. Dazu kann ich sagen, dass die Kon-ferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerin-nen und -minister der Länder Anfang Oktober auf Antrag Niedersachsens einstimmig einen Be-schluss gefasst hat, der auch die Bundesebene zum Handeln auffordert. Insbesondere geht es darum, Fehlanreize vor allem finanzieller Art zulas-ten der natürlichen Geburt zu verhindern und na-türliche Geburten angemessen zu vergüten.
Außerdem wird das Bundesgesundheitsministeri-um gebeten, in Bezug auf das große Problem der auch für die Krankenhäuser erheblich gestiegenen Haftpflichtversicherungen die derzeit diskutierten Lösungsansätze zu prüfen und nachhaltige Lösun-gen zu finden, wie es auch bei den Hebammen der Fall war.
Darüber hinaus möchten wir die Weiterentwicklung und Aktualisierung der Leitlinien in allen beteiligten Fachverbänden fördern.
Hebammen haben den schönsten Beruf der Welt. Für Mütter ist die natürliche Geburt ein besonderes Erlebnis, das sie lebenslang mit ihrem Kind verbin-det. Außer medizinischen Indikationen sollte es keinen Grund geben, diesen natürlichen und guten Weg ins Leben zu verhindern.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Ich stelle auch hier fest, dass keine weiteren Wortmeldungen zu die-sem Tagesordnungspunkt vorliegen.
Wir treten in die Abstimmung ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer der Be-schlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Drucksache 17/2164 unverändert annehmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Ich frage nach den Gegen-stimmen. - Ich frage nach Enthaltungen. - Dann hat das Parlament bei einer Gegenstimme so be-schlossen.
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Ich rufe dann auf den
Tagesordnungspunkt 8: Abschließende Beratung: Oberweser wachküssen und Potenziale für ein starkes Südniedersachsen heben - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/1641 - Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2469
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag abzu-lehnen.
Eine Berichterstattung ist auch hier nicht vorgese-hen.
Wir treten in die Beratung ein. Für die antragstel-lende FDP-Fraktion hat der Kollege Christian Grascha das Wort. Bitte, Herr Kollege!
Christian Grascha (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema Verkehr spricht Rot-Grün in der Koalitionsvereinbarung von zukunfts-fähiger Mobilität für alle und alles in Niedersach-sen. - Was für ein Anspruch, meine Damen und Herren!
„Güterverkehre auf Schiene und Binnenwasserwe-ge verlagern“, lautet eine Überschrift der Koaliti-onsvereinbarung. - Noch so ein Anspruch!
Die rot-grüne Koalition verfolgt das Ziel, Güterver-kehr von der Straße auf die Binnenwasserstraßen zu verlagern. Wo immer möglich, wird das durch Förderung von Wasserstraßen erfolgen. - Das stammt ebenfalls aus Ihrer Koalitionsvereinbarung. Ein weiterer Anspruch!
Aber was, meine Damen und Herren, ist die Reali-tät? - Bei dem Thema Wasserstraße bleiben Sie genauso wie bei vielen anderen Themen auch - ob es die Landesraumordnung oder das Südnieder-sachsenprogramm ist - bei einer Ankündigungspo-litik. Sie produzieren Ankündigungen und Papier, anstatt konkrete Schritte für unser Land in die We-ge zu leiten. Da versagen Sie vollständig, meine sehr geehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP)
Nehmen wir als Beispiel unsere Entschließungsan-träge zum Thema Wasserwege. Der Entschlie-ßungsantrag zur Mittelweser, Drucksache 17/79, ein weiterer Entschließungsantrag zur Zukunft der Binnenwasserstraßen, Drucksache 17/822, und der Entschließungsantrag zur Oberweser, Druck-sache 17/1641, werden aufgrund Ihrer koalitionä-ren Zerstrittenheit und Hilflosigkeit schlicht und ergreifend abgelehnt. Es gibt keine Entschließung von Ihnen, es gibt keine Initiative von Ihnen, es gibt keinen Änderungsantrag - es wird einfach abgelehnt. Das ist Politikversagen, meine Damen und Herren.
Ich möchte jetzt vor allem den Kollegen Schminke ansprechen, der ja glücklicherweise auch an der Debatte teilnimmt. Er hat sich im März-Plenum des letzten Jahres eingebracht. Er hat durch Zwischen-rufe unablässig auf die Oberweser aufmerksam gemacht und die Forderung aufgestellt, endlich etwas für die Oberweser zu tun. Ich darf ein Zitat aus seinem Redebeitrag vom 27. März 2014 vorle-sen:
„Wir brauchen die Belebung der Weser. Wir wollen Schwerlastgüter über die Weser transportieren. Dafür brauchen wir Hilfe. Da-für werden Spezialschiffe benötigt. Dafür muss die Oberweser aktiviert werden.“
Das, meine Damen und Herren, ist genau der rich-tige Ansatz. Allerdings kann ich mir dann Ihr Ab-stimmungsverhalten zu dem heutigen Antrag nicht erklären, lieber Kollege Schminke. Das ist wirklich peinlich.
(Christian Dürr [FDP]: Sehr richtig!)
Aber nicht nur bei dem Ankündigungsabgeordne-ten Schminke fallen Reden und Handeln ausei-nander, sondern im Grunde genommen fallen bei allen Mitgliedern der Regierungsfraktionen und bei der gesamten Regierung Reden und Handeln aus-einander.
So hat der Verkehrsminister Olaf Lies im März-Plenum zu dem Thema Folgendes gesagt:
„Das Wasserstraßennetz ist von entschei-dender Bedeutung; aber für das Wasser-straßennetz ist es von entscheidender Be-deutung, dass eine durchgängige Befahr-barkeit auf allen Streckenabschnitten für die heute gängigen Schiffstypen gewährleistet ist.“
(Zustimmung bei der SPD)
Das, Herr Minister, sind Ihre Reden. Entschlie-ßungsanträge der Opposition abzulehnen, keine eigenen zustande zu bringen und nichts für die Verlagerung von Gütern auf die Wasserstraßen zu unternehmen, ist Ihr Handeln. Reden statt Handeln ist kein Regierungsmodus. Rot und Grün sind
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vielmehr im gegenseitigen Oppositionsmodus. Das ist zum Schaden für unser Land, und deswegen müssen Sie endlich handeln.
(Beifall bei der FDP - Christian Dürr [FDP]: Sehr richtig!)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Herr Kollege Grascha. - Es bedurfte keiner hellseherischen Fähigkeiten: Nun hat der Kollege Schminke das Wort für die SDP-Fraktion. Bitte schön, Herr Kollege!
(Christian Dürr [FDP]: Ah, der Ankün-digungsabgeordnete!)
Ronald Schminke (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie soll das eigentlich gehen? Wie wollen Sie von der FDP die Oberweser wachküssen, wenn Sie sich selber im tiefsten Schlaf befinden?
(Heiterkeit bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Sie sollten sich ein Aufwachmittel spritzen lassen, damit Sie zur Kenntnis nehmen können, was an der Oberweser schon seit Jahren abgearbeitet wird. Das wissen Sie offensichtlich nicht; denn sonst hätten Sie diesen Antrag nie gestellt.
(Christian Grascha [FDP]: Das hörte sich im März aber noch anders an!)
Wir arbeiten seit dem Jahr 2013 an den Projekten Schwergutterminal und Weserumschlagstelle, und uns begleiten kompetente Partner: die IHK Kassel und die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Kassel - wir arbeiten länderübergreifend -, Railistics und die Firma Richter Maschinenfabrik aus Hessisch Lich-tenau, AHE Verbundsteine, das Wasser- und Schifffahrtsamt Hann. Münden und die Interessen-gemeinschaft Oberweser. Nicht vergessen möchte ich die Wirtschaftsförderungsgesellschaft WWS aus Hann. Münden mit ihrem hervorragenden Ge-schäftsführer Herrn Bilstein, der sich sehr küm-mert, und das niedersächsische Wirtschaftsminis-terium in Person unseres Wirtschaftsministers Olaf Lies, dem wir besonders dankbar sind, dass er uns so unterstützt.
Es gab bereits mehrere Treffen in Hannover und in Berlin, aber auch eine große Fachtagung in Hann. Münden an der Oberweser. Die FDP war nicht ein einziges Mal dabei - totale Fehlanzeige! Darum sind Sie jetzt auch so ahnungslos.
Einige Termine möchte ich Ihnen trotzdem nennen: 19. August 2013: Veranstaltung mit regionaler Politik. 26. September 2013: Termin im nieder-sächsischen Wirtschaftsministerium. 27. Septem-ber 2013: Termin im hessischen Wirtschaftsminis-terium. November 2013: Beauftragung der Railis-tics GmbH zum Masterplan Portalkrananlage Hann. Münden. 20. November 2013: Termin mit Kooperationspartnern und Besprechungen zum weiteren Vorgehen. 2. Dezember 2013: Bespre-chung beim WSA in Hann. Münden, Thema war die Kategorisierung der Oberweser und die Abstu-fung in sonstige Wasserstraßen.
(Christian Grascha [FDP]: Da sind Sie Seite an Seite mit Herrn Bode mar-schiert, Herr Schminke!)
Die Firmen forderten Investitionssicherheit, weil die FDP-Bundestagsfraktion in Berlin zusammen mit der CDU dabei war, die Herabstufung der Flüsse vorzunehmen. Die Reform der Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung war der Beitrag der FDP für unse-re Oberweser.
(Christian Grascha [FDP]: Das ist eine Frechheit!)
Die Menschen in unserer Drei-Flüsse-Stadt haben dagegen demonstriert. Sie waren mit den Beschäf-tigten der WSA auf der Straße -
(Christian Grascha [FDP]: Und mit Herrn Bode!)
gegen Sie und gegen Ihre Politik, Herr Grascha. Das muss hier auch einmal deutlich gesagt wer-den.
(Beifall bei der SPD - Christian Grascha [FDP]: Das ist Unsinn!)
Wir brauchen die Manpower für die Pflege und die Instandhaltung der Wasserbauwerke an der We-ser, ansonsten investiert kein Unternehmen auch nur einen Cent.
Heute können wir sagen: Ziel erreicht. Die FDP ist mit ihrem Privatisierungswahn aus dem Bundestag und zwischenzeitlich auch aus anderen Länderpar-lamenten geflogen.
Die Oberweser bleibt beschiffbar, Herr Grascha. Darum, und nur darum werden an der Oberweser jetzt Unternehmen investieren. Das Land wird die-se Anstrengungen mit Fördergeldern unterstützen.
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Verehrte Damen und Herren der FDP, Sie haben auch die Investorengespräche, die wir bei uns an der Oberweser, in Hannover und auch in Berlin geführt haben, verschlafen: 23. Januar 2014: Be-sprechung der Themen Masterplan und Portalkran mit Landrat Reuter bei Wirtschaftsminister Olaf Lies in Hannover. 5. März 2014: Gespräch im Bundesverkehrsministerin zum Thema Digitale Infrastruktur und zum Thema Kategorisierung der Oberweser. Dabei ging es immer noch um Ihr Be-streben, die Oberweser nicht beschiffbar zu halten. 10. April 2014: Olaf Lies vor Ort an der Weserum-schlagstelle, anschließend im Hotel Freizeit Aue-feld mit ca. zwölf Unternehmen, drei Speditionen, der Railistics GmbH, dem Touristikverband, der Wirtschaftsfördergesellschaft WWS Hann. Mün-den, der WRG Göttingen, der IHK Kassel, der IHK Hannover, dem Regionalverband Hannover, der SüdniedersachsenStiftung, RegJo und diversen anderen Interessenvertretern.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Herr Kollege Schminke, der Kollege Grascha möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Ronald Schminke (SPD):
Nein. Herr Kollege Grascha hat später Gelegenheit dazu, in einer Pause oder nach der Debatte.
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Herr Kollege Schminke, Sie müssen das nicht begründen. Sie brauchen nur Nein zu sagen. Das haben Sie getan.
Ronald Schminke (SPD):
Auch die Medien waren zahlreich anwesend, Herr Grascha. Sie berichteten übrigens sehr positiv über eine gelungene Fachveranstaltung.
(Christian Grascha [FDP]: Warum ha-ben Sie dann im März noch die Bege-hung gefordert?)
Und wo war die FDP bei der Beteiligung vor Ort? - Fehlanzeige! Die FDP wurde bei keinem Termin gesichtet, obwohl die Veranstaltungen in den Me-dien groß angekündigt waren. Sie sind ein zuver-lässiger Totalausfall; das will ich Ihnen sagen - nirgends zu sehen!
(Zustimmung und Heiterkeit bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Sie sind in der Siebenschläfer-Rolle, aber wollen uns und die Oberweser wachküssen! Unglaublich!
(Christian Grascha [FDP]: Sie will ich nicht wachküssen! - Jörg Bode [FDP]: Nee, nee, nee!)
Inzwischen sind wir in der Sache deutlich vorange-kommen. Sowohl die Stadt Hann. Münden als auch der Landkreis und auch unser Südnieder-sachsenbüro haben bei weiteren Terminen am 14. und 15. sowie am 21. August 2014 an vorbereiten-den Gesprächen zur Einholung eines hydrauli-schen Gutachtens teilgenommen - die FDP war wieder nicht da.
(Christian Grascha [FDP]: Da ist ja ei-ne Menge Papier produziert worden!)
Es gibt inzwischen Investorengespräche für das Schwergutterminal. Zwei Angebote für das hydrau-lische Gutachten wurden eingeholt, und inzwi-schen wurde auch ein Auftrag erteilt. - Herr Grascha, ein bisschen mehr Ruhe!
(Heiterkeit bei der SPD - Dr. Stefan Birkner [FDP]: Das sagt der Richtige! - Christian Grascha [FDP]: Sie lassen ja noch nicht mal Zwischenfragen zu, so peinlich ist das!)
Sie müssen sich das auch mal anhören; das sind Fakten, die ich hier vortrage.
(Zustimmung bei der SPD)
Am 22. Januar, also übermorgen, trifft sich der Lenkungskreis zu dem Projekt. Auch da ist die FDP nicht dabei. Wir machen das allein, dann wird es wenigstens was.
(Lachen bei der FDP)
Sie produzieren derweil nur Schlagzeilen und hei-ße Luft.
Ihr Antrag ist eine echte Zumutung. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass wir inzwischen bereits das flachgängige Schubschiff, das Sie für Schwer-lasttransporte auf der Oberweser eingefordert ha-ben, im Einsatz haben. Sie fordern die Landesre-gierung in Ihrem Antrag auf, so einen Schiffstyp entwickeln zu lassen. Aber dieses Schiff gibt es schon; es heißt Lavara - ein schöner Name - und fährt, Dr. Grascha, auf der Weser.
(Heiterkeit bei der SPD)
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Es hat ohne die FDP bereits im November 2014 mit Schwergut beladen abgelegt.
(Zustimmung bei Thomas Schremmer [GRÜNE])
Die maritime Abteilung der FDP hat uns nicht ein-mal vom Anleger zugewunken. Das hätten wir nämlich erwartet.
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Weiter will die FDP in Ihrem Antrag die Fahrgast-schifffahrt, die Freizeitschifffahrt und den Kanutou-rismus einbeziehen. Aber auch die, Herr Grascha, sitzen bei uns bereits seit vielen Jahren am Tisch.
(Christian Grascha [FDP]: Warum ha-ben Sie selbst eine Begehung im März 2014 gefordert, wenn alles so toll ist?)
Wir sollen die Verlagerung von Transporten auf die Binnenschifffahrt überprüfen, fordert die FDP. - Was glauben Sie eigentlich, was wir mit den be-troffenen Firmen in unseren Gesprächen bespre-chen? Genau darüber reden wir doch. Wir haben Potenziale, Möglichkeiten, Wertschöpfungen mit der IHK und anderen Wirtschaftsexperten abge-stimmt. Wir haben mögliche Synergieeffekte be-sprochen. Denn wir verfügen an der Oberweser leider nicht unbegrenzt über Wasser für Transpor-te. Darum macht es Sinn, mit einer Flutwelle aus der Edertalsperre immer gleich mehrere Transpor-te abfließen zu lassen. Das ist die Oberweser-Logistik - so nennen wir das. Das ist eine abge-stimmte, vernünftige und gute Sache, ein Zusam-menspiel aller Akteure vor Ort.
(Glocke des Präsidenten)
Die Gespräche mit der Fahrtgastschifffahrt führen wir schon so lange, wie diese Schiffe auf Weser und Fulda unterwegs sind. Natürlich brauchen sie in der Sommerzeit genug Wasser unterm Kiel. Das alles besprechen wir seit Jahren; in den Medien wird darüber auch immer berichtet. In Ihrem Antrag werden Selbstverständlichkeiten aufgeführt.
(Glocke des Präsidenten)
Sie haben die Oberweser in Ihrer allerletzten Re-gierungszeit in Niedersachsen nie beachtet. Sie haben uns mit Ihrem Privatisierungswahn mit der Abstufung - - -
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Herr Kollege Schminke, bitte sprechen Sie jetzt Ihren letzten Satz. Ich habe die Uhr schon eine halbe Minute weiterlaufen lassen. Sie haben das Klingeln gehört. Kommen Sie bitte zum Ende!
Ronald Schminke (SPD):
Ja, Herr Präsident. - Die FDP ist havariert. Ich stelle fest: Sie sind an jeder Stelle mit Ihrer Politik überflüssig - genauso wie Ihr Antrag.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Herr Kollege. - Das Wort hat für die CDU-Fraktion der Abgeordnete Karsten Heineking. Bitte!
(Gerd Ludwig Will [SPD]: Gib Schmin-ke mal recht!)
Karsten Heineking (CDU):
Das wird nicht so einfach.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Niedersachsen hat im Vergleich zu ande-ren Bundesländern ein sehr weit verzweigtes und sehr gut ausgebautes Wasserstraßennetz. Durch die Anbindung der niedersächsischen Seehäfen und der Häfen Bremens und Hamburgs über die Ems, die Weser und die Elbe an die internationa-len Schiffsverkehre spielt die Binnenschifffahrt hierzulande eine bedeutende Rolle. Das soll auch so bleiben.
Man darf allerdings bei all dem nicht vergessen, dass die Binnenschifffahrt im Wettbewerb mit an-deren Verkehrsträgern steht - mit der Straße und der Schiene. Die Binnenschifffahrt kann ihre spezi-ellen Vorteile nur dann ausspielen, wenn trotz rela-tiv geringer Transportgeschwindigkeit große Men-gen von Gütern bewegt werden.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund wäre sicherlich auch der Ausbau der Oberweser wünschenswert, wenn - und das ist der entschei-dende Punkt - hierfür tatsächlich Bedarf bestünde. Genau diesen Eindruck habe ich allerdings nicht. Wenn und soweit auf der Oberweser besondere Transporte erforderlich sind, kann der Edersee aufgestaut werden, und so können auf der entste-henden Flutwelle Transporte erfolgen, die beson-ders viel Wasser benötigen.
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Die Unternehmen entlang der Oberweser stellen sich in einem seit Jahren bewährten Verfahren darauf ein. Und mir jedenfalls sind vonseiten der Unternehmen keine Klagen zu Ohren gekommen, die insbesondere eine mangelhafte Schiffbarkeit der Oberweser zum Inhalt hätten.
Meine Damen und Herren, wir haben uns im Aus-schuss mit den Forderungen des Antrags der FDP-Fraktion aus dem Juni 2014 umfangreich und sehr detailliert auseinandergesetzt. Lassen Sie mich exemplarisch zwei Punkte herausgreifen.
Die touristische Nutzung der Oberweser ist nur von geringer Bedeutung. Die Oberweser wird haupt-sächlich von in der Region ansässigen Sportboot-besitzern befahren; ein eigenständiges wassertou-ristisches Ziel ist die Oberweser auch nach Ein-schätzung der regionalen Tourismusexperten nicht. Das einzig erhebliche touristische Potenzial hat der Kanutourismus. Gegenwärtig gibt es 64 Anlegestellen zwischen Hann. Münden und Min-den. Hinzu kommen Anlegestellen an Ruder- und Kanuclubs entlang des Flusses im Weserbergland. Eine weitere Schiffbarmachung der Oberweser würde hier dem Kanutourismus vermutlich deutlich entgegenwirken.
Die Forderung aus dem ursprünglichen Entschlie-ßungsantrag, einen Schiffstyp zu entwickeln unter der Vorgabe, dass die Schiffe sich den Flüssen anpassen, und der für Binnenschiffstransporte von Hann. Münden bis zum JadeWeserPort geeignet ist, ist nach Ansicht von Experten unrealistisch.
Im Namen der CDU-Fraktion kann ich sagen, dass auch in unseren Reihen intensiv über Ausbaube-darfe der Oberweser bzw. Handlungsbedarfe ent-lang der Oberweser nachgedacht wurde. Aller-dings fehlt dem Land im Hinblick auf die Bun-deswasserstraße die Zuständigkeit. Eine Investiti-on ist daher entweder von privater oder kommuna-ler Seite oder eben vom Bund zu tätigen. Der Bund, so nehme ich an, hat auch im Hinblick auf den Bundesverkehrswegeplan 2015 - und ich glaube, viele können sich dieser Meinung an-schließen - dringendere Projekte zu realisieren.
Meine Damen und Herren, die Beratung des An-trags der FDP-Fraktion hat den Unterausschuss „Häfen und Schifffahrt“ in Bezug auf die Oberweser und Südniedersachsen ein Stück weitergebracht. Aus diesem Blickwinkel war und ist der Antrag sehr sinnvoll. Allerdings muss ich für meine Fraktion sagen: Ich sehe keine Möglichkeit, den Antrag zu unterstützen. Auch vom Bund kommen keine ent-sprechenden Signale. Daher wird die CDU-Fraktion dem Votum des Unterausschusses „Häfen und Schifffahrt“ und dem Votum des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr folgen.
(Beifall bei der CDU)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Danke, Herr Kollege Heineking. - Das Wort hat jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Abgeordnete Susanne Menge. Bitte schön, Frau Kollegin!
Susanne Menge (GRÜNE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Umfänglich hat ein Vertreter des Wirtschaftsminis-teriums im September im zuständigen Ausschuss die Fragen, die der FDP-Antrag enthält, in einer sachlichen Darstellung, in einer fachlichen Analy-se, wissenschaftlich fundiert und in der Bewertung eindeutig beantwortet. Es fanden ausführliche politische Diskussionen im Unterausschuss „Häfen und Schifffahrt“ sowie im Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr und auch hier im Plenum statt.
Die übrigen im FDP-Antrag aufgeführten Punkte machen deutlich: Die Weser ist eine Bundeswas-serstraße. Damit sind Bund, Kommunen und pri-vatwirtschaftliche Betreiber für die Wünsche der FDP zuständig. Alles, was die Landesregierung tun kann und was in ihre Kompetenzen fällt, tut sie bereits, und zwar sehr engagiert, z. B. ihre tatkräf-tigen Bemühungen, die Weser hochzustufen. Auch die verlässliche und wichtige Unterstützung für die Akteure vor Ort in Hannoversch Münden ist hier unbedingt zu erwähnen. Dank an Ronald Schmin-ke für die detaillierten Hintergrundinformationen!
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren, gerne gehe ich noch einmal auf die besondere Problematik der Schiffbarkeit der Binnenwasserstraßen ein. Wer die Weser mit dem Rhein vergleicht, der outet sich nicht gerade als Experte auf dem Gebiet der Bin-nenschifffahrt.
(Petra Tiemann [SPD]: So ist es!)
Da gibt es den Rhein, der durchgehend von Rotterdam bis Basel über eine beachtliche Fluss-tiefe von bis zu 3,50 m verfügt. Da gibt es die We-ser, bei der sich die Schiffer freuen, wenn sie 1,20 m Wasser unter dem Kiel haben.
Als Grüne fand ich die Stelle aufschlussreich, in der die FDP ihr ökologisches Gewissen zu entde-
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cken meinte. Die FDP spricht unter den Punkten 6 und 7 von Naturschutz und vom naturverträglichen, sensiblen Ausbau und will gleichzeitig die Weser mit träumerischem Blick auf den Rhein 2,50 m tiefer ausbaggern lassen. Donnerwetter! Solch ein Eingriff hat vermutlich kaum Einfluss auf Flora und Fauna, auch nicht auf die Fließgeschwindigkeit und den Bodenschub. Oder wie lautet da Ihre Ein-schätzung, werte FDP?
Die Antwort darauf, woher denn die monetären Summen kommen sollen, die solch ein Unsinn verschlingen würde, bleiben Sie auch schuldig.
Auch nicht eingearbeitet ist unser laufendes Ver-fahren zu Ausbauverfahren von Bundeswasser-straßen. Ich halte es für seriös, solch ein bevorste-hendes und grundlegendes Urteil in das eigene politische Handeln einzuarbeiten.
Ich bitte daher darum, den uns vorliegenden An-trag der FDP abzulehnen.
Danke schön.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Frau Kollegin Menge. - Das Wort hat jetzt für die Landesregierung Herr Verkehrsminister Olaf Lies. Bitte schön, Herr Minister!
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Ver-kehr:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selbstverständlich: Die Binnenschifffahrt hat ohne Zweifel enorme Potenziale für einen um-weltfreundlichen Transport, aber vor allen Dingen auch für die Entlastung der inzwischen sehr stark belasteten Verkehrswege Schiene und Straße. Aber klar muss dabei auch sein, dass die Binnen-schifffahrt nur dort angenommen wird, wo sie den Verladern, Spediteuren und den Marktteilnehmern logistische oder kostenmäßige Vorteile bringt. Das ist keine Entscheidung, die man auf politischer Ebene erzwingen kann.
Das Binnenwasserstraßennetz in Norddeutschland ist noch nicht in einer so guten und einheitlichen Verfassung, dass es sich für den Transport aller möglichen Güter unbedingt aufdrängt. Deswegen sind wir sehr intensiv dabei, auch die Mittelweser weiter auszubauen und dafür zu sorgen, dass wirt-schaftlich attraktive Transportmöglichkeiten auf den Binnenwasserstraßen geschaffen werden. Genau diese Bottlenecks sind bekannt. Sie sind zu beseitigen. Das ist das Ziel der Landesregierung. Zu nennen sind der Ausbau der Stichkanäle zum Mittellandkanal - hier sei insbesondere der Stich-kanal Salzgitter genannt; wir kommen gleich noch darauf zu sprechen -, die Anpassung der Mittelwe-ser, eine ergänzende Schleuse im Schiffshebe-werk in Lüneburg und in Scharnebeck und der Ausbau des Dortmund-Ems-Kanals. Dieses Aus-baupotenzial wollen wir weiter nutzen.
Ausbaupotenzial sehen wir selbstverständlich auch bei der Oberweser. Allerdings muss man sagen: Für die Oberweser ist die Problematik sehr kom-plex. Zurzeit sprechen nicht nur wirtschaftliche, volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Gründe dagegen, sondern auch ökologische Ar-gumente, die den notwendigen Ausbau erschwe-ren würden.
Deswegen muss man ganz offen sagen: Im Ver-gleich zum Rhein oder zu anderen Bundeswasser-straßen, die wir haben, bietet uns die Oberweser eben nicht die entsprechenden Transportmöglich-keiten. Deswegen war ich ein bisschen überrascht, als ich in Ihrem Antrag gelesen habe, dass in Zu-kunft vermehrt Transporte von Containern möglich sein sollen. Ich will daran erinnern, dass wir hier von Schiffen reden - wir haben es eben von Frau Menge gehört -, die in der Regel einen Tiefgang ab 2,50 m haben. Es ist also völlig unrealistisch, diese über die Oberweser zu transportieren. Bei Nied-rigwasser beträgt die Wassertiefe in Trockenzeiten ohne Zuspeisung gerade einmal 70 cm. Mit dem Wasser aus der Edertalsperre wird der Pegel in der Niedrigwasserzeit um ungefähr 1 m erhöht. Das bedeutet aber, dass ständig Zuschusswasser von 6 bis 15 m³ je Sekunde dazugegeben werden müssen, um den Transport zu ermöglichen.
Trotzdem ist die Oberweser interessant. Sie ist gerade für die Dinge interessant, die wir immer schwieriger über Straße und Schiene transportie-ren können: für die extrem schweren Produkte, für echte Schwerlasttransporte. Diese speziellen Transporte von Großraum- und Schwergut müssen wir intensiv ausbauen und nutzen. Dafür ist die Oberweser ideal. Herr Schminke hat von den vie-len Gesprächen berichtet, die wir bereits geführt haben. Die Aktivitäten befinden sich an einer ganz entscheidenden Stelle. Wir haben nämlich gezeigt, dass die Standortbedingungen für eine Entwick-lung ideal sein können, dass aber noch eine Men-ge an Vorarbeiten zu leisten ist.
Wir haben in der Vergangenheit ungefähr zwei bis drei Transporte pro Jahr gehabt. Inzwischen hat
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sich die Frequenz deutlich erhöht: Wir haben 12 bis 15 Schwerguttransporte - natürlich ein Stück weit begrenzt durch das Volumen der Edertalsper-re. Der Transport dieser großräumigen und schwe-ren Volumen entlastet die Straße erheblich. Die Schwerguttransporte werden vorzugsweise durch Nutzung eines speziell für die Oberweser konstru-ierten Leichters der Firma AHE durchgeführt. Da-mit sind wir in der Lage, in leerem Zustand mit einem Tiefgang von nur 50 cm zu arbeiten.
Die Entwicklung muss weitergehen. Wir führen gerade intensive Gespräche, um den Bau einer speziellen Umschlaganlage in Hannoversch Mün-den so zu realisieren, dass die Transporte logis-tisch optimiert werden können. Die Untersuchun-gen stehen am Anfang. Geplant ist dabei der Bau einer speziellen Montagehalle auf dem Gelände des ehemaligen Pionierübungsplatzes unterhalb des Zusammenflusses von Werra und Fulda.
Wir müssen die hydrologischen Rahmenbedingun-gen in einem Gutachten klären. Die wesentlichen konzeptionellen Fragestellungen werden inzwi-schen intensiv untersucht. Auch das ist von Herrn Schminke deutlich gesagt worden: Die investieren-den Unternehmen brauchen die Gewissheit, dass sie auch in die Zukunft investieren können. Des-wegen müssen wir Druck auf den Bund ausüben, die Kategorisierung fallen zu lassen. Es ist falsch, dass die Oberweser eine „sonstige Wasserstraße“ ist. Die dort investierenden Unternehmen haben die Sorge, dass die Befahrbarkeit auf Dauer nicht sichergestellt ist. Deswegen machen wir gemein-sam Druck in Richtung Berlin.
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, Großraum- und Schwertransporte auf der Oberweser sind sinnvoll. Sie werden zunehmend an Bedeutung gewinnen. Sinnvoll sind meiner Meinung auch fraktionsüber-greifende Initiativen an der richtigen Stelle, wenn sie dieses Thema wirklich weiter voranbringen. Das ist an dieser Stelle aber nicht wirklich zu er-kennen.
Wir sind auf einem guten Weg. Wir handeln. Ich darf sagen: Wir müssen die Oberweser nicht mehr wachküssen. Ich glaube, Herr Schminke hat sie bereits wachgeküsst.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Klaus-Peter Bachmann:
Vielen Dank, Herr Minister. - Auch zu diesem Ta-gesordnungspunkt liegen dem Sitzungsvorstand keine weiteren Wortmeldungen vor.
Wir können daher in die Abstimmung eintreten.
Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der FDP in der Drucksache 17/1641 ablehnen will, den bitte ich jetzt um ein Handzeichen. - Ich frage nach den Gegenstimmen. - Gibt es Enthaltungen? - Dann haben Sie mit großer Mehrheit die Ausschussemp-fehlung beschlossen. Der Antrag ist abgelehnt.
(Ronald Schminke [SPD]: Mit ganz großer Mehrheit!)
Meine Damen und Herren, ich will darauf hinwei-sen, dass die Landtagsverwaltung eben vor der Abstimmung versucht hat, die Klingelanlage noch einmal auszulösen. Falls Sie hier in diesem Be-reich die Klingel gehört haben, dann ist das kein Indiz dafür, dass sie überall zu hören ist. Es gilt nach wie vor der Hinweis: Sie ist partiell ausgefal-len und nicht im gesamten Komplex hörbar. Des-wegen: Verlassen Sie sich auf Ihren Instinkt, zum richtigen Zeitpunkt hier zu sein!
(Heiterkeit)
Meine Damen und Herren, ich rufe auf den
Tagesordnungspunkt 9: Abschließende Beratung: Pkw-Maut-Pläne sofort stoppen - Keine weite-ren Belastungen von Mobilität und Logistik in Deutschland und keine Diskriminierung von Nachbarn durch Deutschland! - Antrag der Frak-tion der FDP - Drs. 17/1744 - Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2349
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag abzu-lehnen.
Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.
(Unruhe)
- Bevor ich die Beratung eröffne, bitte ich Sie, die Laufereien im Plenarsaal zu beenden. Bitte, meine Damen und Herren!
Das Wort hat jetzt für die antragstellende Fraktion der Abgeordnete Bode. Bitte, Herr Bode!
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Jörg Bode (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema Pkw-Ausländermaut ist nicht neu. Lange kreißte Minister Dobrindt mit einem Konzept für die Pkw-Ausländermaut. Lange wur-den unterschiedliche Entwürfe diskutiert, einkas-siert und neue geschrieben. Am Ende gebar er jetzt einen Gesetzentwurf, der uns alle dann doch überrascht hat.
(Christian Dürr [FDP]: Allerdings!)
Der Gesetzentwurf ist ein Datenmonster. Die Da-tensammelwut erstreckt sich auf die Daten sämtli-cher Autofahrer auf deutschen Straßen. Wenn sie von A nach B fahren, wird das zeitlich gespeichert. Jeder Datensatz, der einmal gespeichert ist, weckt natürlich das Interesse, ihn irgendwann auszuwer-ten, auch wenn es am Anfang gar nicht vorgese-hen war. Die Vorratsdatenspeicherungsdiskussion zeigt hier Ähnliches.
(Vizepräsident Karl-Heinz Klare über-nimmt den Vorsitz)
Das ist auch ein Bürokratiedesaster. Wenn man unabhängige Gutachter die Rechnung von Herrn Dobrindt nachvollziehen lässt, kommen sie auf Bruttoeinnahmen nicht in Höhe von 700 Millionen Euro, sondern tatsächlich nur in Höhe von 340 Millionen Euro. Wenn man dann die System-kosten, die der Gesetzentwurf auslöst, von diesen Einnahmen abzieht, bleiben am Ende 110 Millio-nen Euro übrig. Das System löst also Kosten in Höhe von sage und schreibe 70 % aus! Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer so etwas einführt, der will Bürokratie schaffen, der will aber keine Gelder für die Finanzierung von Straßen aufbringen.
(Beifall bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Darüber hinaus stellt der Gesetzentwurf nicht si-cher, dass es nicht zu einer Mehrbelastung des deutschen Autofahrers kommt. Erhöhungen der Pkw-Maut in den nächsten Jahren sind quasi schon im Gesetzentwurf impliziert. Es ist nun ein-mal so: Der Autofahrer soll hier zur Kasse gebeten werden. Dann kommt das Geld noch nicht einmal bei der Straße an, sondern bei der Bürokratie!
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist aber auch ein Rückschlag für die europäische Integration. Wir haben eine offene, eine freie Eu-ropäische Union geschaffen. Und jetzt fangen wir an, Hürden aufzubauen, die die Kommunikation, den Austausch mit unseren Nachbarn erschweren! Das kann nicht richtig sein!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Aus-ländermaut hält nicht, was die CSU verspricht. Sie baut Grenzen auf, die gerade entfernt worden sind. Sie ist das Einfallstor für die Erstellung von Bewe-gungsprofilen aller Autofahrer in Deutschland. Trotzdem geistert sie immer noch durch die Parla-mente, insbesondere durch den Deutschen Bun-destag.
Viele Politiker haben sich mit dem Konzept einer Pkw-Maut schon beschäftigt. Ich zitiere:
„Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“
So Bundeskanzlerin Angela Merkel.
„Wenn Weihnachten und Ostern zusam-mengelegt wird im nächsten Jahr, dann kommt auch die Maut.“
So Schleswig-Holsteins SPD-Chef Ralf Stegner.
(Christian Dürr [FDP]: Aha! - Dr. Gero Hocker [FDP]: Hört, hört!)
Für das folgende Zitat entschuldige ich mich schon vorher:
„CDU und SPD sind bereit, für den Koaliti-onsfrieden ihren Restverstand endgültig aufzugeben.“
Das sagte der Grünen-Fraktionschef Anton Hofrei-ter.
(Zustimmung bei der FDP und bei den GRÜNEN)
Genauso äußerte sich Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg:
„Dass Pkw auf Landstraßen zahlen sollen, Lastwagen aber nicht, ist geradezu grotesk.“
Es gibt aber auch Stimmen aus Niedersachsen. Ich zitiere zum Beispiel Ministerpräsident Weil:
„Es ist ein völlig falsches Signal gegenüber der europäischen Integration.“
Das sagte er im Oktober letzten Jahres.
Ich zitiere jetzt Olaf Lies auf der Homepage der SPD-Niedersachsen:
„Für die niedersächsische SPD steht fest, dass eine Pkw-Maut nicht infrage kommt.“
Im Koalitionsvertrag von Rot-Grün heißt es:
„Eine Umgehung von Finanzierungsengpäs-sen beim Straßenbau durch die Erhebung
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einer allgemeinen Pkw-Maut … lehnt die rot-grüne Koalition ab.“
(Helge Limburg [GRÜNE]: Dass Sie nicht auch mich zitiert haben, nehme ich Ihnen persönlich übel!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in die-sem Antrag geht es nur um einen einzigen Satz. Er lautet:
„Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich im Bundesrat gegen die Einführung einer Pkw-Maut auszusprechen.“
Herr Minister Lies, Sie haben gestern beim Parla-mentarischen Abend über sich gesagt: Ich sage überall das, was ich denke, unabhängig davon, wer der Veranstalter ist. - Deshalb bitte ich Sie: Sagen Sie auch im Bundesrat das, was Sie den-ken, das, was Sie auf Ihrer Homepage veröffent-licht haben, und stimmen Sie einfach dem Antrag zu!
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Kollege Bode. - Jetzt hat sich Gerd Ludwig Will, SPD-Fraktion, zu Wort gemel-det. Bitte schön, Herr Will!
Gerd Ludwig Will (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bode, der FDP-Antrag vom 17. Juli letzten Jahres muss im Lichte der Weiterentwicklung des Themas Maut auf Bundesebene wohl als überholt betrach-tet werden.
(Christian Grascha [FDP] lacht)
Zumindest hätten Sie von der FDP, der neuen Entwicklung folgend, Ihren Antrag wenigstens ak-tualisieren müssen.
(Christian Grascha [FDP]: Ach, Sie sind jetzt doch für die Maut!?)
Sie kämpfen gegen Dinge, die von der aktuellen Entwicklung längst überholt sind. Sie unterstellen z. B. auch dem jetzigen Gesetzentwurf Euro-parechtswidrigkeit.
Sowohl der Unterhalt der Infrastruktur als auch der Neubau sind seit vielen Jahren unterfinanziert. Das wissen Sie als ehemaliger Verkehrsminister dieses Bundeslandes genau. Entweder hat man den Mut, wirksame Strukturen und Finanzierungssysteme zu entwickeln, oder wir müssen die Anforderungen an die Verkehrssysteme zurückschrauben oder zeit-lich über die derzeit machbare Finanzierung stre-cken.
Ich kann mich aber nur daran erinnern, dass Sie einen Antrag nach dem anderen stellen - ob zu Straße, Schiene oder Wasserstraße, ist bei der FDP eigentlich beliebig -, in denen Sie immer mehr fordern, ohne dass Sie das mit einer seriösen Fi-nanzierung hinterlegen.
(Christian Grascha [FDP]: Sind Sie jetzt für oder gegen die Maut?)
Es wäre ehrlich und nachvollziehbar, wenn Sie das machen würden. Aber da kneifen Sie von der FDP. Sie fordern in Ihren Entschließungsanträgen lieber den grenzenlosen Ausbau der Verkehrssysteme. Über eine seriöse Finanzierung schweigen Sie wie immer.
Die Infrastruktur ist bei der FDP nicht in guten Händen gewesen. Wir wissen, wie viel Nachholbe-darf wir haben. Sie haben Verschiebebahnhöfe organisiert, auch bei den Landesstraßen, und das Geld lieber woanders ausgegeben.
(Christian Grascha [FDP]: Wir haben mehr in Straßen investiert als Sie!)
Jetzt wollen Sie sich hier zum Anwalt von Ver-kehrssystemen machen. Das ist doch völlig un-glaubwürdig.
(Christian Grascha [FDP]: Sie kürzen doch beim Straßenbau!)
Sagen Sie uns doch endlich, was Sie wollen, und nicht immer, was Sie nicht wollen!
Meine Damen und Herren, bei der neuen, ausge-weiteten Maut brauchen wir ein klares, nachvoll-ziehbares Konzept, handwerklich sauber und rechtssicher, damit es europarechtlich Bestand hat.
Niedersachsen als Flächenland mit einem hohen Anteil an Berufspendlern muss ein Interesse daran haben, dass die Einführung einer Pkw-Maut nicht massiv zulasten der Arbeitnehmer geht und deren Mobilität erheblich einschränkt. Es darf keine ver-ordneten Stolpersteine für die weitere Entwicklung der niedersächsischen Wirtschaft und die Mobilität der Arbeitnehmer geben.
Es muss auch verhindert werden, dass der Grenz-verkehr unter Einbußen leidet und es Ausweich-verkehre auf dem nachgeordneten Straßennetz gibt. Denn die würden nur die Gemeinden und die Landkreise zusätzlich belasten.
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Meine Damen und Herren, durch die Maut sollen die Inländer - nach wie vor - 3 Milliarden Euro und die ausländischen Verkehrsteilnehmer 700 Millio-nen Euro zur Finanzierung des Unterhalts und des Ausbaus der Infrastruktur beitragen. Wir erwarten die angekündigte Umsetzung des neuen Gesetzes durch den Bundesverkehrsminister, und wir erwar-ten die angekündigte Kostenneutralität, wie sie im Koalitionsvertrag zugrunde gelegt wurde.
(Christian Grascha [FDP]: Das ist ja eine 180-Grad-Kehrtwende!)
Es muss zudem sichergestellt werden, dass Auf-wand und Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen; da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Wir erwarten zusätzliche Finanzierungsmög-lichkeiten auch für die niedersächsische Infrastruk-tur; denn nur dann macht die Maut Sinn.
(Christian Dürr [FDP]: Das kann wirk-lich nicht wahr sein!)
Ihr Antrag führt allerdings ins Abseits.
(Christian Dürr [FDP]: Sie stellen sich ins Abseits mit Ihrer Kehrtwende!)
Dem konnte nicht einmal die CDU folgen. Sie ste-hen damit ganz allein, ohne auf die drängenden Finanzierungsfragen eine seriöse Antwort zu ge-ben. Wir lehnen daher Ihren Antrag ab.
(Beifall bei der SPD - Christian Grascha [FDP]: Da ist die SPD in Niedersachsen wohl umgefallen, was?)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Gerd Ludwig Will. - Es hat sich jetzt Susanne Menge, Bündnis 90/Die Grünen, gemel-det.
(Jörg Bode [FDP]: Ich hatte mich zu einer Kurzintervention gemeldet!)
- Wir haben die Wortmeldung registriert, aber nicht beachtet. Jetzt beachten wir sie. Bitte schön!
Jörg Bode (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Will, das fand ich jetzt wirk-lich sehr bezeichnend. Sie haben sich hier sehr im Detail über eine Maut eingelassen, so wie sie aus Ihrer Sicht gestaltet werden sollte, damit sie gut ist.
Ich bin ganz überrascht. In Ihrem Koalitionsvertrag steht nämlich noch - Zitat -:
„Eine Umgehung von Finanzierungsengpäs-sen beim Straßenbau durch die Erhebung einer allgemeinen PKW-Maut ... lehnt die rot-grüne Koalition ab.
Was gilt denn nun? Gilt das, was der Kollege Will zu seiner Wunschmaut gesagt hat, oder gilt das, was Rot-Grün im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat? Gilt die Aussage des Ministerpräsidenten, dass die Maut für die europäische Integration schädlich ist? Gilt die Aussage des Wirtschaftsmi-nisters in seiner Funktion in der SPD, der gesagt hat, für die niedersächsische SPD komme sie nicht infrage?
Gelten die drei Interviews, die Herr Kollege Lim-burg dem NDR gegeben hat, in denen er eindeutig gesagt hat: „Die Grünen in Niedersachsen lehnen die Pkw-Maut ab“?
Was gilt? - Gilt Will, oder gilt der Rest der Koaliti-on?
Sie trauen sich wahrscheinlich nicht, weil Sie eine Mehrheit brauchen, einen einzigen Satz, der das beschreibt, was der Ministerpräsident, Ihr Wirt-schafts- und Verkehrsminister, die SPD und Ihr Koalitionsvertrag aussagen, zu beschließen, näm-lich sich im Bundesrat gegen die Pkw-Maut auszu-sprechen.
Herr Kollege Will, daran hat sich nichts geändert. Mehr steht nicht in unserem Antrag. Da müssen wir nichts anpassen. Das Gesetz geht in den Bun-desrat. Ich erwarte, dass dann entweder der Ver-kehrsminister oder der Ministerpräsident seine Stimme erhebt und diese Position für Niedersach-sen deutlich macht.
Aber ich glaube, Teile der SPD wollen klammheim-lich eine Maut, um den Autofahrer abzukassieren. Hier haben Sie endlich das wahre Gesicht gezeigt.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Christian Grascha [FDP]: Sehr richtig!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Will, möchten Sie antworten? - Nein.
Dann rufe ich jetzt Susanne Menge, Bündnis 90/Die Grünen, auf. Bitte, Frau Menge!
Susanne Menge (GRÜNE):
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich könnte mit Herrn Bodes Äußerung fortsetzen: Was gilt denn
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jetzt? - Es gilt der Koalitionsvertrag, Herr Bode, ganz eindeutig!
(Beifall bei der FDP - Zurufe von der FDP: Ah! - Jörg Bode [FDP]: Dann können Sie doch zustimmen!)
Unstrittig ist in sicherlich allen Fraktionen dieses Hauses: Das absurde Dobrindt-Prozent eines Wegezolls für Ausländer ist verfassungs- und eu-roparechtswidrig.
(Christian Dürr [FDP]: So ist es!)
Es ist ineffizient. Es hat keine ökologische Len-kungswirkung. Es erzielt keine relevanten Einnah-men und ist nicht verursachergerecht.
Bestritten wird von einigen, dass der Verfall und Verschleiß unserer Straßen und Autobahnen und auch der Brücken zu einem überwiegenden Anteil von Lkw verursacht würden - das zum Verursa-cherprinzip. Diejenigen, die das ablehnen, bemü-hen Vergleichsberechnungen zu Achslasten und Lastenverteilung als Beleg dafür, nicht die Haupt-verursacher zu sein. Vier Belege möchte ich in diesem Zusammenhang nennen:
Erstens eine Dissertation einer Verkehrswissen-schaftlerin aus der Technischen Universität Mün-chen, die trotz der Diskussion um Achslasten und Lastenverteilung belegt, dass Lkw die Hauptverur-sacher sind.
Zweitens eine Studie aus den USA, die ebenfalls gezeigt und belegt hat, dass beispielsweise eine Verdoppelung der sogenannten Achslast das Ausmaß der Straßenschädigung versechzehn-facht.
Drittens. Unsere städtischen Bauverwaltungen klagen über die starke Abnutzung der Fahrbahn-decken sowie über Schäden an der Kanalisation. Die zum Teil noch gemauerten Gewölbe halten der steigenden Belastung nicht stand und müssen aufwendig und kostenintensiv saniert oder ersetzt werden.
Viertens. Das Forschungs-Informations-System für Mobilität und Verkehr hat als Hauptverursacher für Infrastrukturschäden den Straßengüterverkehr ausgemacht. Das heißt, ein Lastwagen mit 10 t Achslast beansprucht die Verkehrswege pro Ent-fernungseinheit 160 000-mal stärker als ein Pkw mit einer Achslast von 0,5 t. Damit ist laut For-schungs-Informations-System der Lkw-Verkehr der entscheidende Faktor für die Beanspruchung, nicht der Pkw-Verkehr.
Es ist also gut und richtig, dass der weiter steigen-de Lkw-Verkehr überwiegend für den Erhalt der Straßeninfrastruktur aufkommt.
Unstrittig ist auch die Überzeugung darüber, dass wir zusätzliche Mittel benötigen, um den weiteren Verfall unserer Verkehrsinfrastruktur aufzuhalten. Das Bürokratiemonster Pkw-Maut hilft da über-haupt nicht weiter, schon gar nicht, wenn das Sys-tem Maut nicht EU-konform ist und mehr Kosten durch Bürokratie verschlingen würde, als es an Einnahmen brächte.
Unsere Position, werter Herr Bode bzw. liebe FDP - Sie haben den Koalitionsvertrag zitiert -, ist im Koalitionsvertrag festgelegt: Wir wollen keine Pkw-Maut. - Damit ist im Grunde genommen alles gesagt. Die Hauptverursacher - dazu habe ich gerade ausführlich Stellung genommen - sind in einem Mautsystem so zu beobachten und zu be-trachten. Das gibt dieses Konzept aber nicht wie-der. Insofern - ich wiederhole mich - gilt der Koali-tionsvertrag.
Danke.
(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Grascha [FDP]: Dann können Sie doch zustimmen!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Bode hat sich zu einer Kurzintervention ge-meldet. Bitte! Ich bin gespannt.
Jörg Bode (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin auch gespannt. Ich bin auch über-rascht, dass ich Frau Menge ausdrücklich einmal zustimmen möchte. Die Forderung, dass der Koali-tionsvertrag in diesem Punkt gilt und man eine Pkw-Maut nicht möchte, ist nämlich ausdrücklich begrüßenswert und das einzige Ziel des Antrags von der FDP.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Will hat sich auch ein bisschen an der Begründung gestört. Aber die Begründung wird ja nicht mitbe-schlossen. Wir beschließen ja nur den einen Satz, dass sich die Landesregierung im Bundesrat ge-gen das aussprechen möge, was Frau Menge hier gerade so schön kritisiert hat.
Deshalb - Frau Menge, auch in Ihrem Sinne - frage ich die Landesregierung einfach einmal und bitte, darauf einzugehen. In der ersten Debatte hier im Parlament haben wir noch gehört, dass noch kein abschließendes Konzept vorliegt. Frau Menge, Sie
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haben eben gesagt, das vorliegende Konzept sei aus Ihrer Sicht nicht mit Ihrem Koalitionsvertrag in Einklang zu bringen.
Dazu möchte ich von der Landesregierung gerne einmal hören: Wie bewertet sie denn, nachdem das Konzept ja nun da ist, das jetzige Konzept? Wird sie im Bundesrat mit Nein stimmen oder sich enthalten, oder wird sie die Maut - dann auch zu-lasten des Autofahrers in Niedersachsen - durch-winken? Das ist die Frage, die Sie hier heute be-antworten müssen, Herr Minister Lies oder Herr Ministerpräsident Weil. Brechen Sie den Koaliti-onsvertrag und verärgern Sie Frau Menge, oder tun Sie etwas Gutes für Niedersachsen?
(Beifall bei der FDP - Helge Limburg [GRÜNE]: Nicht nur Frau Menge!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Bode. - Frau Menge, möchten Sie oder möchte jemand aus der Fraktion antwor-ten? - Frau Menge antwortet.
Susanne Menge (GRÜNE):
Herr Bode, das ist in meinen Augen ein anderer Antrag. Das ist ein völlig anderer Antrag. Den Ap-pell an diese Landesregierung zu richten, im Bun-desrat so und so zu entscheiden, ist ein völlig an-derer Antrag als der, den Sie eingebracht haben.
(Beifall bei den GRÜNEN - Reinhold Hilbers [CDU]: Sagen Sie doch ein-fach, was Sie wollen!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank. - Meine Damen und Herren, jetzt hat sich Karl-Heinz Bley, CDU-Fraktion, gemeldet. Bitte schön, Herr Bley!
Karl-Heinz Bley (CDU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in Deutschland und ganz besonders in Nie-dersachsen dringenden Handlungsbedarf, was den Um- und Ausbau sowie die Sanierung unseres Straßennetzes betrifft. Wenn die Politiker hier im Lande nicht auf allen Ebenen bereit sind, mehr Geld in die Hand zu nehmen, droht der Verkehrsin-farkt.
(Gerd Ludwig Will [SPD]: Richtig!)
Laut Verkehrsprognose 2030 stellen die wachsen-den Verkehrsströme die vorhandene Infrastruktur auf eine Belastungsprobe. Allein beim Güterver-kehr wird von 2010 bis 2030 eine Zunahme von 38 % bei den transportierten Tonnenkilometern erwartet. Bei den Personenkilometern sind es 13 %.
Wir haben eine hohe Dynamik des grenzüber-schreitenden Güterverkehrs von plus 42 % und beim Transitverkehr von plus 52 %. Auch der Bin-nenverkehr steigt um 31 % stark an. Trotz zurück-gehender Bevölkerungszahlen haben wir beim motorisierten Personenverkehr einen Zuwachs von 10 %. Meine Damen und Herren, Handlungsbedarf ist also auf jeden Fall gegeben.
Fakt ist, dass die Kraftfahrer in Deutschland zur-zeit - ob mit Pkw, Krad oder Lkw - ca. 55 bis 60 Milliarden Euro an Kfz-Steuer, Mineralölsteuer und Lkw-Maut in die Staatskasse spülen. Wir wis-sen, dass Steuern nicht wie Gebühren zweckge-bunden gezahlt werden. Wenn man aber nur die Hälfte dieser gezahlten Gelder für den Straßenbau verwenden würde, hätten wir ein hervorragendes Straßennetz.
Uns ist besonders ein Dorn im Auge, dass die Fahrzeuge, die nicht in Deutschland zugelassen sind, aber einen großen Teil der stark wachsenden Transitverkehre ausmachen, keine Abgaben für unsere Infrastruktur zahlen.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsverhand-lungen in Berlin in Sachen Pkw-Maut waren schwierig. Die Erhebung einer allgemeinen Pkw-Maut wurde abgelehnt. Dem gegenüber wurde eine Formulierung getroffen, die eine Pkw-Maut unter bestimmten Randbedingungen vorsieht. Bundesverkehrsminister Dobrindt hat am 7. Juli 2014 einen Entwurf für ein Konzept vorgestellt, nach dem ca. 600 Millionen Euro jährlich dem Straßenbau zugutekommen sollen.
Ich finde, dass es daraufhin zu Recht eine große ablehnende Haltung in der Bevölkerung gab; denn erstens fehlen jährlich 7 Milliarden Euro für die Infrastruktur und nicht nur 600 Millionen Euro. Zweitens würden dadurch deutsche Pendler und auch Nutzfahrzeuge des Mittelstandes und des Handwerks erheblich weiter belastet. Und drittens war der Gesetzentwurf nicht EU-konform.
Meine Damen und Herren, ich bin der FDP dafür dankbar, dass sie diesen Antrag mit Datum vom 15. Juli 2014 eingebracht hat, in dem es heißt: „Pkw-Maut-Pläne sofort stoppen.“ Dort heißt es:
„Keine weiteren Belastungen von Mobilität und Logistik in Deutschland und keine Dis-kriminierung von Nachbarn durch Deutsch-land!“
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Weiter heißt es:
„Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich im Bundesrat gegen die Einführung einer Pkw-Maut auszusprechen.“
Das hat Herr Bode eben gerade schon gesagt.
Im Landtag, aber auch im Ausschuss hat sich die CDU-Fraktion gegen die Pläne in der ersten Vari-ante des Dobrindt-Papiers, die wir damals kannten, ausgesprochen.
Meine Damen und Herren, auch Verkehrsminister Olaf Lies hat sich in Rundfunk und Presse klar gegen die Einführung der Pkw-Maut ausgespro-chen. Zum Beispiel sagte er im NDR am 22. Au-gust 2014, er verstehe die Sorgen der Unterneh-mer. Die Einführung einer Pkw-Maut sei der fal-sche Weg.
In einer Mündlichen Anfrage der Grünen-Abgeord-neten Susanne Menge und Volker Bajus vom 25. Juli 2014 zur Bewertung der Pkw-Maut hat Minister Lies geantwortet, dass es nach vorliegen-den Informationen keinen Anlass gebe, die ableh-nende niedersächsische Position zur Pkw-Maut infrage zu stellen. Daraus schließe ich, dass die Regierungsfraktionen dem Antrag der FDP zu-stimmen, war doch viel Positives von Herrn Will und Frau Menge zu hören.
(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)
Liebe Freunde, der große Unmut über die Pkw-Maut ist in Berlin nicht überhört worden. Das BMVI mit Minister Dobrindt hat im Oktober 2014 einen neuen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Infrastrukturabgabe für die Benutzung von Bun-desfernstraßen vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass die Infrastrukturabgabe von allen Haltern von in Deutschland zugelassenen Fahr-zeugen für ein Jahr entrichtet werden muss. Die Preise für die Vignette für Pkws und Wohnmobile werden je nach Hubraum und Schadstoffklasse erhoben; maximal je Fahrzeug 130 Euro. Halter von nicht in Deutschland steuerpflichtigen Fahr-zeugen können Vignetten für zehn Tage für 10 Euro, für zwei Monate für 22 Euro oder für das ganze Jahr für 130 Euro erwerben. Die deutschen Halter bekommen die Infrastrukturabgabe bei der Kfz-Steuer angerechnet.
3,7 Milliarden Euro Gesamteinnahmen sind prog-nostiziert, wobei 3 Milliarden Euro auf die in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge und 700 Millionen Euro auf die nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge entfallen. Zieht man davon die Kosten in Höhe von 200 Millionen Euro ab, verbleiben ca. 500 Millionen Euro für die Infra-struktur. Daher stellt sich die Frage: Ist das die Lösung? - Erstens. Europatauglichkeit noch nicht geklärt. Zweitens. 500 Millionen Euro sind ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ich lehne aber auch den Vorschlag der Städte und Gemeinden in Deutschland ab, auf allen Straßen Deutschlands von allen Nutzern eine Gebühr zu erheben. Es muss eine generelle Lösung zur Fi-nanzierung der Infrastruktur erarbeitet werden.
(Glocke des Präsidenten)
Ich komme zum Schluss und damit zum Antrag der FDP zurück: Der Antrag war richtig und gut. Auf-grund des neuen Gesetzentwurfs in Berlin ist die-ser Antrag, den wir im Ausschuss beraten haben, aber überholt; für die CDU-Fraktion ein Grund, dem Antrag der FDP-Fraktion nicht zuzustimmen. Wir werden diesen Antrag aber auch nicht ableh-nen, sondern uns auch hier wie schon im Aus-schuss der Stimme enthalten.
Ich danke fürs Zuhören.
(Zustimmung bei der CDU)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Danke, Herr Kollege Bley. - Eine Kurzintervention. Wollen wir einmal raten, von wem? - Herr Bode, bitte schön!
Jörg Bode (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bley, ich versuche jetzt noch einmal, die CDU für unseren Antrag zu begeistern. Die Begründung können wir komplett weglassen; sie wird ja auch nicht mit beschlossen, Herr Bley. Der Antrag besteht, wie Sie ja zitiert haben, nur aus dem Satz:
„Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich im Bundesrat gegen die Einführung einer Pkw-Maut auszusprechen.“
Das ist der Satz, der heute beschlossen werden sollte. Ich sehe es ja genauso, wie Sie es gesagt haben: Die SPD ist eigentlich dafür. Die Grünen sind eigentlich dafür. Die FDP ist dafür. Auch auf-seiten der CDU gibt es eine große Sympathie. - Von daher stellt sich nur die Frage: Warum be-schließen wir das nicht als Landtag? Warum ver-trauen wir auf die Antwort auf eine Anfrage, die schon vor längerer Zeit zu einem anderen Konzept
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gestellt wurde, dass die Landesregierung schon dagegen sein wird, wenn sich das Konzept nicht gravierend ändert? Wenn wir es beschließen, ist es ein für alle Mal klar, dass der Koalitionsvertrag gilt, dass es keinen Streit in den Koalitionsfraktio-nen gibt, dass die Landesregierung das macht, was die die Regierung tragenden Fraktionen tat-sächlich wünschen, dass die Autofahrer in Nieder-sachsen von Niedersachsens Parlamentariern und der Regierung Schutz bekommen. Und alles ist gut und geklärt, meine sehr geehrten Damen und Her-ren.
Wir können gern auch noch die Überschrift strei-chen, falls Sie die Diskriminierung von Nachbarn, die wir ablehnen, nicht mit drin haben wollen. Das können wir auch rauslassen. Dann geht es nur noch darum, im Bundesrat das zu sagen, was man hier immer in Interviews sagt. Herr Kollege Lim-burg, Entschuldigung, Sie haben das Interview oder die drei Interviews nicht im NDR, sondern bei ffn gegeben. Da haben Sie es auch gesagt. Wenn Sie es überall außerhalb des Landtags sagen, dann frage ich mich: Warum sagen wir es nicht einmal gemeinsam hier im Plenum?
(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU - Helge Limburg [GRÜNE]: Ich durfte ja nicht reden!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Kollege Bley möchte antworten. Bitte schön!
Karl-Heinz Bley (CDU):
Herr Präsident! Lieber Herr Bode, wir haben doch zum Ausdruck gebracht, dass die FDP einen gro-ßen Anteil daran hat, dass wir die richtigen Wege beschreiten und dass wir die Berliner dazu bewe-gen, mehr zu tun als das, was mit dem ersten Ge-setzentwurf vorgelegt worden ist. Ich erinnere noch einmal daran, dass wir unserem geschätzten Frak-tionsvorsitzenden Björn Thümler zu Beginn der Diskussion gesagt haben: Nicht zum Beginn schon alles kaputtreden. Wir brauchen eine Lösung, die mehr ermöglicht als das, was beim ersten Mal vorgelegt worden ist. - Das kann ich wiederholen. Wir kommen aber ein Stück weiter. Die Berliner haben sich bewegt und haben einen Entwurf vor-gelegt, den man nicht sofort pauschal ablehnen, aber auch nicht sofort als Ideallösung ansehen kann.
Deshalb glauben Sie uns: Wir regieren Gott sei Dank in Berlin, und wir werden Wege finden, Herr Bode, mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur be-reitzustellen. Das sollte uns gemeinsam gelingen. Aber nicht nur hier im Landtag, sondern Berlin ist hier gefordert. Ich gebe immer noch nicht den Ge-danken daran auf, dass wir von den 55 oder 60 Milliarden ein Stück wiederkriegen werden. Deswegen möchten wir noch einmal loben, dass Sie das als Antrag formuliert haben. Mittlerweile aber ist Ihr Antrag überholt, weil wir ein neues Papier haben, das wir neu beraten können. Ich glaube, dass auch Europa noch ein Wort mitredet. Ob es anschließend europakonform sein wird, wird sich noch zeigen.
Ich würde sagen: Wir können heute gern bei unse-rer Enthaltung bleiben. Ich bitte, das zu akzeptie-ren.
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Kollege Bley. - Herr Wirt-schaftsminister, Herr Minister Lies, bitte schön!
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Ver-kehr:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Karl-Heinz Bley, das nenne ich ja mal eine klare Haltung. Ich bin mir nicht si-cher, was das jetzt bedeutet. Aber zumindest wa-ren es viele Worte, die dazu geführt haben.
Ich begrüße durchaus, dass die FDP eine solch klare Haltung eingenommen hat. Es bedarf nur keines Antrages. Es bedarf auch keiner ausflüchti-gen Formulierungen der CDU-Fraktion. Es bedarf, glaube ich, einer klar handelnden von SPD und Grünen getragenen Landesregierung. Insofern haben wir eine klare Position, und zu der stehen wir auch, meine sehr verehrten Damen und Her-ren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Jens Nacke [CDU]: Alles nichts wert!)
- Diese These wird sich nicht bestätigen.
Ich will zunächst etwas zur Überschrift sagen; denn das ist so eine typische Überschrift, die ein falsches Signal liefert: „Keine weiteren Belastun-gen von Mobilität und Logistik.“
Ohne eine Belastung von Logistik ist die Auswei-tung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen und auf Lkw ab 7,5 t nicht möglich. Insofern geben Sie mit der Überschrift ein falsches Signal ab. Sie wollen sozusagen auf der einen Seite der Logistikbranche signalisieren: „Von euch wollen wir kein Geld“, und auf der anderen Seite wollen Sie bei den Autofah-
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rern Zustimmung ernten, indem Sie sagen: „Ihr müsst auch nichts bezahlen.“ - So werden wir die Infrastruktur in Deutschland nicht in den Griff be-kommen. Das ist der Fehler Ihres Antrags, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Wir dürfen bei der gesamten Pkw-Maut-Debatte sicherlich nicht außer Acht lassen, was überhaupt an Einnahmen hereinkommt. Ich glaube, diese Diskussion ist zu Recht geführt worden. Das ist der erste Punkt: eine hohe Summe, die sozusagen umgeschlagen wird, hohe Investitionskosten, hohe laufende Kosten, und am Ende bleibt relativ wenig übrig. - Diese Kritik teilen wir.
Am Ende ist aber auch ein zweiter Punkt entschei-dend, gerade für die grenznahen Regionen. Das hat der Ministerpräsident bereits sehr eindrucksvoll und deutlich gesagt, und das ist übrigens im ersten Entwurf noch viel dramatischer. Die Ausweitung der Pkw-Maut wurde wohl begrüßt, was die Ein-nahmeseite angeht. Bezogen auf die Landesstra-ßen hätte das aber bedeutet, dass gerade die Grenzverkehre zu unseren Nachbarn zu einem erheblichen Problem geworden wären und erhebli-che wirtschaftliche Einbußen in der Grenzregion entstanden wären. Gut, dass das auf keinen Fall kommen wird! Das ist schon einmal ein klares und wichtiges Signal.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, es hilft aber auch nicht, eine immer wiederkehrende, fortwährende Debatte über die Pkw-Maut zu führen. Uns fehlen - das ist zu Recht gesagt worden - 7,2 Milliarden Euro. Am Ende waren es die Entscheidungen der Verkehrs-minister der Länder am 2. Oktober 2013, die zu erheblichen Veränderungen geführt haben.
Wir werden bis zum Jahr 2017 von heute an auf-wachsend jedes Jahr 4,2 Milliarden Euro mehr für die Erhaltung der Infrastruktur haben, auch ohne Pkw-Maut in unserem Land. Das ist ein klares und wichtiges Signal, das ist der Beschluss der Ver-kehrsminister, und das ist auch das Ergebnis aus vielen Verhandlungen mit dem Bundesverkehrsmi-nisterium über absolute Mittel, die zusätzlich ein-gestellt werden; über die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen, über die Ausweitung der Lkw-Maut auf die Lkw ab 7,5 t hinaus.
Auch hier gebe ich ein klares Signal: Wir lehnen es ab, dass Lkw ab 3,5 t von der Lkw-Maut betroffen sind. Das trifft unseren Mittelstand, und das trifft die Kleinunternehmen. Das lehnen wir ab, das wird es mit uns nicht geben, meine sehr verehrten Da-men und Herren.
(Unruhe)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Herr Minister Lies, ich darf Sie kurz unterbrechen. - Meine Damen und Herren, hier herrscht tatsächlich eine latente Unruhe. Wenn wir uns alle ein biss-chen auf den Redner konzentrieren und die Ge-spräche untereinander einstellen, können wir das würdigen, was der Minister sagt und was die nach-folgenden Redner sagen werden. - Bitte schön!
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Ver-kehr:
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Frage, ob das Ganze überhaupt europarechtskon-form ist, gibt es, glaube ich, mehr als nur ein Fra-gezeichen. Wie soll eigentlich in Berlin sozusagen beides zusammen abgestimmt werden - auf der einen Seite die Einführung der Maut, auf der ande-ren Seite die Entlastung -, und ist dann auch gesi-chert, dass das am Ende so bleibt? - Es gibt eine ganze Reihe an Fragestellungen.
Deswegen freue ich mich über die große Einigkeit, die wir heute hier haben. Es bedurfte nur keines Antrags der FDP, damit diese rot-grüne Landesre-gierung handelt.
Morgen tagt der Verkehrsausschuss des Bundes-rates. Dort wird ein Antrag eingebracht, der von den SPD-geführten Ländern getragen wird: Der Bundesrat lehnt den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf ab. Ich glaube, das ist eine klare Haltung dieser Landesregierung, und zu der stehen wir auch.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Jörg Bode [FDP]: Warum denn nicht gleich so?)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Minister. - Herr Bode, bitte schön! Zwei Minuten!
Jörg Bode (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Lies, es geht ganz schnell.
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Nachdem Sie gesagt haben, welchen Antrag Sie morgen als SPD-geführte Länder und auch für das Land Niedersachsen in den Bundesrat einbringen wollen, habe ich eine einfache Frage: Wenn Sie im Bundesrat morgen exakt das tun wollen, worum wir Sie heute bitten wollen, warum verbieten Sie dann dem Landtag und den Regierungsfraktionen, das heute zu beschließen?
(Beifall bei der FDP - Helge Limburg [GRÜNE]: Hier verbietet keiner etwas! - Petra Tiemann [SPD]: Sie müssen nicht von damals auf heute schlie-ßen!)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Sie ha-ben die Möglichkeiten der Kurzinterventionen sehr geschickt ausgenutzt.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung.
Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der FDP in der Drucksache 17/1744 ablehnen will, den bitte ich jetzt um ein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag der FDP-Fraktion abgelehnt und der Beschlussempfehlung des Ausschusses gefolgt worden.
Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt. Da muss ich ein bisschen mehr vorlesen. Ich hoffe, ich bekomme das hin, trotz meiner lädierten Stim-me.
Ich rufe auf den
Tagesordnungspunkt 10: Abschließende Beratung: a) Güterverkehr auf die Wasserstraßen bringen - Stichkanal Salzgitter (SKS) ausbauen - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/1212 - Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2169 - b) Keine weiteren Verzögerungen bei Planung und Ausbau des Stichkanals Salzgitter (SKS) - Bundesregierung muss einem zügigen Ausbau des SKS höchste Priorität im Bundesverkehrswegeplan einräu-men - Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP - Drs. 17/2614 - Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2693
Es handelt sich nicht um zwei Anträge der FDP-Fraktion. Das klärt sich gleich auf.
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, erstens den An-trag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak-tion der FDP unverändert anzunehmen, unter Zu-rückziehung seiner Beschlussempfehlung in der Drucksache 17/2169, den Antrag der FDP-Fraktion für erledigt zu erklären.
Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.
Wir kommen jetzt zur Beratung, meine Damen und Herren. Zu Wort gemeldet hat sich von der FDP Hillgriet Eilers. Frau Eilers, Sie haben das Wort.
Hillgriet Eilers (FDP):
Sehr geehrtes Präsidium! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist fast auf den Tag genau ein Jahr her, dass die FDP-Fraktion den Antrag zum forcier-ten Ausbau des Stichkanals Salzgitter vorgelegt hat. Seinerzeit war schon zu erkennen, dass der Zeitplan für den Beginn des Planfeststellungsver-fahrens im Frühjahr 2015 nicht eingehalten werden wird, obwohl die Wettbewerbsfähigkeit dieses Ver-kehrsweges und des Wirtschaftsraums Salzgitter entscheidend vom Ausbau abhängt.
Auch wenn der Ehrgeiz der Regierungsfraktionen zunächst eingeschränkt war, ist es doch positiv, dass der Vorstoß der FDP heute unterstützt wird - leider aber im Grunde genommen ein ganzes Jahr zu spät. Eine schnellere Entscheidung hätte Nie-dersachsen vorangebracht, und wir hätten auch weitere flankierende Maßnahmen des Landes begrüßt; denn die Region wartet auf diese Signale.
Nun steht eine weitere Verschiebung um fünf Jah-re im Raum. Die Unternehmer fühlen sich an der Nase herumgeführt, sie sind „auf den Zinnen“, wie die Braunschweiger Zeitung titelt. Obwohl wir wis-sen, dass die Tonnage erheblich zunehmen wird, und obwohl bereits Investitionen von Anrainern getätigt wurden, lässt man sich Zeit. Es ist be-schämend, dass Unternehmen zunächst Zusagen gegeben wurden und dass diese heute so bitter enttäuscht werden.
Wir erwarten, dass der Druck insbesondere durch die SPD und die Grünen erhöht wird. Die Zusiche-rung, sich mit 28,3 % an den Kosten zu beteiligen, ist vertraglich fixiert. - Herr Schneider nickt.
Doch mit jeder Verschiebung bleiben etwa 70 Milli-onen Euro im niedersächsischen Haushalt und mehr als doppelt so viel im Bundeshaushalt. - Herr
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Schneider nickt wieder. - Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Weitere Verzögerungen sind aber nicht hinnehm-bar. Deswegen ist es gut, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag verabschieden. Sollte ein Grund für die weitere Verschiebung - wie aus dem Bundesministerium entschuldigend geäußert wur-de - tatsächlich darin bestehen, dass Planungska-pazitäten fehlen, dann ist das, mit Verlaub gesagt, ein Armutszeugnis, und es wird höchste Zeit, dass auch bei der Planung stärker auf die Privatwirt-schaft gesetzt wird. - Das sage ich auch mit einem Blick auf Herrn Schminke, der sich vorhin sehr engagiert, aber auch mit sehr viel heißer Luft ge-gen solche Entwicklungen gewandt hat.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Frau Eilers. - Jetzt hat sich Bernd-Carsten Hiebing für die CDU-Fraktion zu Wort gemeldet.
Bernd-Carsten Hiebing (CDU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was macht eine erfolgreiche Strukturpo-litik aus? - In einem Flächenland wie Niedersach-sen liegt es in der Natur der Sache, dass die Ent-fernungen groß und die Wege lang sind. Unser Land ist aber auch ein Transitland, ein wichtiger Logistik- und Verkehrsknotenpunkt in Europa. Da-mit kommt einer funktionierenden und gut ausge-bauten Verkehrsinfrastruktur in vielerlei Hinsicht große Bedeutung zu. Ich denke, darüber sind wir uns einig.
Das haben wir in Niedersachsen verinnerlicht. Das ist sicherlich auch ein wesentlicher Eckpfeiler un-serer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Im Drei-klang von Schiene, Straße und Wasserstraße liegt die Zukunft des Güterverkehrs zu einem wesentli-chen Teil auch auf dem Wasser, sicherlich auch aus ökologischen Gesichtspunkten. Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade auch die Binnen-schifffahrt mit ihrem Trend zu größeren Schiffsgrö-ßen, Frau Kollegin Menge, und auch zu größeren Tonnagen überaus gut unterwegs ist. Wenn wir das weiterhin unterstützen, dann bestehen dort die größten Reserven, die man noch heben könnte.
Ich bin aber auch sicher, meine Damen und Her-ren: Wir brauchen alle drei Verkehrsträger. Was-serwege haben möglicherweise die größten Re-serven. Aber machen wir uns nichts vor! Auch wenn es Ihnen nicht so recht ist: Auch Straßen werden weiterhin gebraucht.
Meine Damen und Herren, demzufolge kann eine wirtschaftlich erfolgreiche Binnenschifffahrt nur dort betrieben werden, wo Schiffe verkehren können. In einem weit verzweigten Netz der Wasserwege in Deutschland müssen wir also die erforderlichen Voraussetzungen immer wieder schaffen. Wir müssen Nadelöhre beseitigen, wo sie denn vor-handen sind. Salzgitter ist ein Fall, wo wir etwas unternehmen müssen. Wir sprechen von einer zeitgemäßen Anbindung an die Lebensader Mittel-landkanal. Für die Region - das ist uns wohl allen klar - ist das eine sehr wichtige Maßnahme.
Die große Konferenz in Salzgitter - ich habe das Glück gehabt, daran teilnehmen zu dürfen - hat deutlich gemacht, wie sehr die Menschen, aber auch die Unternehmen darauf warten, dass dieser Stichkanal endlich die Leistungsfähigkeit erreicht, die man dort als notwendig ansieht. Auch wir se-hen sie als notwendig an.
Deshalb freut es mich umso mehr, dass wir einen gemeinsamen Antrag aller vier Fraktionen in dieser Sache heute auf den Weg bringen. Ob man das eher hätte machen können oder müssen - darüber kann man sich streiten. Herr Kollege Bode
(Jörg Bode [FDP] bespricht sich mit Fraktionskollegen)
- er hört mir zwar nicht zu, aber es trotzdem ist wichtig -,
(Jörg Bode [FDP]: Doch!)
ich wollte deutlich machen, dass der erste Antrag zu diesem Thema hier fast gescheitert wäre, weil wir nicht der Meinung waren, dass er seinerzeit zielführend war. Es war klug, ihn zurückzunehmen und das Anliegen jetzt mit einem gemeinsamen Antrag richtig auf den Weg zu bringen. Heute liegt uns ein passgenauer Antrag vor, glaube ich.
Darin ist auch die Aufforderung an die Landesre-gierung enthalten, meine Damen und Herren, sich dafür einzusetzen, dass der Bund seinen vertragli-chen Verpflichtungen nachkommt. Ich glaube, es ist sozusagen notwendig, dass sich Bund und Land darüber einig sind, dass sie beide Verpflich-tungen haben. Nur dann wird es einen gemeinsa-men Erfolg geben.
Dazu gehört auch das Planfeststellungsverfahren. Wir alle wissen, wie lange es dauert. Aber wenn
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sich Bund und Land in den entscheidenden Punk-ten nicht einig und nicht darüber im Klaren sind, dass sie das gemeinsam erreichen wollen, werden wir nicht zu Erfolgen kommen. Ich denke, dass deutlich geworden ist, dass das Land finanzielle Verpflichtungen hat. Bei der Veranstaltung waren Sie, Herr Minister Schneider, anwesend und haben sich zu den finanziellen Verpflichtungen bekannt. Das war ein deutliches und notwendiges Signal.
Ich bin fest davon überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir das Ziel nur gemeinsam erreichen können. Deswegen ist es gut, dass wir die Ent-schließung heute gemeinsam auf den Weg brin-gen. Das umfasst die Maßnahmen, die das Land als erforderlich ansieht. Ferner muss der Bund daran erinnert werden, dass er Zusagen gegeben hat. Nur gemeinsam wird das zum Erfolg führen.
Deshalb, meine Damen und Herren, gehen wir davon aus, dass es eine gemeinsame, von allen vier Fraktionen - also des gesamten Landtages - getragene Entschließung gibt. Ich bin in der Sache fest davon überzeugt - das sage ich auch für die CDU-Fraktion -, dass ein gemeinsamer und frakti-onsübergreifender Aufschlag sinnvoll und gut ist und wir gemeinsam dem Antrag zustimmen sollten. Die CDU-Fraktion wird dies auf jeden Fall tun.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustimmung von Susanne Menge [GRÜNE])
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Danke, Herr Hiebing. - Zu Wort gemeldet hat sich Stefan Klein von der SPD-Fraktion. Sie haben das Wort. Bitte!
Stefan Klein (SPD):
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Lassen Sie mich noch ein paar Hintergrundinformationen zum Stichkanal Salzgit-ter geben. Er verbindet den Hafen Beddingen mit dem Mittellandkanal auf ungefähr 18 km Länge. Im Verlauf des Kanals befinden sich zwei Schleusen, eine in Wedtlenstedt in der Gemeinde Vechelde, lieber Herr Kollege Bachmann, und eine in Salzgit-ter-Üfingen. Jährlich werden rund 3 Millionen t Güter auf dieser Strecke transportiert. Damit ist er eine der wichtigsten Seitenwasserstraßen des Mittellandkanals - wenn nicht die wichtigste. Für die gesamte Strecke besteht eine Abladetiefe von maximal 2,50 m. Die maximale Tonnage beträgt 1 800 t.
An diesen Daten sieht man, dass diese Strecke nicht mehr zeitgemäß ist. Hier gilt es zu handeln, um die Rahmenbedingungen für diese Seitenwas-serstraße des Mittellandkanals zu verbessern. Das ist auch schon länger auf dem Weg.
2012 - das ist hier schon ansatzweise angespro-chen worden - gab es eine große Veranstaltung in Salzgitter, initiiert vor allem von der Salzgitter AG, aber auch von der Stadt Salzgitter, um dieses Pro-jekt voranzubringen. Dort gab es durch das Bun-desverkehrsministerium die Zusage, die dafür vor-gesehenen 144 Millionen Euro in den Bundes-haushalt einzustellen. Das war ein gutes Signal. Eigentlich sollte das Planfeststellungsverfahren schon 2014 beginnen. Das hat sich leider verzö-gert.
Bei der letzten Veranstaltung am 17. November 2014, bei der der Kollege Hiebing anwesend war - er hat es eben angesprochen -, aber auch Frau Glosemeyer und meine Person, war die FDP, die sich als Initiator der Verbesserung ansieht, nicht vertreten, was ich persönlich bedauere. Aber ich kann Ihnen die Illusion nehmen, dass Sie diese Entwicklung vorangebracht haben. Ich glaube, dass die anderen Akteure vor Ort maßgeblich dazu beigetragen haben, dass es jetzt vorangeht.
Für die Stadt Salzgitter und ihr Industriegebiet ist das enorm wichtig. Das schafft und sichert Ar-beitsplätze vor Ort und in der ganzen Region. Das sichert Ansiedlungen und hat auch schon zu eini-gen geführt. Für das ganze Industriegebiet hat es eine enorme Bedeutung, mit dem Stichkanalaus-bau voranzukommen.
Das Land hat seinen Finanzierungsanteil in Höhe von 28,33 % sichergestellt, Frau Eilers, und auch im Haushalt und über die mittelfristige Finanzpla-nung abgesichert. Das ist auch gut so. Die Aufga-ben des Landes wurden damit schon mal grob erfüllt. Der Bund ist jetzt am Zug.
Das haben auch Sie letztlich eingesehen, indem Sie den ersten Antrag zurückgezogen haben. Bei der Beratung dieses Antrags vor zwei Monaten war deutlich geworden, dass Ihr Antrag nicht zielfüh-rend war, weil Sie das Land aufgefordert haben, das Land aber nicht der Träger des Verfahrens ist. Das ist vielmehr der Bund.
Wir haben in der Zwischenzeit viele Gespräche geführt und sind zu einem gemeinsamen An-tragstext gekommen. Das ist gut. Es ist ein wichti-ges Signal für Salzgitter und die Region, dass alle Fraktionen hier im Haus gemeinsam den Druck in
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Richtung Berlin deutlich machen. Der Druck muss ausgeübt werden. Zwar gibt es positive Signale, auch aktuell vom Bundesverkehrsminister gemein-sam mit dem Bundeswirtschaftsminister. Aber wir haben in den letzten Jahren diesbezüglich schon einiges erlebt. Deswegen sollte der Druck auf-rechterhalten werden. Die Landesregierung tut das, sogar sehr intensiv, so, wie ich das mitkriege. Wir hoffen, damit zu einem guten Ergebnis zu kommen.
Leider kommen wir in einen gewissen Zeitverzug. Das ist bereits bekannt gemacht und hier bereits diskutiert worden. Wenn es optimal läuft, wird das Planfeststellungsverfahren vermutlich erst Ende 2016 abgeschlossen werden. Eine Mindestbauzeit von sieben Jahren ist angesetzt; das ist auch am 17. November dargestellt worden. Das heißt, wir werden frühestens 2023 fertig - frühestens! Realis-tisch ist es sicherlich, von einer Fertigstellung ein oder zwei Jahre später auszugehen, wenn man die allgemeine Entwicklung bei solchen Bauvorhaben sieht. Aber eine weitere Verzögerung darf es dann nicht geben; denn die Schiffe, die jetzt dort fahren, werden dann nicht mehr produziert. Das heißt: Woher kommen dann die Schiffe, die dort die Gü-ter transportieren?
Es gibt also eine große Notwendigkeit, einen gro-ßen Handlungsbedarf. Das wird in dem Antrag deutlich gemacht. Der Antrag gibt einen wichtigen Impuls, den wir, die beiden Regierungsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, natürlich mittragen. Wir haben ihn ja auch entscheidend mitformuliert. Von daher hoffe ich auf einen ein-stimmigen Beschluss hier im Parlament. Wir hof-fen, dass es dann wirklich vorangeht und im Jahr 2015 losgeht, damit wir uns künftig nicht mehr in der Form mit dem Thema befassen müssen und das Ganze einen guten Lauf nimmt, womit der Industriestandort Salzgitter eine deutliche Aufwer-tung erfährt.
In diesem Sinne vielen Dank fürs Zuhören und für das Engagement der Regierung. Auf ein gutes Ergebnis!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Herr Klein. - Der Minister hat sich zu Wort gemeldet. Herr Wirtschaftsminister Lies, bitte schön!
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Ver-kehr:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst dafür bedanken, dass es hier zu einem gemeinsamen Antrag ge-kommen ist. Diese Gemeinsamkeit ist im Blick auf die Projekte, die wir hier noch vor uns haben, ein wichtiges, ein deutliches und auch ein förderliches Signal. Ich komme am Ende meiner Rede noch dazu.
Wir haben vorhin schon über die Bedeutung der niedersächsischen Wasserstraßen für den Güter-verkehr diskutiert. Der Ausbau des Stichkanals Salzgitter ist im Zusammenhang mit dem Ausbau des Mittellandkanals von ganz entscheidender Bedeutung. Er ist ein weiterer Schritt zur Herstel-lung eines wirklich homogenen norddeutschen Wasserstraßennetzes.
Die Gesamtkosten für den Ausbau des Stichkanals Salzgitter waren von der Wasser- und Schifffahrts-verwaltung bisher mit 140 Millionen Euro kalkuliert worden. Inzwischen wissen wir, dass technisch begründete Veränderungen die Gesamtkosten auf 197 Millionen Euro ansteigen lassen. Der nieder-sächsische Anteil würde insgesamt 56 Millionen Euro betragen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang - und das macht den Unterschied zu dem bisherigen Ent-schließungsantrag der FDP-Fraktion aus -: Wir als Land können weder das Planfeststellungsverfah-ren noch die Bauausschreibung auf den Weg brin-gen. Aber wir können gemeinsam den notwendi-gen Druck in Berlin aufbauen. Das ist das Signal des heutigen Antrags.
Der Ausbau des Mittellandkanals und seiner Stich-kanäle ist mit der Bundesregierung in einem Re-gierungsabkommen aus dem Jahr 1965 vertraglich vereinbart worden. Der volle Nutzen wird erst er-reicht, wenn das letzte Teilstück fertig ist. Der Zeit-rahmen von 1965 bis jetzt zeigt, dass man es in der Vergangenheit häufiger verpasst hat, den Druck auszuüben, der beim Ausbau der Wasser-straßen tatsächlich notwendig ist.
Die Kosten für den Ausbau sind in unserem Lan-deshaushalt veranschlagt.
Das Land Niedersachsen hat den Bund aufgefor-dert, den zügigen Ausbau des Stichkanals Salzgit-ter zu gewährleisten. Nur so können die über fast 50 Jahre gezahlten Ausbaubeiträge für den Was-serstraßenbau - das Gesamtvolumen beträgt für den Mittellandkanal West und Ost 2,5 Milliarden
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Euro; davon wurden als niedersächsischer Anteil 400 Millionen Euro in den letzten Jahren gezahlt - den angestrebten Nutzen entwickeln.
Die vom Bund aktuell durchgeführte Neubewer-tung aller Wasserstraßenprojekte im Rahmen der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplans wird aus hiesiger Sicht - ich glaube, da sind wir uns einig - als irrrelevant betrachtet. Es gab und es wird keine Neubewertung dieser Maßnahme ge-ben. Sie ist fest disponiert, und sie bedarf keiner grundsätzlichen Überprüfung mehr.
Die Gespräche, die wir geführt haben, und der Nachdruck, mit dem wir sie geführt haben, zeigen Wirkung. Die aktuelle Entwicklung ist eindeutig. Nach Auskunft der hannoverschen Außenstelle der Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt hat das BMVI Ende letzten Jahres die Freigabe zur Einleitung des Planfeststellungsverfahrens erteilt. Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird noch in diesem Frühjahr die Einleitung des Planfeststel-lungsverfahrens beantragen. Wir gehen davon aus, dass dieses Verfahren ein bis eineinhalb Jah-re dauert, sodass noch 2016 mit dem Strecken-ausbau begonnen werden kann. Das muss jeden-falls unser festes Ziel sein.
Wir haben es vorhin von Herrn Klein gehört: Wir rechnen mit ungefähr sieben Jahren Bauzeit, und wir sollten auch mit Nachdruck fordern, dass wir nach sieben Jahren auch tatsächlich fertig sind, sodass Ende 2023 auch der Stichkanal Salzgitter fertig ist.
Das ist ein entscheidendes Signal. Umso wichtiger ist es, dass wir das noch einmal durch einen ge-meinsamen Beschluss bestätigen. Dieser gemein-same Beschluss wird heute gefasst. Darüber freue ich mich, und ich hoffe, dass das Signal beim Bund noch einmal deutlich macht, wie sehr Niedersach-sen über alle Fraktionsgrenzen hinweg am Ausbau der Binnenwasserstraßen interessiert ist.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Beratungen über diesen Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Nr. 1 der Beschlussempfehlung. Wer der Nr. 1 der Beschlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP in der Drucksa-che 17/2614 unverändert annehmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenstimmen und Enthaltungen sehe ich nicht. Das war einstimmig.
Wir kommen dann zur Abstimmung über die Nr. 2 der Beschlussempfehlung. Wer der Nr. 2 der Be-schlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der FDP in der Drucksache 17/1212 für erledigt erklären möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Das war eben-falls einstimmig.
Ich rufe jetzt auf den
Tagesordnungspunkt 11: Abschließende Beratung: Niedersächsische Verkehrsinfrastruktur stär-ken - Ja zur „Wunderlinie“, der Bahnstrecke zwischen Bremen und Groningen - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/1628 - Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr - Drs. 17/2694
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag in geänderter Fassung anzunehmen. Eine Berichter-stattung ist nicht vorgesehen.
(Hans-Dieter Haase [SPD] unterhält sich)
- Herr Haase, es geht um Ihre Region, und wir freuen uns, dass Sie gesund wieder unter uns sind.
(Beifall - Hans-Dieter Haase [SPD]: Danke sehr!)
- Ich wollte nur Ihre Aufmerksamkeit erhaschen, Herr Haase.
Wir treten in die Beratung ein. Zu Wort gemeldet hat sich Susanne Menge, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön!
Susanne Menge (GRÜNE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Projekt „Wunderline“ unterstützen wir. Das Projekt „Wunderline“ ist eine großartige Chance zur Verbesserung des Schienenpersonenfern- und -nahverkehrs. Bund, Land, Landkreise und Kom-munen arbeiten gemeinsam an der Realisierung der Personenstrecke von Bremen nach Groningen.
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Dass die Niederlande das Projekt mit nunmehr fast 120 Millionen Euro mitfinanzieren - allein 85 Millio-nen Euro kommen aus Groningen -, ist ein großar-tiges Beispiel für einen gelungenen freundschaftli-chen, europäischen Dialog und ein Signal, die Umsetzung anzupacken. Das ist ganz im Sinne unseres Antrags.
Kritische Fragen im Zusammenhang mit der „Wun-derline“ müssen dennoch erlaubt sein. Der Vertre-ter der DB hat im Fachausschuss dargelegt, dass der Schienenfernverkehr zwischen Hamburg und Amsterdam - damals war die Streckenführung so vorgetragen worden - nicht nennenswert darge-stellt werden könne und dass daher die DB not-wendige Finanzierungen zugunsten anderer Stre-cken vorziehen würde.
Eine Diskussion in Oldenburg dreht sich u. a. um folgende Fragen - ich schicke voraus, dass das Projekt von Oldenburg unterstützt wird -: Erstens. Stehen EU-Mittel in erwarteter Höhe von 600 Mil-lionen Euro im Rahmen der TEN-T-Fördermittel tatsächlich für eine reine Personenstrecke zur Verfügung? Zweitens. Ist zu erreichen, dass mit der Gesamtplanung der „Wunderline“ endlich auch alternative Strecken geplant werden?
Aus Landessicht müssen wir meiner Meinung nach im Fokus behalten, dass die durch die energische Unterstützung des Wirtschaftsministers deutlich erhöhte Bewegung im Tiefseehafen JadeWeser-Port nicht durch eine vielleicht mitgedachte Güter-transportstrecke gefährdet wird.
Unser gemeinsamer Antrag ist dennoch ein klares Bekenntnis zur geplanten Personenstrecke „Wun-derline“, und dieser Antrag ist auch ein klares Be-kenntnis zur europäischen Idee und zu grenzüber-schreitenden Projekten. Deshalb bedanke ich mich dafür, dass wir ihn gleich fraktionsübergreifend auf den Weg bringen werden.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank. - Jetzt hat sich Gerda Hövel, CDU-Fraktion, zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau Ab-geordnete!
Gerda Hövel (CDU):
Sehr geehrtes Präsidium! Sehr geehrte Damen und Herren! „Die A 31 ist das bedeutendste Ver-kehrsprojekt im deutsch-niederländischen Raum“, das sagte Niedersachsens Ministerpräsident Chris-tian Wulff am 19. Dezember 2004 in Schüttorf, als er die A 31 endgültig für den Verkehr freigab. Und: „Sie ist einmalig in der ganzen Republik“, ergänzte Angelika Mertens (SPD), Parlamentarische Staats-sekretärin im Bundesverkehrsministerium.
Das bezog sich sicherlich auch auf die Initiative, die dieses erfolgreiche Projekt partei- und länder-übergreifend voranbrachte.
Mit dem neuen Autobahnkreuz von A 30 und A 31 wurde zugleich das letzte noch fehlende Teilstück eingeweiht. Der Verkehr konnte ab dann auf der insgesamt rund 250 km langen Strecke von Bottrop bis ins niedersächsische Emden fließen.
Die Region Emsland/Ostfriesland, meine Damen und Herren, hat dadurch neue Perspektiven ge-wonnen. Sie konnte endlich ihr Innovationspoten-zial erschließen, das ein Gutachten des Verkehrs-wissenschaftlichen Instituts der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, von den deut-schen und niederländischen Industrie- und Han-delskammern der Region in Auftrag gegeben, ein-drucksvoll bestätigt hatte. Diese Region hat sich seitdem hervorragend entwickelt. Überdurch-schnittlich niedrige Arbeitslosenzahlen und über-durchschnittlich hohes wirtschaftliches Wachstum zeichnen z. B. die Wachstumsregion Ems-Achse seitdem aus.
Meine Damen und Herren, ich führe diese A 31 an, weil sie beweist, wie wichtig eine gute Infrastruktur für die wirtschaftliche Entwicklung einer Region ist.
(Zustimmung von Karl-Heinz Bley [CDU])
Wir können als Politik nicht direkt selbst Arbeits-plätze schaffen, aber wir können die Vorausset-zungen und den Rahmen schaffen, dass engagier-te Unternehmerinnen und Unternehmer überhaupt in der Lage sind, die Wirtschaft dort voranzubrin-gen, zu beleben und damit auch Menschen Arbeit zu geben und die Region zu entwickeln. Die A 31 hat auf bemerkenswerte Weise gezeigt, wie Politik eine solche Region jedenfalls mit beleben kann.
Meine Damen und Herren, die CDU-Fraktion möchte, dass Niedersachsen diesen Weg erfolg-reicher Infrastrukturpolitik fortsetzt.
(Beifall bei der CDU)
Wenn wir uns als moderne Industriegesellschaft weiterentwickeln wollen, brauchen wir eine gut ausgebaute und eine gut funktionierende Infra-struktur. Dazu gehören die Breitband- und die Energieversorgung und natürlich die Verkehrsinf-
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rastruktur, wie aufgezeigt, die Autobahnen, aber genauso auch die Schieneninfrastruktur der Bahn.
Ich habe gerade von einer ganz engagierten län-der- und parteiübergreifenden Initiative im Emsland gesprochen, die ihr Projekt sehr erfolgreich abge-schlossen hat. Heute beraten wir das Anliegen, das Projekt einer niederländisch-deutschen Initiati-ve, ebenfalls partei- und länderübergreifend, die das Ziel beinhaltet, die Bahnstrecke Groningen–Leer–Oldenburg–Bremen zu verbessern. Unter-stützt wird sie durch die Industrie- und Handels-kammern von Ostfriesland/Papenburg und Olden-burg. Das Projekt „Wunderlinie“ soll zur Verbesse-rung im SPNV führen. Die Reisezeit von Gronin-gen nach Bremen von jetzt 2:43 Stunden kann nahezu halbiert werden. Damit steigt die Attraktivi-tät für Geschäfts- und für Urlaubsreisende, für Berufspendler. Ganz besonders die Studierenden an der European Medical School in Groningen und in Oldenburg sollten hier erwähnt werden.
(Beifall bei der CDU und bei den GRÜNEN)
Gleichzeitig könnte auch der Gütertransport effizi-enter gestaltet werden.
Für das Projekt „Wunderlinie“ haben die niederlän-dischen Nachbarn 120 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Außerdem gibt es gute Aussichten auf eine Förderung der Europäischen Union.
Meine Damen und Herren, zu Beginn meiner Rede habe ich die Erfolgsstory der Wachstumsregion Ems-Achse beschrieben. Jetzt geht es um den bedarfsgerechten Ausbau der „Wunderlinie“. Sie muss leistungsstark sein, sie muss die Anbindung an unser Nachbarland und innerhalb der Region verbessern, sie muss der wirtschaftlichen Entwick-lung unseres Landes förderlich sein.
Auf der Grundlage eines Antrags der CDU-Fraktion haben wir in diesem Sinne im Fachausschuss einen gemeinsamen Änderungsantrag von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP erarbeitet, für den ich hiermit um Zustimmung werbe.
Eines möchte ich noch ergänzen: Außerordentlich wichtig ist der CDU-Fraktion in diesem Zusam-menhang der Zeitplan der Realisierung. Wir wis-sen, dass sich das Zeitfenster zur Realisierung dieses wichtigen Infrastrukturprojektes kurzfristig schließen wird.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Susanne Menge [GRÜNE])
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank, Frau Hövel. - Jetzt hat sich Gerd Ludwig Will, SPD-Fraktion, zu Wort gemeldet. Bitte sehr!
Gerd Ludwig Will (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grenz-überschreitende Verkehre und Projekte mit sinn-voller Verknüpfung, wie bereits am Beispiel der A 31 angesprochen, können sowohl für Nieder-sachsen als auch für die Niederlande mit dem Ziel einer europäischen Verkehrspolitik insbesondere im grenznahen Bereich sinnvoll sein. Insofern be-grüßen wir die Initiativen der niederländischen Regierung in Den Haag und in der Region Gronin-gen für den Ausbau der grenzüberschreitenden Bahnverbindung Groningen–Leer. Die Zuständig-keiten für den Ausbau und die Finanzierung müs-sen dabei aufeinander abgestimmt werden. Sie sind in den Ländern nämlich ganz unterschiedlich geregelt. Dabei sind außerdem die Prioritäten und Planungen der Deutschen Bahn in Niedersachsen zu berücksichtigen. Die Kollegin Menge hat bereits darauf hingewiesen. Diesen Teil kann ich mir also sparen.
Nach der Anhörung im Wirtschaftsausschuss kann der Antrag nicht so bestehen bleiben, wie er ur-sprünglich eingebracht worden ist. Der Ursprungs-antrag der CDU beinhaltete eine Beschleunigung und Gesamtertüchtigung der Strecke mit einem zweigleisigen Ausbau, mit Elektrifizierung usw., um erhebliche Zeitersparnisse auch bei den Fernver-kehren einzufahren. Ziel sollte es sein, den Fern-verkehr und damit zwangsläufig auch den Güter-verkehr - die eigentlich beide Kernaufgaben des Bundes und der DB sind - in den Mittelpunkt des Antrags zu stellen.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich hat das Land bereits im Rahmen der Meldungen für den Schienenbereich den Abschnitt Oldenburg–Leer vorrangig zum neuen Bundesverkehrswege-plan angemeldet. Nach der Anhörung der Deut-schen Bahn zum Projekt „Wunderlinie“ kann der Ursprungsantrag nicht mehr sinnvoll sein. Der Vertreter der Bahn hat eindeutig erklärt, dass ein grenzüberschreitender Ausbau einer Schnellbahn-strecke zwischen Groningen und Leer nicht die Priorität der Bahn hat. Die Gründe dafür haben wir vorhin gehört.
Alle Fraktionen haben sich in der vorliegenden geänderten Fassung des Antrags auf Landesauf-gaben konzentriert. Sie liegen im Bereich des
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SPNV auf dieser bereits vorhandenen und betrie-benen Linie Leer–Groningen. Das beinhaltet, so-weit möglich, mehr Begegnungsabschnitte, Ver-besserungen im Oberbau, die Prüfung der Reakti-vierung von stillgelegten Bahnhöfen und eine bes-sere Durchbindung nach Oldenburg und Bremen. Damit können eine Reisezeitbeschleunigung und ein Mehrkundenpotenzial für die Strecke erreicht werden.
Ein solcher Ausbau beiderseits der Grenze sollte gemeinsam mit den Niederländern im Sinne einer wirksamen regionalen grenzüberschreitenden Zu-sammenarbeit erfolgen und die Wirtschafts- und Sozialräume enger miteinander verknüpfen.
Soweit Aufgaben des Bundes betroffen sind, soll der Bund gebeten werden, die bereits erfolgten Anmeldungen zum Bundesverkehrswegeplan zu unterstützen und darüber hinaus mit den Nieder-landen eine weitere Ertüchtigung der Strecke im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse zu erörtern.
Meine Damen und Herren, vor einem Ausbau der Strecke Groningen-Leer für schnelle Güterverkeh-re aus den Westhäfen der Niederlande und Belgi-ens muss die Priorität des Bundes dem vorrangi-gen Ausbau der niedersächsischen Schienen- und Straßenwege zu den Nordhäfen gelten.
(Zustimmung von Susanne Menge [GRÜNE])
Wir werden dem Antrag in der geänderten, auf Landesaufgaben konzentrierten Fassung zustim-men, und wir freuen uns, dass es eine gemeinsa-me Entschließung ist. Insofern wünschen wir dann auch dem Verkehrsminister viel Erfolg dabei, mit dem Bund die Dinge zu erörtern, die über Landes-interessen hinausgehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Danke, Herr Kollege Will. - Zu Wort gemeldet hat sich Gabriela König, FDP-Fraktion. Frau König, Sie haben das Wort.
Gabriela König (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wichti-ge Dinge sind schon gesagt worden, die ich nicht unbedingt alle wiederholen muss.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass wir vor ein paar Jahren den sogenannten Schienenperso-nenverkehrsplan der LNVG beschlossen haben. Im Schienenverkehrsplan 2013 Plus haben wir auch die Strecke zwischen Bremen und Leer insofern ertüchtigt, als wir neues Zugmaterial einsetzen durften und vor allen Dingen auch die Takte, also die aufeinander abgestimmten Zeiten der unter-schiedlichen Züge, ausbauen konnten. Das heißt, diese Strecke ist schon wesentlich verbessert.
Unter dieser Voraussetzung müssen wir eines bedenken: Wenn die Landesregierung diese Stre-cke weiterhin für den Bundesverkehrswegeplan gemeldet hat, um sie weiter zu ertüchtigen, müs-sen wir sehen, wie wir jetzt mit der neuen Strecke der „Wunderlinie“ umgehen.
Das heißt mit anderen Worten: Wir brauchen eine Kosten-Nutzen-Analyse, um zu schauen, welche Strecken wir wie ausbauen können; denn wir ha-ben das Geld sicherlich nicht für beide Strecken zur Verfügung.
Dementsprechend ist dieser Antrag zielführend, weil genau das alles geprüft werden soll. Es sollen im Prinzip die Planungsvoraussetzungen noch einmal abgewogen werden. Das ist ein wichtiger Akzent, um überhaupt zu wissen, in welche Art der Planung wir einsteigen. Daraufhin wird die Landes-regierung tätig werden können.
Ich bin sehr froh, dass wir vor allen Dingen darauf gepocht haben, dass es ein Personenverkehr sein muss und dass wir da keinen zusätzlichen Güter-verkehr herstellen wollen. Wir haben gerade zwi-schen Oldenburg und Bremen und im weiteren Verlaufe nach Hamburg demnächst sicherlich viele Verkehre zu bewältigen. Da ist der Schienenper-sonenverkehr nicht zu vernachlässigen und des-halb in diesem Antrag besonders herausgehoben.
Insofern freue ich mich, dass wir zu einem ge-meinsamen Ergebnis kommen konnten, und kann diesem entsprechend folgen.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsident Karl-Heinz Klare:
Vielen Dank. - Zu Wort gemeldet hat sich der Wirt-schaftsminister. Heute ist ja der Großkampftag der Verkehrspolitiker. Herr Lies, Sie haben das Wort.
Olaf Lies, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Ver-kehr:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Niederlanden gibt es sehr starke
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Bestrebungen, die Reisezeit zwischen Groningen und Bremen von derzeit 2:43 Stunden deutlich zu verkürzen und langfristig den angestrebten Ausbau der Schienenstrecke gar bis Hamburg und Ams-terdam auszuweiten. Hierfür setzen sich eine Rei-he von Interessengruppen sowohl in den Nieder-landen als auch bei uns in Norddeutschland ein.
Das Projekt „Wunderline“ als Schnellzugprojekt ist allerdings ein Fernverkehrsprojekt. Insofern dient es natürlich vorrangig der Verbindung des Raumes Amsterdam mit Bremen und Hamburg. Damit ist aus rein formaler Sicht für den Ausbau und dessen Finanzierung der Bund verantwortlich, bei dem das Vorhaben auch für den Bundesverkehrswegeplan 2015 angemeldet wurde.
Niedersachsen hat für den Bundesverkehrswege-plan 2015 den Ausbau der Strecke Leer–Olden-burg angemeldet und damit die Erweiterung der dortigen Kapazität in den Blick genommen. Dort ist sie auch dringend erforderlich. Insofern sagen wir, wie ich glaube, an allen Stellen gemeinsam: Das, was wir dort wollen, nämlich der Ausbau der Stre-cke Leer–Oldenburg, soll nicht zurückgestellt wer-den. Wir betrachten das Gesamtprojekt. Es muss als eine wichtige Teilmaßnahme gesehen werden. Das gilt bei Leer–Oldenburg sowohl für den Per-sonenverkehr als übrigens auch für den Güterver-kehr, für den diese Strecke ideal ist.
(Beifall bei der SPD)
Aber natürlich birgt trotz dieses priorisierten Vor-habens auch der abschnittsweise Ausbau in Rich-tung Niederlande einen Vorteil; denn auch er kann natürlich intensiv für unseren Nahverkehr genutzt werden. Wir haben effektive und gut funktionieren-de Partnerschaften mit den Niederlanden. Viele Menschen pendeln täglich grenzüberschreitend für ihre Arbeit und ihre Ausbildung.
Die Niederländer, die Befürworter, haben Recht, wenn sie sagen, dass gerade bessere Verbindun-gen, erhöhter Komfort und Fahrplanoptimierung dem Zweck dienen, mehr Fahrgäste in den Zug zu bekommen. Insoweit bietet dieses Projekt natürlich auch für Niedersachsen eine gute Chance. Aller-dings muss man auch sagen, dass es bislang kei-nerlei verlässliche Aussagen zur erwarteten Nach-frage im Personenverkehr gerade für die Relation Amsterdam–Groningen–Bremen–Hamburg gibt.
Die derzeit allein bestehende grenzüberschreiten-de Nahverkehrsverbindung Groningen–Leer, die aber bereits gute Anschlüsse in Richtung Bremen aufweist, ist aktuell durch ein vergleichsweise sehr geringes Nachfrageniveau gekennzeichnet. Auch das muss man der Ehrlichkeit halber dazu sagen.
(Ulf Thiele [CDU]: Weil die Strecke so nichts taugt, Herr Minister!)
Trotzdem ist die „Wunderline“ ein ohne Frage spannendes Projekt - gerade mit einem möglichen Potenzial für den niedersächsischen schienenge-bundenen Personennahverkehr. Eine finanzielle Unterstützung des Landes allerdings haben wir bisher nicht zugesagt, und sie kann es dafür auch nicht geben.
Aber wir sind in dem Antrag zu Recht sehr deutlich aufgefordert - ich will das wiederholen -, zu prüfen, welchen Nutzen Niedersachsen durch das Projekt „Wunderline“ haben kann und ob eine Verknüp-fung mit den Landesaufgaben im SPNV möglich ist. Das ist eine ganz entscheidende Vorausset-zung, die wir gemeinsam auf den Weg bringen müssen. Deswegen werden wir weiter sehr inten-siv an diesem Vorhaben arbeiten und daraus den größtmöglichen Nutzen für Niedersachsen erarbei-ten, um vor allen Dingen eine Erweiterung und Optimierung unseres Personennahverkehres zu bekommen.
(Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta übernimmt den Vorsitz)
Aber, meine Damen und Herren, das darf keine Relation für zusätzliche Güterverkehre aus den Niederlanden werden. Ich will daran erinnern, dass die Relation Amsterdam–Hamburg am Ende mit der Umfahrung Groningen auch bis Rotterdam fortgeführt werden kann. Wir haben kein Interesse, zusätzliche Güterverkehre, die nicht aus deutschen Häfen kommen, auf die Schiene zu bringen, was zu einer zusätzlichen Belastung für die Menschen in unseren Städten führen würde. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Wir fokussieren uns deswegen auf den Personenverkehr und nicht darauf, weite-ren Güterverkehr aus den Niederlanden auf unse-ren Schienen abzuwickeln.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, wir haben bereits ge-handelt. In intensiven Gesprächen mit dem Vertre-ter der Niederlande werden wir mit einem Unter-stützungsschreiben, das sowohl von Niedersach-sen als von Bremen unterzeichnet wird, den Antrag der Niederländer, über TEN-T eine entsprechende Finanzierung eines Gutachtens auf den Weg zu bringen, unterstützen. Ich glaube, das ist ein guter Weg. Es stehen dafür Fördermittel zur Verfügung.
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Diese sollten wir nutzen, um darüber die weiteren Erkenntnisse zu gewinnen, wie wir diesen Ausbau voranbringen können und wie wir am Ende ge-meinsam einen Nutzen gerade für die Menschen in Niedersachsen erzielen können.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Minister Lies. - Ich schließe die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung.
Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses zustimmen und damit den Antrag der Fraktion der CDU in der sich aus der Beschlussempfehlung ergebenden geänderten Fassung annehmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das war einstimmig.
Ich rufe auf den
Tagesordnungspunkt 12: Abschließende Beratung: Kleine Kommunen entlasten - Brenntage bei-behalten - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 17/1324 - Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Energie und Klimaschutz - Drs. 17/2730
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag abzu-lehnen.
Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.
Ich eröffne die Beratung. Für die FDP-Fraktion hat Herr Kollege Grupe das Wort. Bitte!
(Zurufe von der Fraktion der CDU)
Hermann Grupe (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine solche Anfeuerung habe ich vor einer Rede noch nie bekommen. Als ich beim letzten Mal für den Antrag geworben habe, ist mir das als eine doch etwas laue Stellungnahme ausgelegt worden.
„Kleine Kommunen entlasten - Brenntage beibe-halten“. Hier droht mal wieder eine Entscheidung aus rein urbaner Sicht, eine Entscheidung gegen den ländlichen Raum, der die Lasten zu tragen hat.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Miriam Staudte [GRÜNE]: Das ist doch Quatsch!)
Meine Damen und Herren, in den städtischen Be-reichen, in Hannover, Oldenburg oder Braun-schweig, mag das Verbrennen von Grüngut nicht die erste Wahl sein. Dort kann man auch ver-gleichsweise effizient sammeln.
Im ländlichen Raum aber sieht es ganz anders aus. Die Wege sind weiter. Die Andienung an Sammelplätze ist aufwendiger und teurer und ver-braucht mehr Energie. Sie ist für die Menschen wesentlich beschwerlicher und für die Umwelt öko-logisch deutlich schädlicher als die Beseitigung durch das Verbrennen vor Ort. Bei Obstgehölzen, die im ländlichen Raum häufig vorkommen, wer-den die Krankheiten durch das Verbrennen wir-kungsvoll bekämpft.
Meine Damen und Herren, gerade den kleinen Kommunen werden durch diese bürokratischen Regelungen völlig unnötige Lasten aufgebürdet. Aber das ist ja mal wieder typisch.
(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU - Christian Dürr [FDP]: Sehr rich-tig!)
Wenn wir die Probleme im ländlichen Raum lösen wollen, brauchen wir eine völlig andere Sichtweise, als wenn wir über die urbanen Räume reden. Die kleinen Kommunen hätten wirkliche Vorteile, weil sie diese Probleme wesentlich einfacher lösen können als die Großstädte. Dort wird dieser Vorteil umgekehrt und in einen Nachteil verwandelt.
Meine Damen und Herren, summa summarum: Bei der Frage des Verbrennens von Grüngut ist es natürlich völlig unmöglich, eine Regelung zu fin-den, die für die Großstädte genauso passt wie für die ländlichen Räume. Deswegen muss man das auch differenziert betrachten. Aber in der Koalition haben sich die Grünen als die urbane Stadtpartei mit ihren städtischen Interessen mal wieder durch-gesetzt. Der ländliche Raum wird als Wohlfühl- und Wellnesszone der städtischen Klientel vorgeführt und hat mal wieder die Zeche zu bezahlen.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Lachen bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, eigentlich sollte es ver-wundern, dass es in diesem Zusammenhang auch gar keine Rolle mehr spielt, dass man neben den unnötigen ökonomischen Lasten auch eine ökolo-gisch wesentlich schlechtere Lösung durchsetzt.
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Man sollte meinen, dass das den Grünen nicht gefallen könnte. Aber das ist eben mal wieder ei-ner der vielen Punkten, in denen der ländliche Raum zugunsten der Städte benachteiligt wird.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Christian Dürr [FDP]: Sehr richtig!)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Kollege Grupe. - Für die SPD-Fraktion hat nun Frau Kollegin Rakow das Wort. Bitte!
(Unruhe bei der CDU und bei der SPD)
Sigrid Rakow (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Grupe, hier spricht jetzt der ländliche Raum. Ich komme aus einem sehr ländlich strukturierten Landkreis und kann Ihnen sagen: Bei uns ist die Welt, was das Verbrennen betrifft, total in Ord-nung. Dazu komme ich aber gleich noch.
Meine Damen und Herren, ich hatte eigentlich erwartet, dass die FDP den Antrag zurückzieht, weil er völlig überflüssig ist. Das hat ja die Diskus-sion im Ausschuss schon gezeigt.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Widerspruch bei der FDP)
Ich will nur auf einen Punkt hinweisen: Es gibt das Kreislaufwirtschaftsgesetz, das im Bund von CDU und FDP verabschiedet worden ist. Wenn man dieses Gesetz ernst nimmt, dann muss man sich um eine höherwertige Verwendung kümmern und darf man nicht einfach das Verbrennen so in den Vordergrund stellen.
(Zuruf von der FDP: Wie wollen Sie das verwenden?)
Insofern finde ich Ihr Beharren schon etwas be-fremdlich. Denn es gibt ja nun wirklich bessere Lösungen als das Verbrennen. Dazu hat die Lan-desregierung nun auch - das wissen Sie auch alle aus der Diskussion - die Pflanzenabfallverordnung in den Raum gestellt. Das ist wirklich eine sehr gute Lösung, die ganz schnell - ich nehme an, in den nächsten Tagen - verkündet werden wird.
(Beifall bei der SPD)
Der Kollege Grupe hat bei der Einbringung des Antrags - auch deshalb wundere ich mich, dass Sie den Antrag nicht zurückziehen - ganz wunder-bar dargestellt, wie in seinem Landkreis Holzmate-rial, Abfallmaterial, Strauchschnitt gesammelt, gehäckselt und ausgebracht wurde. Das war ge-wissermaßen schon eine Art Vorläufer der Pflan-zenabfallverordnung. Und jetzt will er sich hier wieder davon verabschieden.
Aber das Beispiel von Herrn Grupe zeigt zweierlei: Zum einen waren die Bürger damals, als das Mo-dell lief, bereit, den Strauchschnitt zu sammeln. Die Bürger wollten, dass das, was dort gesammelt worden ist, ökologisch sinnvoll verwertet wird. Denn damals hätten sie ja eigentlich noch Feuer machen können. Sie hätten auch kokeln können; das haben sie aber gar nicht getan. Zum anderen hatte ein Teil der FDP, zumindest Herr Grupe, schon einen Sinn dafür, dass eine höherwertige Verwertung durchaus möglich ist. Herr Grupe, warum wenden Sie sich von dieser Erkenntnis wieder ab? - Schade eigentlich!
Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat mit der Pflanzenabfallverordnung, die fast fertig ist, eine ausgezeichnete, gut praktikable und her-vorragend auf das schwarz-gelbe Kreislaufwirt-schaftsgesetz des Bundes abgestimmte Verord-nung verfasst, die übrigens auch auf breite Zu-stimmung in den Gemeinden und sogar noch mehr in den Landkreisen stößt.
Meine Damen und Herren, wir haben im Aus-schuss diskutiert. Dabei ging es ganz stark um drei Punkte: erstens um die Beschwerden über Qualm und Geruchsbelästigung, zweitens um die Frage, wie mit größeren Mengen Strauchwerk zu verfah-ren ist, und drittens um die Frage des Brauchtums-feuers.
Zum ersten Punkt, zur Geruchsbelästigung, kann man nur kurz sagen, dass es viele Eingaben und Anrufe von Petenten gegeben hat, die sich über das beschwert haben, was in ihrem Landkreis los ist, dass dort sehr viel verbrannt wird, dass auch ungeeignetes Material dabei ist, sodass es sehr belastend war, wenn diese Feuer dort stattfanden. Diese belastend vielen Brenntage gab es. Darüber haben wir, glaube ich, gar nicht so richtig gestrit-ten. Interessant ist aber, dass die Brenntage grundsätzlich rückläufig waren. Es gab also durch-aus schon den Trend weg von den Brenntagen. Dieser positive Trend wird jetzt durch die Pflan-zenabfallverordnung unterstützt, indem es diese allgemeinen Brenntage nicht mehr gibt.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
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Bei dem zweiten Punkt, bei dem in Mengen anfal-lenden Strauchwerk, ist durch die Pflanzenabfall-verordnung ebenfalls eine gute Lösung gefunden worden. Jetzt gibt es die Möglichkeit, dass diejeni-gen, bei denen wirklich größere Mengen anfallen, auf Antrag das Verbrennen genehmigt bekommen können. Die Landwirte beispielsweise, die sich in meinem Landkreis liebevoll und vorbildlich um die Pflege der Wallhecken kümmern, sollte man mit diesen Mengen an Strauchwerk nicht alleinlassen. Dort gibt es die Möglichkeit, dass sie die Geneh-migung vom Landkreis bekommen, dieses Strauchwerk zu verbrennen. Sie sollen ja nicht dafür bestraft werden, dass sie wichtige Dinge für die Gemeinschaft tun.
(Miriam Staudte [GRÜNE]: Sehr ver-nünftig!)
Zu dem dritten Punkt, dem Brauchtumsfeuer, ha-ben wir erfahren, dass die Pflanzenabfallverord-nung dafür überhaupt nicht zutrifft. Bei einem Brauchtumsfeuer geht es nicht darum, Abfälle zu verbrennen, sondern das ist ein ganz anderer Punkt. Diese Brauchtumsfeuer werden von den Gemeinden gemäß SOG geregelt. Ich glaube, dass in allen Gemeinden auch in Zukunft ganz bürgernah das jeweilige Brauchtum unterstützt werden wird, sodass sich keiner Sorgen machen muss, dass er künftig kein Osterfeuer oder kein Lagerfeuer mehr abhalten darf.
(Beifall bei der SPD)
Insofern kann man sagen: Die Pflanzenabfallver-ordnung ist gut. Wir sollten denen danken, die sie so ausgearbeitet haben, und auch denen, die mit ihren Stellungnahmen dazu beigetragen haben, dass die Verordnung so gut gelungen ist.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Zum Schluss noch einige Worte zum FDP-Antrag. Die Wortwahl im ersten Absatz suggeriert, als ha-be die rot-grüne Landesregierung die Brenntage abgeschafft. Das ist nicht so, meine Damen und Herren. Die Vorgängerregierung hatte beschlos-sen, die Verordnung nach fünf Jahren, nämlich im Jahr 2014, auslaufen zu lassen.
(Gerd Ludwig Will [SPD]: Aha!)
Die ist ausgelaufen, und das ist gut so. Denn jetzt, meine Damen und Herren, kommt ja etwas Besse-res.
(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)
Im zweiten Abschnitt klagt die FDP, dass durch die Abschaffung der Brenntage die Kommunen ge-zwungen sind, Sammelstellen vorzuhalten. Das kommt jetzt nicht unbedingt durch die Abschaffung der Brenntage, sondern verstärkt durch das Kreis-laufwirtschaftsgesetz, das den Kommunen aufer-legt, ab 1. Januar 2015 Bioabfälle getrennt zu sammeln. Diese müssen ja irgendwohin. Deswe-gen braucht man diese Sammelstellen. Also trifft auch diese Behauptung überhaupt nicht zu, meine Damen und Herren.
Dann wird noch behauptet, dass die Belastung der Kommunen finanziell erheblich sein würde, wenn die Brenntage abgeschafft würden. Ich lade Sie ein: Besuchen Sie uns einfach mal im Landkreis Ammerland! Dort hat sich die Frage der Kosten sehr gut regeln lassen. - Übrigens werden nicht die Kommunen belastet; denn die Abfallentsorgung wird ja über Gebühren geregelt, die schlimmsten-falls von den Bürgern zu zahlen sind. Das ist zwar auch nicht gut, aber das kann man so hinbekom-men, dass die Bürger nicht belastet werden.
Bei uns gibt es in jeder Gemeinde Sammelstellen für Pflanzenabfälle, dreimal jährlich erfolgt die Strauchabfuhr, und es gibt sehr niedrige Gebüh-ren. Wenn Sie es mir nicht abnehmen, dann fragen Sie den Kollegen Nacke! Er war dabei. Das haben wir gemeinschaftlich im Kreistag beschlossen. Das haben wir zum Wohl der Bürger gut hinbekommen. Darauf sind wir auch sehr stolz.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt sehr gute Gründe, die alte Brennverordnung nicht wie-derzubeleben, wie es die FDP möchte. Ganz im Gegenteil, wir sind sehr froh über die bald vorlie-gende sehr gute Pflanzenabfallverordnung.
Den FDP-Antrag können wir wirklich nur ablehnen.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Frau Rakow. - Zu Ihrem Redebeitrag gibt es eine Kurzintervention des Kollegen Her-mann Grupe, FDP-Fraktion. Bitte!
(Christian Dürr [FDP]: Jetzt kommt der richtige ländliche Raum!)
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Hermann Grupe (FDP):
Vielen Dank, liebe Frau Präsidentin. - Frau Rakow, erst einmal vielen Dank für Ihr Lob, dass ich die Regelung, die wir im Kreis Holzminden hatten, so dargestellt habe.
Ohne Frage: Wenn wir vernünftig verwertbare Abfälle haben, dann wollen wir sie einer solchen Verwertung zuführen. Bei diesen Dingen, über die wir hier reden, handelt es sich aber oftmals nicht um Wertstoffe, denen man noch einen großen Wert abgewinnen könnte. Vielmehr geht es darum, dass im ländlichen Raum durch das aufwendige Verfahren des Sammelns mehr Energie verbraucht wird, als man im Zweifelsfall daraus gewinnen kann. Deswegen handelt es sich dabei nicht um eine höherwertige Verwertung, sondern um eine ökologisch unsinnige Verwertung, die den Men-schen einen großen Aufwand auferlegt.
Sie haben davon gesprochen, dass man in Aus-nahmefällen ja Genehmigungen beantragen könn-te. Außer dass dieses Verfahren bürokratisch ist, ist es auch sehr teuer. Damit ist es für die Bürger wenig praktikabel.
Ihr Hinweis, dass die rot-grüne Landesregierung diese Brenntage nicht abgeschafft habe, trifft leider gar nicht zu, Frau Rakow. Es war ein befristeter Beschluss über fünf Jahre. Ich finde, das sollte man viel häufiger tun. Bei den meisten Beschlüs-sen sollte man eine Befristung vornehmen, um nach zwei, drei oder in diesem Fall nach fünf Jah-ren zu überprüfen, ob ein solcher Beschluss über-haupt noch sinnvoll ist.
(Zuruf von der SPD: Das haben wir gemacht! - Glocke der Präsidentin)
Das heißt, dass man nach viereinhalb Jahren über-legt, ob man das weitermachen will und verlängert. Das ist der Sinn dieses befristeten Beschlusses gewesen.
(Christian Dürr [FDP]: Richtig!)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen!
Hermann Grupe (FDP):
Deswegen haben wir, weil wir davon überzeugt sind, folgerichtig beantragt, das weiterzuführen. Rot-Grün hat das aber abgeschafft.
(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU - Volker Bajus [GRÜNE]: Das stimmt nicht!)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Grupe. - Frau Rakow antwortet.
Sigrid Rakow (SPD):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Grupe, zu der Befristung: Genau das habe ich gesagt. Sie haben das befristet. Ich habe auch gesagt, dass das gut so war; denn jetzt bekommen wir etwas Besseres. Von daher haben wir durchaus Kon-sens.
(Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN - Christian Dürr [FDP]: Nein!)
Aber warum sollten wir etwas, was befristet ist, wiederbeleben, wenn wir von dem Inhalt überhaupt nicht überzeugt sind? - Das ergäbe gar keinen Sinn.
(Zurufe von der FDP - Unruhe - Glo-cke der Präsidentin)
Sie haben dann davon gesprochen, dass das Ver-fahren bürokratisch sei. - Das können Sie noch gar nicht wissen! Die Pflanzenabfallverordnung kommt erst in der nächsten Zeit. Darin wird stehen, dass die Landkreise die Möglichkeit haben, das Ganze auf Antrag zu genehmigen. Warum sollte es so bürokratisch sein, wenn man doch direkt beim Landkreis diese Genehmigung bekommen kann? Im Allgemeinen ist es doch durchaus bekannt, wer sich da kümmert, bei wem diese Pflanzenabfälle anfallen. Ich glaube, dass jeder Landkreis in der Lage ist, das Verfahren sehr kurz, gut und bürger-freundlich zu gestalten. Da habe ich schon Ver-trauen in die Landkreise - zumindest wenn ich an meinen Landkreis denke.
(Ulf Thiele [CDU]: Ortsbegehungen werden sie machen!)
- Sie hatten damals vielleicht das Problem, dass Sie die Kostenfrage nicht richtig haben regeln kön-nen. Möglicherweise gibt es woanders noch klüge-re Lösungen. Wir alle könnten uns ja mal austau-schen; dann helfen wir Ihnen gerne ein Stück wei-ter.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Frau Rakow. - Für die CDU-Fraktion hat nun Herr Kollege Thiele das Wort.
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Ulf Thiele (CDU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann über Details des FDP-Antrags streiten. Über den Kern würde ich ungern streiten. Aber im Zwei-fel müssen wir es ein letztes Mal tun, bevor Sie die neue Pflanzenabfallverordnung tatsächlich in Kraft setzen lassen.
Ihr Ansatz, nämlich wieder einmal etwas zu regeln, was das Land eigentlich nicht regeln müsste, ist grundverkehrt.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Es gibt einfach so unterschiedliche Situationen und Verhältnisse im Land, dass es keinen Sinn macht, die Entscheidung der Kommunen über die Frage, ob ein Brenntag notwendig sein könnte oder nicht, durch ein allgemeines und - ja, liebe Sigrid Ra-kow - am Ende selbstverständlich bürokratisches Verfahren zu ersetzen.
Völlig richtig: Die BrennVO bzw. die Regelung ist nach fünf Jahren ausgelaufen; das wussten alle Beteiligten. Denn es gab die generelle Regelung, dass jede Regelung nach fünf Jahren ausläuft und dann überprüft werden muss.
(Christian Grascha [FDP]: Sehr sinn-volle Regelung!)
Das darf aber nicht dazu führen, dass eine richtige Regelung nicht verlängert wird, sondern man sie auslaufen lässt und damit die Menschen zusätzlich belastet werden.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Ich will drei Punkte nennen, bei denen das der Fall ist, und vielleicht auch mit ein paar Vorurteilen aufräumen.
Das erste ist: Sigrid Rakow hat gerade wunderbar beschrieben, dass in Zukunft Landwirte, die Wall-hecken pflegen - das passiert bei uns in Ostfries-land übrigens auch sehr intensiv und sehr liebe-voll; das ist für den Naturschutz wichtig -, in Zu-kunft nicht mehr an den langfristig veröffentlichten Brenntagen ihrer Kommunen z. B. ihren Strauch-schnitt verbrennen können.
In Zukunft müssen sie vielmehr bei ihrem Land-kreis eine Genehmigung dafür beantragen, was im Zweifel dazu führt, dass sich ein Vertreter der unte-ren Naturschutzbehörde die Zeit nimmt, vorher vor Ort zu prüfen, ob das alles ordentlich ist, ob der Haufen gewendet wurde, ob Nester darin sind usw. Wir kennen das alles.
Es mag sein - das glaube ich sogar -, dass das bei diesem hervorragenden Landrat im Ammerland gut geregelt ist. Ich kenne aber auch andere Landkrei-se, bei denen man sich Sorgen machen darf, mei-ne Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Der zweite Punkt ist: Ich will einmal mit dem Vorur-teil aufräumen, dass ein Osterfeuer immer ein Osterfeuer nach Erlasslage ist. Es gibt natürlich überall im Land Osterfeuer, die ordentlich ange-meldet sind, die von Vereinen mit Schankerlaubnis und allem Drum und Dran betrieben werden.
Es gibt aber - zumindest bisher - auch noch andere Osterfeuer. Diese anderen Osterfeuer werden von Nachbarschaften im privaten Kreis veranstaltet. Bisher war es ein gängiges Verfahren, dass die Gemeinde an diesem Tag einen Brenntag ange-setzt hat, sodass es nicht notwendig war, dass jeder Nachbarschaftskreis eine aufwendige Ge-nehmigung bei der Gemeinde inklusive Schanker-laubnis mit allem Drum und Dran beantragen musste. Das hat man nach den Standards des Brenntages gemacht.
So ist viel Nachbarschaftspflege in Niedersachsen möglich gewesen. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Christian Dürr [FDP]: Sehr richtig! - Volker Bajus [GRÜNE]: Das ist doch Quatsch! Das ist doch gar nicht wahr!)
- Natürlich ist das so. In Zukunft muss man diesen Leuten sagen: Geht zu eurer Gemeinde, beantragt eine Genehmigung mit Schankerlaubnis, mit allem Drum und Dran, mit allen behördlichen Auflagen, die für ein Osterfeuer notwendig sind! - Herzlichen Glückwunsch! Sie werden erleben, dass das an-ders laufen wird. Sie kriminalisieren dann nämlich die Menschen, die das Ostern ohne diese Geneh-migung weitermachen werden.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Volker Bajus [GRÜNE]: Jetzt geht es aber zu weit! - Weitere Zurufe von den GRÜNEN - Unruhe - Glocke der Prä-sidentin)
Drittens will ich Ihnen noch von einem Gespräch, das ich vor einigen Monaten mit einer älteren Da-me aus meinem Wahlkreis geführt habe, berichten. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann einen Gar-tenbaubetrieb, den sie aufgegeben haben; sie
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machen privat noch einiges - allerdings weniger aufwendig.
Die Frau rief mich an, als sie davon hörte, dass die Brenntage abgeschafft werden sollen und es in Zukunft Strauchabfuhr mit Sammelplätzen usw. geben soll. Ich muss Ihnen sagen: Die Dame war verzweifelt. Sie sagte mir, dass sie das unter den neuen Bedingungen, von denen ihr der Landkreis mitgeteilt hat, dass sie im Gespräch seien, in Zu-kunft mit ihren über 70 Jahren mit ihrem Mann zusammen schlicht und ergreifend nicht mehr wür-de tun können. Damit würde ihnen ein Teil ihres Lebensinhalts genommen.
Sie dürfen, wenn Sie solche Regelungen treffen, nicht nur daran denken, wie Sie ideologisch auf Parteitagen darüber reden. Sie müssen manchmal auch darüber nachdenken, welche Wirkung das auf die Menschen in Niedersachsen hat.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Dann kommen Sie auf die Idee, dass ein Bürger-meister vor Ort die Dinge vielleicht besser regeln kann, als Sie das hier im Landtag oder Sie, Herr Minister, das am Kabinettstisch können.
Herzlichen Dank.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Thiele. - Für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen spricht jetzt Herr Kollege Bajus.
(Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Brauchst du auch eine Schankerlaubnis?)
Volker Bajus (GRÜNE):
Eine Sprecherlaubnis! Die habe ich jetzt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über diesen Antrag habe ich mich trotz des strittigen Inhalts wirklich gefreut. Denn hier kann man doch prima den Unterschied zwischen rot-grüner und schwarz-gelber Verantwortungs-übernahme erkennen.
(Zustimmung bei den GRÜNEN, bei der CDU und bei der SPD - Jens Na-cke [CDU]: Das ist wahr!)
Wenn wir als SPD und Grüne nämlich sagen: „Schluss mit der ungeordneten Kokelei!“, dann sorgen wir auch für bessere und gesündere Luft in diesem Land.
(Zustimmung bei den GRÜNEN - La-chen bei der FDP - Zurufe von der CDU: Oh! - Unruhe - Glocke der Prä-sidentin)
Was kommt dagegen von Ihnen? - Nichts außer heißer Luft und Nebelkerzen. Das ist der Gesund-heit nun wahrlich abträglich, meine Damen und Herren.
(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD - Jens Nacke [CDU]: Ma-chen Sie nur so weiter!)
Frau Rakow hat es doch schon gesagt: Ihre alte Verordnung ist ordnungsgemäß ausgelaufen. Und was tut man dann? - Man schaut sich an, wie sich die Situation seitdem geändert hat, ob sich die Verordnung bewährt hat.
Genau das haben wir getan. Wir haben die Situati-on analysiert und festgestellt, dass sie sich eben nicht bewährt hat. Und es zeigt sich: Wir müssen etwas tun, und zwar nicht nur mit Blick auf die Verwertungsebene und die rechtliche Situation auf Bundesebene, sondern auch, weil das Verwal-tungsgericht Hannover uns gesagt hat: Die Zuläs-sigkeit der alten Verordnung ist nicht mehr gege-ben. - Sie ist bereits 2012 bestritten worden. Was haben Sie daraus gemacht? - Nichts! Das kennen wir ja schon.
(Zustimmung bei den GRÜNEN)
Ich will an dieser Stelle vorweg betonen, Herr Thie-le - denn Sie versuchen hier doch gezielt, die Leu-te gegen eine sinnvolle Regelung aufzubringen -: Kulturelle Kollateralschäden sind nicht zu erwarten. Brauchtumsfeuer bleiben von der neuen Regelung gänzlich unberührt, soweit es tatsächlich um Brauchtum und eben nicht um die Entsorgung von Pflanzenabfällen geht.
(Christian Dürr [FDP]: Also gegen die Nachbarschaft! - Weitere Zurufe von der FDP - Unruhe - Glocke der Präsi-dentin)
Ob Oster-, Mai-, Johannis- oder Mitsommernachts-feuer - die Gemeinden haben weiterhin die Mög-lichkeit, das Abbrennen dieser Brauchtumsfeuer zu regeln.
(Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Herrn Thiele geht es um die Schankerlaubnis!)
Was daran ist, bitte, eine Kriminalisierung der Leu-te? - Ich finde diese Wortwahl unglaublich.
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(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD - Helge Limburg [GRÜ-NE]: Unverschämtheit!)
Osterfeuer bleiben erlaubt, es sei denn die Kom-mune möchte dies zur Sicherung der Lebensquali-tät und übrigens auch des nachbarschaftlichen, friedlichen Einvernehmens der Menschen in ihrem Hoheitsbereich nicht.
(Jens Nacke [CDU]: Sie haben keine Ahnung!)
Meine Damen und Herren, mit Kohlenmonoxid, Essigsäure, Phenolen, Methanol, Formaldehyd, PAKs wie Benzo[a]pyren, ja, mit Feinstaub, Ruß und Teer ist nicht zu spaßen. Sie begünstigen Krankheiten wie Asthma, Herz-Kreislauf-Be-schwerden oder Krebs. Die ordnungsgemäße Ent-sorgung von Abfällen ist daher ein Gebot der Ver-nunft und gesundheitspolitischer Auftrag für die Politik - ein Auftrag, vor dem Sie sich offensichtlich drücken wollen.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Bajus, lassen Sie eine Frage des Kollegen Thiele zu?
Volker Bajus (GRÜNE):
Aber selbstverständlich. Wahrscheinlich möchte er das jetzt zurücknehmen.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Bitte schön, Herr Kollege!
Ulf Thiele (CDU):
Nein, Herr Bajus, ich will nur sicherstellen, dass Ihnen klar ist, dass Sie mit der gleichen Begrün-dung genauso Kaminfeuer, offenes Feuer in einem Grill oder ein kleines Indianerfeuer der Kinder ver-bieten könnten; denn dort werden die gleichen Stoffe freigesetzt.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Stellen Sie bitte eine Frage, Herr Kollege!
Ulf Thiele (CDU):
Ich möchte nur fragen, ob Herrn Bajus das be-wusst ist.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Volker Bajus (GRÜNE):
Herr Thiele, vielen Dank für diese Frage; denn sie zeigt einmal mehr, dass Sie sich mit diesem The-ma inhaltlich nicht beschäftigt haben.
Niemandem in diesem Land - das gilt nicht nur für Niedersachsen, sondern überall - ist es untersagt, mit entsprechend gut abgelagertem Holz - das also explizit dafür aufbereitet und vorbereitet ist - ein Lagerfeuer zu machen. Das können Sie jederzeit tun. Das ist auch genehmigungsfrei. Darüber müs-sen Sie auch nicht mit Ihrer Behörde reden.
Wenn ich mich recht erinnere, ist es einmal mehr Schwarz-Gelb gewesen, die die Bestimmungen für Kaminfeuerungsanlagen verschärft haben. Kamin-feuer werden, wenn sie nicht zukünftig Filter ent-halten, auch kriminalisiert. Das ist eine Regelung, die von Ihnen auf Bundesebene eingeführt worden ist - um bei Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben.
Herr Thiele, mit Ihrer Frage haben Sie sich selber disqualifiziert. Das zeigt: Sie wissen nicht, wovon hier die Rede ist.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Christian Dürr [FDP]: Nein, Sie disqualifizieren sich mit Ihrer Rede!)
Meine Damen und Herren, hinzu kommt, dass sich die Verwertung von Pflanzenabfällen - das ist doch der entscheidende Punkt - erheblich verändert hat. Die Bedeutung der Verwertung hat zugenommen: sei es als Kompost - übrigens auch als Ersatzstoff in Bezug auf das Thema Substrate, Torf usw. -, sei es als erneuerbare Energie.
Das Verbrennen von Pflanzenabfällen ist doch nicht nur gesundheitsschädlich, es ist auch wirt-schaftlich falsch. Immer mehr Gebietskörperschaf-ten, Landkreise und kreisfreie Städte haben das erkannt. Das sieht man im Lande auch so. Oder wie können Sie sich erklären, dass die Umfrage des Umweltministeriums ergeben hat, dass mehr als 80 % der unteren Abfallbehörden gesagt ha-ben: Wir sehen keinen Bedarf mehr für die Kokelei, die Sie hier so hoch halten.
Auch die Mehrheit der Gemeinden sieht das so. Dem entspricht doch, dass die Zahl der Brenntage de facto zurückgegangen ist, weil die Leute vor Ort keinen Streit und keine ungeordnete Verbrennung mehr wollen. Sie wollen sich auch nicht mehr ge-genseitig der Gefahr aussetzen, die damit verbun-den ist. Hinzu kommen noch die Nachbarschafts-streitigkeiten. Auch derer ist man vielerorts über-drüssig.
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Meine Damen und Herren, die Abschaffung der Brenntage ist sachlich geboten und rechtlich zwin-gend. Mit der Pflanzenabfallverordnung zeigt Rot-Grün einmal mehr: Gesundheits- und Umwelt-schutz haben bei uns Vorfahrt. - Bei Ihnen offen-sichtlich nicht.
Trotzdem: Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Jens Nacke [CDU]: Verbotspartei!)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. Herr Kollege Bajus, auch auf Sie gibt es eine Kurzintervention des Kollegen Grupe.
Hermann Grupe (FDP):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege Bajus, ich muss Ihnen in einem Punkt ausdrücklich recht geben: Die Unterschiede zwischen Ihnen und Schwarz-Gelb werden hier wirklich sehr deutlich.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU)
Herr Kollege Bajus, wenn Sie das Verbrennen von Abfällen als unkontrollierte Kokelei diffamieren, dann zeigt das, wie sehr Sie den Menschen miss-trauen.
Wir haben hier gehört, dass man Anträge stellen kann. Wenn erst ein Beamter oder ein Angestellter einer Behörde das Ganze begutachtet hat, am besten noch vor Ort noch die Hecken oder was auch immer besichtigt - der Kollege hat das eben beschrieben -, dann ist das für Sie in Ordnung. Sie brauchen also Verordnungen und Gesetze. Die Menschen müssen eingeschränkt und kontrolliert werden. Dann besteht vielleicht die Möglichkeit, dass das genehmigt wird. - Hier besteht der grund-sätzliche Unterschied.
Sie haben hier so plastisch beschrieben, wie schlimm es ist, wenn Zweige verbrannt werden, welche Schadstoffe angeblich dabei entweichen. Dann könnte ich jetzt anschließen und versuchen, zu beschreiben, wie viele Abgase in die Luft ent-weichen und wie viel Energie verbraucht wird, wenn jemand ein paar Tütchen mit Grüngut in seinem Kofferraum zur Sammelstelle fährt und wenn dann ein 500-PS-Schredder die Zweige zer-kleinert. Ich würde Sie gerne einmal in den Ab-gasstrom eines solchen Schredders stellen.
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und bei der CDU)
- Nur kurzfristig, um einmal den Genuss, einen Eindruck davon zu haben. Das sollte aber bitte sehr keine Attacke sein! Wenn wir auf diesem Ni-veau diskutieren, dann wird es eng.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Sie müssen zum Schluss kommen!
Hermann Grupe (FDP):
Ich bin fertig.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. Herr Kollege Bajus antwortet Ihnen. - Alle anderen bitte ich um ihre Aufmerksamkeit.
Volker Bajus (GRÜNE):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Grupe, angesichts der fortgeschritte-nen Zeit gehe ich nicht noch einmal auf das ein, was Sie gesagt haben. Sie haben sich nur wieder-holt.
Ihre Einladung nehme ich explizit nicht an, aber ich lade Sie dafür ganz herzlich ein: Kommen Sie zu uns zum Lagerfeuer mit anständigem Kaminholz, trocken abgelagert, einigermaßen rauchfrei! Dann backen wir gemeinsam Stockbrot. Das macht mehr Spaß, als uns den Abgasen auszusetzen. Ich glaube, die bekommen Ihnen genauso wenig wie mir. Im Übrigen haben auch Sie ein Interesse da-ran, dass die Menschen gesunde Luft einatmen und gutes Stockbrot essen.
Vergessen wir also dieses Thema! An diesem Punkt war es dann doch etwas unsachlich.
Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. Ich hoffe, die Einladung auf ein Stockbrot gilt für uns alle.
(Heiterkeit)
Nun hat das Wort für die Landesregierung Herr Umweltminister Wenzel. Bitte!
(Zuruf von der SPD: Noch ein Tütchen im Kofferraum?)
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz:
Meine Damen und Herren! Es ist schon immer wieder erstaunlich, welche Diskussionen dieses Thema auslöst. Ich schlage vor, dass wir bei die-sem Thema die Kirche im Dorf lassen. Ich für mei-
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nen Teil freue mich schon auf das Osterfeuer bei mir im Dorf. Das ist ein ziemlich unbürokratischer Akt.
(Dr. Stefan Birkner [FDP]: Aber da gibt es ganz schön viele Schadstoffe!)
Das organisiert die Feuerwehr. Wenn es das bei Ihnen im Dorf nicht gibt, dann empfiehlt es sich, mit dem Ortsbürgermeister oder mit dem Brandmeister vor Ort zu sprechen. Dann wird das sicherlich zu organisieren sein.
Diese Angelegenheit hat mit der Pflanzenabfall-verordnung gar nichts zu tun. Die Brauchtumsfeuer sind davon schlicht und einfach nicht erfasst; zu-mindest solange dabei keine Autoreifen verbrannt werden. Aber das versteht sich ja auch von selbst.
(Jens Nacke [CDU]: Das ist wieder so eine typische überflüssige Bemer-kung!)
Meine Damen und Herren, was mich ansonsten wundert, ist, dass die Parteien, die das Kreislauf-wirtschaftsgesetz mit auf den Weg gebracht ha-ben, sich jetzt bei der Umsetzung so schwer tun. Zum einen haben Sie selber die alte Verordnung befristet. Zum Zweiten haben Sie noch während Ihrer Regierungszeit erlebt, dass ein Gericht Ihre alte Verordnung infrage gestellt hat. Zum Dritten haben Sie eine neue Rechtsgrundlage auf Bun-desebene beschlossen. Das führt dazu, dass in Zukunft eine neue Regelung notwendig ist. Wir haben dabei Wert darauf gelegt, dass z. B. auch eine Reduzierung von Gesundheitsbelastungen erfolgt, die nicht nur für Asthmatiker teilweise un-zumutbare Belastungen verursacht haben.
Der Normalfall, Herr Grupe, ist wahrscheinlich für die meisten Menschen, dass sie den Komposthau-fen im Garten nutzen; das empfiehlt sich. Andere nutzen die öffentlich-rechtlichen Erfassungssyste-me, die heute für Grünabfälle in allen Landkreisen und kreisfreien Städten angeboten werden. Wo das gar nicht geht, da haben wir Ausnahmerege-lungen geschaffen. Wir haben unbürokratische Ausnahmeregelungen z. B. im Bereich der Forst geschaffen, wo es nur eine Anzeigepflicht gibt. Auch dort, wo es technisch oder wirtschaftlich völ-lig unzumutbar ist, gibt es Lösungen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist ein Weg, der am Ende, weil er so flexibel ist, auch dazu führen wird, dass wir eine Regelung finden, die breit akzeptiert wird; da bin ich mir relativ si-cher. Herr Bajus hatte auf unsere Umfrage verwie-sen, die wir im Vorfeld durchgeführt haben. Wir haben zweimal eine Anhörung durchgeführt und haben dabei versucht, alle Eingaben und Stellung-nahmen zu berücksichtigen. Insofern freue ich mich, dass es gelungen ist, eine neue Regelung auf den Weg zu bringen, die die Vorgaben des europäischen Rechts und des deutschen Bundes-rechts berücksichtigt und die vor Ort flexibel umge-setzt werden kann. Ich hoffe, dass sich das in der Praxis bewährt.
Herzlichen Dank für das Zuhören.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Minister. - Für die CDU-Fraktion hat nun der Herr Kollege Nacke das Wort. Sie haben eine Restredezeit von zwei Minuten.
Jens Nacke (CDU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, mir ist eben schon bei Herrn Bajus aufgefallen - ich habe den Eindruck, bei Ihnen ist das genauso -: Ich glaube, wir haben schlicht und einfach völlig unterschiedliche Szenarien im Kopf.
(Anja Piel [GRÜNE]: Unbestritten!)
Wenn wir an diese Brenntage denken, dann den-ken wir an die Menschen, die die Kulturlandschaft pflegen - häufig genug Landwirte -, Menschen, die Resthöfe bewirtschaften oder gekauft haben, die Sturmschäden beseitigen müssen, die Hecken-pflege betreiben; Herr Kollege Thiele hat das be-schrieben. Das muss mit dem Frontlader zusam-mengefahren werden. Eine andere Entsorgung, als das zu verbrennen, ist schlicht und einfach nicht möglich.
Sie dagegen haben Leute im Kopf, die ihre Abfälle genauso gut auf den Komposthaufen werfen könn-ten, die in der Siedlung wohnen, dort das alte Laub verbrennen und damit dem Nachbarn das Leben zur Hölle machen.
Das sind völlig unterschiedliche Ansätze. Die Leu-te, die wir im Blick haben und die wir vor Ihrer Ver-ordnung schützen wollen, auch im Ammerland - - -
Liebe Kollegin Rakow, ich habe da einige im Kopf. Ich habe auch einige in dieser Frage gesprochen, die zukünftig zum Landrat müssen. Unser Landrat wird das einigermaßen unbürokratisch hinbekom-men - da bin ich allerdings zuversichtlich -, wie wir alles im Ammerland einigermaßen unbürokratisch hinbekommen.
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(Beifall bei der CDU und bei der FDP sowie Zustimmung bei der SPD)
Aber andere werden große Schwierigkeiten haben. Genau denen machen Sie jetzt Probleme. Das wollen Sie nicht erkennen, weil Sie eine andere Sicht auf die Menschen haben, weil Sie Landwirte grundsätzlich als Gegner sehen und den Feuer-wehren noch eben unterstellen, dass sie doch noch einen Reifen drunterschieben, um das Feuer in Gang zu bringen.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Johanne Modder [SPD]: Abenteuer-lich!)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. - Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung.
Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der FDP in der Drucksache 17/1324 ablehnen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthal-tungen? - Das Erste war die Mehrheit.
Ich rufe auf den
Tagesordnungspunkt 13: Abschließende Beratung: Förderung von Brennstoffzellen als Zukunfts-technologie für eine hocheffektive Wärme- und Stromversorgung im Gebäudesektor - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/1975 - Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Energie und Klimaschutz - Drs. 17/2731
Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag abzu-lehnen.
Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.
Ich eröffne die Beratung. Das Wort hat für die CDU-Fraktion Herr Kollege Miesner. Bitte!
Axel Miesner (CDU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir von der Energiewende - - -
(Unruhe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Einen Moment, bitte, Herr Miesner, bevor Sie be-ginnen! Kollegen und Kolleginnen von Ihnen, die nicht der Debatte folgen möchten, bitte ich, den Plenarsaal zu verlassen, sodass hier etwas Ruhe einkehrt. - Das ist der letzte Tagesordnungspunkt. Also konzentrieren wir uns alle noch einmal!
Axel Miesner (CDU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten - - -
(Anhaltende Unruhe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Miesner, wir warten noch einen Moment.
Axel Miesner (CDU):
Meine Damen und Herren! Wenn wir von der Energiewende sprechen, dann ist es am Ende die Stromwende, die diskutiert wird. Dies ist allein der Tatsache geschuldet, dass wir die Stromerzeu-gung aus Kernkraft und fossilen Energiearten auf die erneuerbaren Energien umstellen. Soll aber die Energiewende gelingen, dann genügt es nicht, allein auf die Stromerzeugung zu setzen. Vielmehr müssen wir dann auch den Wärmesektor in den Blick nehmen.
So nimmt beispielsweise in einem Privathaushalt die Raumwärme mit ca. 70 % den größten Teil des Energieverbrauchs ein. Wenn uns also die Ener-giewende gelingen soll, dann müssen wir uns auch Gedanken machen, wie wir in Zukunft neben der Stromversorgung auch die Wärmeversorgung ge-stalten wollen. Nur abzuwarten und abzulehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, kann hier nicht die Aufgabe sein.
Es geht darum, den CO2-Ausstoß zu verringern, es geht darum, veraltete Heizungsanlagen zu erset-zen, es geht darum, durch eine dezentrale Kopp-lung der Strom- mit der Wärmeerzeugung das Verteilnetz zu entlasten, und es geht letztlich da-rum, die gemeinsam formulierten Klimaziele zu erreichen.
Wir von der CDU-Fraktion wollen, dass Nieder-sachsen als Energieland Nummer eins auch bei der Brennstoffzelle vorangeht. Brennstoffzellen, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben den großen Vorteil, dass die gasbasierte Strom- und Wärmeerzeugung dezentral erfolgt. Dezent-ral - zu Hause - können damit Strom und Wärme umweltfreundlich erzeugt werden.
Zudem zeichnen sich die Mikro-KWK-Anlagen dadurch aus, dass sie an 365 Tagen den Grund-bedarf an Strom und Wärme liefern und so das Verteilnetz entlasten. Sie stabilisieren das Netz
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und können bei entsprechender Vernetzung Teil eines virtuellen Kraftwerkes sein.
Da Strom und Wärme genutzt werden, wird ein Wirkungsgrad von ca. 90 % erzielt. Noch dazu können Brennstoffzellen mit synthetischem Gas betrieben werden, das mit überschüssigem Wind-strom in Power-to-Gas-Anlagen unter Ergänzung von CO2 erzeugt wird. Insgesamt also eine rich-tungsweisende und sinnvolle Technologie.
(Zustimmung von Martin Bäumer [CDU])
Sie von SPD und Grünen meinten im Ausschuss, der Bund müsse hier aktiv werden. Wenn Sie sich richtig informiert hätten, dann müssten auch Sie zugeben, dass der Bund die Brennstoffzellentech-nologie bereits in vielen Projekten und Maßnah-men unterstützt hat. Ergänzend darf ich auf die Aktivitäten der Nationalen Organisation Wasser-stoff- und Brennstoffzellentechnologie der Bundes-regierung hinweisen.
Wenn Sie wirklich wollen, dass diese Technologie vom Bund unterstützt wird, warum richten Sie Ihren Appell dann nicht an unseren Bundesenergieminis-ter? Soviel ich weiß, gehört dieser der SPD an.
Wenn Sie - diesen Eindruck haben Sie im Aus-schuss vermittelt - Kontakt zu dem SPD-Mitglied Sigmar Gabriel nicht herstellen wollen oder viel-leicht auch nicht mehr herstellen können, dann schauen Sie doch einfach in andere Bundesländer! Schauen Sie nach Baden-Württemberg, schauen Sie nach Hessen, schauen Sie nach Nordrhein-Westfalen, schauen Sie nach Sachsen - alles Län-der mit Regierungen, an denen SPD- bzw. Grü-nen-Politiker beteiligt sind! Überall finden Aktivitä-ten statt bzw. werden diese gestartet. Wollen Sie wirklich, dass das Energieland Nummer eins hier außen vor ist und anderen die Vorreiterrolle über-lässt? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein!
(Zustimmung bei der CDU)
Unverständlich ist daher die plumpe Ablehnung unseres Antrages im Ausschuss. Einfach dagegen zu stimmen, ohne sich konstruktiv mit dem Inhalt auseinanderzusetzen,
(Volker Bajus [GRÜNE]: Na, na, na! Wohlbegründet und abgewogen!)
ist zu wenig für die Fraktionen, Herr Bajus, die eine Regierung stellen wollen. Mitarbeiten heißt auch, sich Gedanken zu machen, wie auch diese Tech-nologie bei uns in Niedersachsen gefördert und unterstützt werden kann. Wo bleiben Ihre Hinwei-se? Wo bleiben Ihre Änderungsvorschläge? - Sie bleiben leider aus. Sie verlieren sich da im Nichts. So wird die Energiewende hier in Niedersachsen bestimmt nicht gelingen. Es gilt auch hier: Anpa-cken statt ablehnen!
Orientieren Sie sich an Erich Kästner, der nach dem Motto gehandelt hat: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU und bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Miesner. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Bajus. Bitte!
Volker Bajus (GRÜNE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Schluss des heutigen Plenums reden wir über Wärme. Das klingt doch gleich nach ei-nem etwas versöhnlicheren Tagesabschluss.
(Zurufe von der CDU: Oh!)
Nun geht es hier allerdings nicht - um Sie gleich zu enttäuschen - so sehr um menschliche Wärme, auch wenn ich gegenüber dem Kollegen Miesner doch ankuschelnd eingestehen muss, dass wir in Bezug auf das Ziel Übereinstimmung haben.
Es gibt keine Energiewende ohne Wärmewende, ohne Modernisierung und neue Technologien.
(Martin Bäumer [CDU]: Aha!)
Deswegen ist die Forderung, die unsere Landes-regierung zuletzt gemeinsam mit dem Handwerk an den Bund gerichtet hat, absolut richtig: die Fi-nanzierung der steuerlichen Absetzbarkeit von Wärmesanierungen. Das wäre in der Tat gut fürs Klima und zugleich ein wirksames Konjunkturpro-gramm.
Viele Heizgeräte im Gebäudebestand sind überal-tert. Sie belasten die Umwelt und die Geldbeutel der Verbraucherinnen und Verbraucher gleicher-maßen. Wir brauchen hierfür dezentrale und ener-gieeffiziente Lösungen.
Deswegen hat sich Niedersachsen der Förderung der Entwicklung neuer Technologien, insbesonde-re im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung, und eben auch der Brennstoffzellentechnik angenom-men. So sind die Forderungen 2 und 3 des von Ihnen vorgelegten Antrages doch längst umge-setzt. Das hätten Sie durchaus aus dem Aus-schuss mitnehmen können. Brennstoffzellen sind
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doch schon Bestandteil der Landesinitiative Ener-giespeicher und -systeme. Und in Oldenburg, in Clausthal-Zellerfeld, in Hannover, in Osnabrück und andernorts in Niedersachsen wird an dieser Technologie erfolgreich gearbeitet.
Meine Damen und Herren, Rot-Grün steht hinter diesen Projekten. Wir sind den engagierten Inge-nieuren dankbar für ihre Arbeit. Der CDU sind wir dafür dankbar, dass sie das offensichtlich genauso sieht und uns sogar dafür lobt.
Nun fordert die CDU zudem, die Markteinführung von Brennstoffzellenheizgeräten im Endkundenbe-reich zu unterstützen.
(Martin Bäumer [CDU]: Ja!)
Das wäre die Förderung einer ganz bestimmten von vielen möglichen klimaschonenden Techniken zur Hauswärmeproduktion, und es wäre die Förde-rung weniger Gerätehersteller, von denen leider keiner in Niedersachsen sein Zuhause hat.
(Martin Bäumer [CDU]: Ist das ein Ar-gument?)
Meine Damen und Herren, dies entspricht zum Glück nicht unserer Förderpolitik. Effizienz gilt bei uns nicht nur in technischen Belangen, sondern auch für den Einsatz von Fördermitteln. Wir geben die Förderziele vor, nicht aber, auf welchem Weg diese Ziele erreicht werden sollen.
Meine Damen und Herren, Politik sollte doch nicht glauben, schlauer zu sein als die vielen Ingenieure und Kaufleute in unserem Land, und sich nicht auf die eine Zukunftstechnik festlegen.
(Zustimmung bei den GRÜNEN - Hel-ge Limburg [GRÜNE]: Richtig!)
Was wir brauchen, sind ein fairer Wettbewerb der besten Ideen und Köpfe sowie transparente und gerechte Marktbedingungen.
Meine Damen und Herren, wir setzen Fördergelder dafür ein, niedersächsische Unternehmen in der Forschung und Entwicklung gezielt zu unterstüt-zen, und verschütten sie nicht mit der Gießkanne andernorts. So geht gute Förderpolitik. Das müss-ten eigentlich auch Sie verstehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. - Für die FDP-Fraktion Herr Dr. Ho-cker.
Dr. Gero Hocker (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir alle sind uns hier in diesem Hohen Hause darüber einig, dass die Brennstoffzellentechnologie ein wichtiger und sinnvoller Baustein für das Gelingen der Energie-wende ist. Schnelle Regelbarkeit ermöglicht es, dass Brennstoffzellen immer dann eingeschaltet werden, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Gerade auch bei gasbasierten Tech-nologien kann Brennstoffzellentechnik sehr effi-zient eingesetzt werden.
Ich sage Ihnen aber auch: Ich habe schon meine Bauchschmerzen mit dem Umstand, dass in dem Antrag ursprünglich formuliert gewesen ist, dass ein öffentliches Förderprogramm auf den Weg gebracht soll, um dieser Technologie zum Durch-bruch zu verhelfen.
Landauf, landab gibt es in Niedersachsen eine Vielzahl von mittelständischen Unternehmen, die auch sinnvolle, tolle Ideen haben, die innovativ sind und sich Gedanken darüber machen, wie die fehlenden Bausteine bei der Energiewende, näm-lich gerade das Thema Regelbarkeit, gerade das Thema Transport, gerade das Thema Speiche-rung, gelöst werden können. Ich halte es für nicht richtig, wenn sich Politik eine dieser Lösungsmög-lichkeiten herausgreift und diese Entscheidung trifft, die eigentlich durch einen Markt getroffen werden müsste, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der FDP)
Auch wenn es sich hierbei ja wohl um eine einma-lige Förderung mit eingebauter Degression han-deln sollte, bin ich skeptisch, ob solche Instrumen-te tatsächlich einer Technologie zum Durchbruch verhelfen können, die ohnehin anderen alternati-ven Technologien überlegen ist.
Das EEG macht es vor: Trotz aller Degression und Versuche, staatlich garantierte Preise zu reduzie-ren, ist der ganz große Wurf, fixe Einspeisevergü-tungen abzuschaffen, noch niemandem gelungen. Wie auch? - Die Interessenvertretungen in dem Bereich sind bestens ausgestattet und versuchen, auf Politik Einfluss zu nehmen.
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Deswegen sage ich ganz deutlich: Kein neues EEG; die Probleme des alten EEG sind groß ge-nug; deswegen auch kein staatlich finanziertes Anreizprogramm oder Markteinstiegsprogramm oder wie auch immer man es am Ende nennen möchte, auch nicht für eine so sinnvolle Technolo-gie wie die Brennstoffstellentechnik. Stattdessen, meine sehr verehrten Damen und Herren, Mittel für Forschung und Entwicklung, die die Akzeptanz erhöhen und Kontakte knüpfen. Dauerhaft ist jeder Technologie hiermit der größte Nutzen gespendet, auch der Brennstoffzellentechnologie.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat nun Herr Kollege Becker das Wort.
Karsten Becker (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Miesner, ich hätte jetzt in der Tat etwas weniger Anlass für Aufgeregtheiten gesehen; denn wie schon festgestellt worden ist, sind wir uns zu den meisten Punkten und in der Problembeschreibung durchaus einig, z. B. darin, dass der Erfolg der Energiewende natürlich auch davon abhängt, ob es uns gelingt, die Lastspitzen im Winter durch Effizienzsteigerung, aber auch durch intelligente Technik auszugleichen.
Rund 35 % des Endenergieverbrauchs in Deutsch-land werden für Beleuchtung, für die Warmwasser-versorgung und für die Beheizung von Gebäuden aufgewandt. Von den rund 18 Millionen Gebäuden, die wir in Deutschland haben, wurde der größte Teil vor 1978 gebaut, also vor Inkrafttreten der ersten Wärmeschutzverordnung. Nicht nur die Gebäude, sondern auch die verwendeten Heiz-techniken sind veraltet und häufig wenig effizient. Es soll in Deutschland 3,4 Millionen Heizungskes-sel geben, die älter als 24 Jahre sind und durch moderne Technik ersetzt werden müssen.
Kraft-Wärme-Kopplung ist in der Tat, auch gern in Form von Brennstoffzellen, eine durchaus zu-kunftsfähige Lösung. Indem Kraft-Wärme-Kopp-lung den Grundlastbedarf an Strom in Gebäuden deckt, ersetzt sie Strom aus fossil befeuerten zent-ralen Kraftwerken und leistet so einen Beitrag zur Energiewende. Darum ist die Brennstoffzellen-technologie natürlich auch eines der wesentlichen Handlungsfelder der Landesinitiative Energiespei-cher und -systeme. Insofern, Herr Miesner, ist die Forderung in Ihrem Antrag obsolet, weil schlicht schon Bestandteil dieser Initiative.
Allerdings gibt es in der Tat Hemmnisse in der Marktintegration der Brennstoffzellentechnik. Das aktuell größte Hindernis für die erfolgreiche Markteinführung von Mikro-Brennstoffzellen-Block-heizkraftwerken wird in der Kosten-Nutzen-Analy-se, im Kosten-Nutzen-Verhältnis für den Kunden gesehen.
Die Investitionsbelastungen liegen mit gut 20 000 Euro für eine vollständig installierte Brennstoffzelle deutlich über dem Niveau der Installation einer Gasbrennwerttherme mit solarthermischer Ergän-zung und sind doppelt so hoch wie für eine elektri-sche Wärmepumpe.
Um eine BHKW-Brennstoffzelle für ein Einfamili-enhaus wirtschaftlich konkurrenzfähig zu machen, müsste sie mit 6 000 Euro gefördert werden. Das, meine Damen und Herren, ist eine Menge Geld. Ich glaube, schon daran wird deutlich, wie viele Mittel in diesen Bereich gesteckt werden müssten, um nennenswerte Förderanreize für eine sehr spezifische technische Lösung, für die es durchaus Alternativen gibt, erzielen zu können.
Die Sinnhaftigkeit einer landespolitischen Förde-rung von Brennstoffzellen-Blockheizkraftwerken muss unseres Erachtens an drei Kriterien festge-macht werden: an den Auswirkungen auf die Energieeffizienz und die Treibhausgasemissionen, an den wirtschaftspolitischen Effekten, insbeson-dere Technologieförderung und Stärkung der For-schungsanwendung, und an den Auswirkungen auf die Arbeitsplatzsituation und die Wirtschafts-förderung.
Zu Energieeffizienz und Treibhausgasemissionen lässt sich feststellen, dass diese Effekte auch durch andere BHKW-Techniken erreicht werden können.
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Herr Kollege Becker, lassen Sie eine Frage des Kollegen Bäumer zu?
Karsten Becker (SPD):
Ja, bitte!
Martin Bäumer (CDU):
Herr Kollege Becker, können Sie mir vor dem Hin-tergrund, dass die Personalkosten für die Klima-schutzagentur 2 Millionen Euro betragen und Sie vorhin gesagt haben, dass man eine Brennstoffzel-
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le mit 6 000 Euro fördern müsste, einmal ausrech-nen, wie viele Brennstoffzellen man mit diesen 2 Millionen Euro finanzieren könnte?
(Zustimmung bei der CDU - Andrea Schröder-Ehlers [SPD]: Ein Taschen-rechner hilft, Herr Kollege! - Weitere Zurufe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. - Bitte!
Karsten Becker (SPD):
Wir haben ein Interesse daran, dass wir in der Breite des Landes möglichst viel Förderung im Hinblick auf die Verminderung von Treibhaus-gasemissionen hinbekommen und die Möglichkei-ten regenerativer Energieerzeugung vor Ort ganz breit ausschöpfen. Dazu brauchen wir Beratung vor Ort. Dazu brauchen wir Unterstützung von zum Teil sehr kleinen Initiativen auf Landkreisebene. Unsere Beratungsstelle, die wir auf Landesebene angeordnet haben, hilft dazu ganz enorm und be-wirkt damit mit Sicherheit ein Vielfaches dessen, was Sie mit einer Brennstoffzellentechnologieför-derung von 6 000 Euro im Einzelfall auch nur an-satzweise hinbekommen könnten.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Ich möchte auf den Punkt kommen. Bis dahin sind wir uns einig, dass man das alles machen könnte. Aber positive Auswirkungen auf die Arbeitsplatzsi-tuation sind für Niedersachsen von einer Förde-rung der Brennstoffzellentechnologie schlicht nicht zu erwarten.
Im Gegensatz zu anderen Bundesländern, die angesprochen worden sind und die tatsächlich Förderungen leisten, gibt es in Niedersachsen keine Hersteller derartiger Komplettgeräte.
Insofern müsste jemand, der das fordert, an dieser Stelle auch erklären - so meine jedenfalls ich -, warum er mit unseren Landesmitteln eine massive Wirtschaftsförderung in anderen Bundesländern betreiben wollte. Wir wollen das nicht.
Meine Damen und Herren, dass die Markteinfüh-rung von Mikro-Brennstoffzellen-BHKW auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen durchaus funktioniert, zeigt das Beispiel des Energieversor-gers EWE, der über ein Contracting-Modell für 200 Brennstoffzellen-BHKW in seinem Vertriebsgebiet Nordwestniedersachsen mittlerweile die bundes-weit höchste Dichte an Brennstoffzellenheizgerä-ten erreicht hat. Offensichtlich sind die Fördergel-der aus dem Nationalen Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie doch nicht so wirkungslos.
Außerdem sind mit Jahresbeginn weitere Bundes-fördermittel aus einer neuen Mini-KWK-Richtlinie zur Förderung von Anlagen bis 20 kW elektrische Leistung in Kraft getreten. Zukünftig wird es 1 900 Euro für die erste installierte Kilowattstunde elektri-sche Leistung geben. Bis 4 kW kommen 300 Euro Zuschuss je Kilowatt hinzu. Zusätzlich zu dieser Basisförderung gibt es noch verschiedene Boni. Die Bonusförderung „Stromeffizienz“ wird u. a. für Anlagen bis 4 kW elektrischer Leistung gewährt, deren elektrische Wirkungsgrade über 31 % liegen. In dieser Leistungsklasse werden diese Werte übrigens nur durch Brennstoffzellen erreicht und mit einem Zuschuss in Höhe von 60 % der Basis-förderung unterstützt.
Insofern kann ich an dieser Stelle feststellen, dass der Bundesgesetzgeber seinen Aufgaben nachge-kommen ist. Der Bund macht also genau das, was wir auch in den Ausschussberatungen bereits als seine Aufgabe benannt haben. Er legt für eine nationale Aufgabe ein nationales Förderprogramm nach national einheitlichen Standards auf. Einer zusätzlichen Landesinitiative bedarf es aufgrund der absehbar beschränkten gesamtwirtschaftlichen Effekte für Niedersachsen nicht.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank, Herr Kollege Becker. - Für die Lan-desregierung hat nun Herr Umweltminister Wenzel das Wort.
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Da-men und Herren! Die Brennstoffzelle ist eine inte-ressante Zukunftstechnologie.
Es war der amerikanische Bundesstaat Kalifornien, der diese Technologie schon vor mehr als zehn Jahren mit seiner Zero-Emission-Strategy vorange-trieben hat, die auch deutsche Autohersteller dazu motiviert hat, sich hier zu engagieren. Ich kann mich daran erinnern, dass ich für meine Fraktion hier schon vor mehr als zehn Jahren einen Antrag
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zum Thema „Kompetenzzentrum Brennstoffzelle“ eingebracht habe.
(Björn Thümler [CDU]: Damals!)
Das ist dann durch die Landesinitiative Brennstoff-zelle aufgegriffen worden, die heute unter dem Namen Landesinitiative Energiespeicher und -systeme firmiert und auch fortgeführt werden soll. Unter anderem beschäftigt sie sich mit innovativen Produkten und Verfahren der Brennstoffzellen-technologien, Batterien und anderen Speichern, die zur Marktreife geführt werden sollen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dies ein sehr interessantes Forschungsfeld ist. Auch Forschung und Entwicklung sind für uns eine gro-ße Herausforderung. Aber die direkte Marktanreiz-förderung ist, glaube ich, eher Sache des Bundes. Herr Becker hat auch auf die dort bestehenden Fördermöglichkeiten verwiesen.
Wir haben durch die Politik eine durchaus gute Unterstützung, nämlich die Technologieförderung durch das Nationale Innovationsprogramm Was-serstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NIP), die Gründung der Nationalen Organisation Wasser-stoff- und Brennstoffzellentechnologie (NOW) und das von mir erwähnte niedersächsische Vorhaben.
Forschung findet außerdem beim Energiefor-schungszentrum Niedersachsen, dem efzn, beim Niedersächsischen Forschungszentrum für Fahr-zeugtechnik im Bereich der mobilen Brennstoffzel-len statt. Auch NEXT ENERGY, das EWE-For-schungszentrum in Oldenburg, ist an diesem The-ma dran.
Meine Damen und Herren, wenn man sich die Frage stellt, wo es letztendlich zuerst zu einer marktreifen Anwendung kommt, dann ist sicherlich die Brennstoffzellenheizgerätetechnologie eine interessante Option, die über hohe Effizienzpoten-ziale verfügt und in Niedersachsen auch schon an einigen Standorten angewendet wird. Ich kann mir vorstellen, dass wir auch im Fahrzeugbereich - wenn wir mal einige Jahre nach vorn blicken - möglicherweise eine Entwicklung haben werden, an deren Ende auf den Straßen vielleicht zu drei Viertel Elektroautos fahren und sich ein Viertel der Autos mit Brennstoffzellen fortbewegt.
(Unruhe)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Einen Moment, bitte, Herr Minister! Auch wenn es die letzten Minuten sind, so sollen Sie dennoch die Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen haben. Das gilt für die rechte Seite des Hauses, für die linke selbstverständlich auch.
Stefan Wenzel, Minister für Umwelt, Energie und Klimaschutz:
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Da-men und Herren, Sie können sicher sein: Wir wer-den alles tun, um in diesem Bereich Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Überall dort, wo ein Marktanreiz möglich ist, werden wir auch auf entsprechende Förderprogramme des Bundes verweisen oder auch im Dialog mit dem Bund dafür sorgen, dass diese Programme zielgenau sind.
Man muss aber auch immer genau den Punkt ab-passen, an dem die Marktanreizprogramme tat-sächlich greifen und an dem Forschung und Ent-wicklung so weit sind, dass sich das betreffende Produkt dann auch in der Breite als Serienprodukt durchsetzen kann.
Insofern hat der Ausschuss hier, glaube ich, den richtigen Akzent gesetzt. Sie können darauf ver-weisen, dass die Landesregierung hier tätig ist und auch in Zukunft tätig sein wird. Ich hoffe, dass diese Technologie von allen Fraktionen hier im Haus weiter vorangebracht wird.
Ich danke Ihnen herzlich fürs Zuhören.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)
Vizepräsidentin Dr. Gabriele Andretta:
Vielen Dank. - Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung.
Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit den Antrag der Fraktion der CDU in der Drucksache 17/1975 ablehnen will, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Ent-haltungen? - Das Erste war die Mehrheit.
Wir sind für heute am Ende der Tagesordnung angelangt. Das Präsidium wünscht Ihnen einen schönen Abend.
Schluss der Sitzung: 19.15 Uhr.


Quelle: http://www.landtag-niedersachsen.de/parlamentsdokumente/steno/17_wp/2015/endber054.pdf



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